Frisch gepreßt #378: Streets of Laredo „Wild“

Seit Tagen kauert der Rezensent im Schrank und gibt keinen Mucks von sich. Grund ist ausnahmsweise nur zum Teil die alljährlich zuverlässig über ihn hereinbrechende Herbstelei, das Schwelgen in der von der Vergeblichkeit alles Tuns und Seins heraufbeschworenen Melancholie, sondern ein fehlgeleiteter Selbstversuch: Um zu überprüfen, ob er modernen Standards der Popmusikproduktion noch standzuhalten imstande ist, hat er sich der Reihe nach den neuen Alben von Bon Jovi, dem ehemaligen Spice Girl Melanie C und Robbie Williams (nebst einigen weiteren Produkten) ausgesetzt, wodurch sich sein Gehirn durch spontane und gleichzeitige Überzuckerung und Gallertisierung in Kratzbeerenmarmelade verwandelt hat.

Mit Kratzbeerenmarmelade im Kopf wird der Rezensent zuverlässig objektiv, behält indes seine in Jahrzehnten der Geschmacksschärfung erlernte borstige Verweigerungshaltung bei. Was er da gehört habe, ließ er verlauten, sei „zweifellos qualitativ hochwertig“ und genüge „strengsten Anforderungen an Hygiene, Fertigkeit und Attraktivität“, dennoch sei es „unerträglich“.

Stundenlang kniete sein alter Kumpel Robbie vor dem verschlossenen Schrank, wedelte mit dem Album, das er aus der zwecks Entsorgung bereitstehenden Kiste mit der Aufschrift „Pupo“ („purer Populismus“) gerettet hatte, und schwor inständig, er meine es gar nicht so, und es sei doch ein gemeinsamer Song mit John Grant drauf. Aber da hat er wohl den vom Rezensenten angebrachten Aufkleber „Obacht! Lockstoffe!“ übersehen, und als er, wohlweislich zaghaft, den Namen Rufus Wainwright hinzufügt, ertönt aus dem Schrank immerhin ein leises Rülpsen. Ein Lebenszeichen!

Aber was tun? Bekannt ist: Gegen das Herbsteln hilft das Öffnen der individuellen Pandoradose, die alle Übel der Erinnerung, aber auch die Hoffnung enthält. Eine stets diffus gebliebene, nur musikalisch in die Welt getretene. Das Rezept hierfür ist ein heikles und riskantes: ein Hauch zu viel Süß, ein winziger Riß im Gesamtgefüge, schon knallt die Schranktür wieder zu.

Und es muß ja so vieles verbinden an (mindestens) Ahnungen: die End-80er, als die Cowboy Junkies noch geheimnisvoll und Giant Sand noch spannend waren, die flockenwolkige Leichtigkeit der frühen gemeinsamen Alben von James und Brian Eno, eine Ahnung der grenzenlosen Freiheit von Patti Smith, vielleicht sogar eine Prise Lone Justice, Paul Simon, Bob Dylan nach einer produktionstechnischen Gesamtkörperwäsche (am besten durch jemandem, der mit Sonic Youth und Dinosaur Jr. zu tun hatte, sich daran aber nicht mehr erinnert), ein paar, aber nicht zu ausgiebige Anspielungen und Zitate, die der Rezensent nicht gleich zuordnen kann. Und ein Seil, auf dem dieser Balg, von jeglichem Ballast befreit, schwindelfrei durch den Äther tanzt, sich von goldenen Sonnenstrahlen nährt und sie als schimmernde Perlen aus Melodiegranulat in die Welt streut.

Oh, und dann sollte noch die Instrumentierung nicht zu modernistisch, aber auch nicht altbacken sein. Der Geist sollte die Welt umspannen, von Neuseeland bis Brooklyn und umgekehrt. Die Arrangements müssen hinter dem, was sie in den Vordergrund stellen, zuverlässig in den Hintergrund treten, und visuell sollte eine imaginative Farbigkeit die Jahreszeit als Fähnchenkette in der Phantasie flattern lassen, ohne Bunt und ohne Grau, um die Hoffnung aus der Büchse zu locken. Und zwar so wirksam, daß neue Erinnerungen für spätere Herbste daraus erstehen. Und eine Sehnsucht, die sich in einem Gesicht so zehrend verkörpert, daß sich der Rezensent verlieben muß, ideell mindestens.

Ach, das alles gibt es? Und es ist nach einem alten Cowboylied benannt, dessen pikaresk-pittoreske Geschichte bis ins Irland des 18. Jahrhunderts zurückreicht und die der Rezensent sicherlich gerne erzählte, wenn noch Platz bliebe? Und es ist tatsächlich so schön, wie es aussieht? Na, dann legen wir das mal auf und lauschen, ob wir die Scharniere des Schranks und der Pandorabüchse nicht bald quietschen hören …

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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