Belästigungen 05/2015: Vom plötzlichen Hervorblühen der Gegenwart aus der stillen, großen, leeren Welt

Es gibt Zeiten, da wird es plötzlich still. Da erwacht man vormittags in einen Tag hinein, der angeblich schon läuft, und hat beim ersten Blick aus dem Fenster das Gefühl, dieser Tag sei stehengeblieben, so wie der Wecker und die Küchenuhr, die man manchmal nicht aufziehen mag, weil sie ja doch jeden Tag das gleiche erzählen.

Da bleibt man dann stehen und betrachtet ihn, diesen stehengebliebenen Tag, in dem offenbar gar nichts passiert, und während man sich fragt, ob man vielleicht über Nacht in ein Paralleluniversum transferiert worden ist oder die Grüne Wolke verpaßt hat (das, liebe Leser, müßt ihr jetzt selber recherchieren), wird einem klar, daß der Tag gar nicht wirklich stehengeblieben ist (weil sich etwas bewegt: „Belästigungen 05/2015: Vom plötzlichen Hervorblühen der Gegenwart aus der stillen, großen, leeren Welt“ weiterlesen

Frisch gepreßt #335: Bilderbuch „Schick Schock“

Es gibt ja so vieles. Zum Beispiel gibt es auch Menschen, die sich an Popmusik abarbeiten, im reinsten und direktesten Wortsinn, weil sie zum Beispiel meinen, das, was an deutschsprachiger solcher Musik „relevant“ sei, komme 2015 (immer noch oder überhaupt) aus Berlin oder/und Hamburg oder/und irgendwo dazwischen. Die müssen sich dann zum Beispiel an Heinz Strunk und Jens Friebe abarbeiten und in das halbgare Wichtiggetue irgendwas hineinwichtigtun oder etwas daraus herausarbeiten, womit sie eine Zeitungsseite füllen können, inklusive Claim für den taz-Titel. „Frisch gepreßt #335: Bilderbuch „Schick Schock““ weiterlesen

Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #2: The Futureheads „The Futureheads“ (2005)

Weil der Zeitgeist zur Zeit so geistert, druckte ein englisches Musikmagazin neulich eine Liste der 20 größten „Post-Punk“-Songs: „Permafrost“ (Magazine), „I Am The Fly“ (Wire), „I Found That Essence Rare“ (Gang of Four), „Complicated Game“ (XTC) – im emotionalen Gedächtnis einzementierte Unwiederholbarkeiten musikalischen Wagemuts aus der Aufbruchszeit von Herbst 1978 bis Herbst 1979, als im Windschatten der implodierten Punk-Rakete soviel Unerhörtes und Unfaßbares auf den Plattenteller kam wie nie zuvor und nie danach. Joy Division, Siouxsie & The Banshees, Cabaret Voltaire, Josef K, Suicide, Devo … Dekoriert ist die Liste mit zwei Photos: eins von den Talking Heads, eins von einem Quartett aus Sunderland, dessen Mitglieder damals noch nicht mal geboren waren – The Futureheads („Meantime“, Platz 7). Wie geht jetzt das? „Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #2: The Futureheads „The Futureheads“ (2005)“ weiterlesen

Im Regal: Mark Twain „Meine geheime Autobiographie“

Eine Kindheit und Jugend ohne Mark Twain ist (nicht nur) für meine Generation unvorstellbar. Der „Wilde Westen“, Hintergrund so gut wie sämtlicher Rollenspiele und Tagträume, wäre ein in jeder Hinsicht schwarz-weißes, von blutleeren bis faschistoiden sozialstrukturellen Vorgaben geprägtes Terrain geblieben ohne jene zwei Ewigkeitsbücher, deren das erste und sowieso alles andere Verfügbare weit überragendes zweites mit dem so typisch ironisch verknäuelten Satz anhob: „Ihr könnt nichts von mir wissen, wenn ihr nicht das Buch über Tom Sawyer gelesen habt, aber das hat weiter nichts zu besagen.“ Ein solcher Satz bleibt hängen; der dreht sich wie ein Korkenzieher hinein in ein jugendliches Gemüt, das bald selbst kaum anderes mehr will als das: schreiben, Geschichten erfinden, Bücher machen, und wenn’s nur selbstgeheftete Broschüren mit blumigen Titeln ohne Inhalt sind. „Im Regal: Mark Twain „Meine geheime Autobiographie““ weiterlesen

Im Regal: Ursula Krechel „Landgericht“

Es gibt einen Typus Buch, der in den meisten Haushalten ehemals geisteswissenschaftlich Studierender vegetiert: das sogenannte „Mängelexemplar“, das (außer Stempel bzw. Strich) nur den Mangel hat, daß es im angebotsrelevanten Zeitraum niemand lesen wollte; aus einer Ramschkiste geborgen, weil fabrikneu und schade und man sich doch für alles interessieren muß, gerne mal von Luchterhand o. ä., den Verlagen eben, die damals alles Deutsche druckten, was spröde, trocken, vermutlich „anspruchsvoll“ und unverkäuflich war. Alle paar Jahre zieht man es beim Abstauben aus dem Regal, liest eine beliebige Seite, findet sie indifferent bis unzugänglich und stellt’s zurück (vielleicht ist man in ein paar Jahren „aufgeschlossener“, und neu und schade ist es ja irgendwie noch immer). „Im Regal: Ursula Krechel „Landgericht““ weiterlesen

Im Regal: Antonio dal Masetto „Als wär’s ein fremdes Land“

Die Gegenwart, schrieb Vladimir Nabokov einst, sei nur die Spitze der Vergangenheit, und eine Zukunft existiere nicht. Merkwürdig, daß sich der Mensch seiner Vergangenheit oft erst entsinnt, wenn die Zukunftserwartungen rein statistisch auf unberechenbare Tagen, Wochen, Stunden zusammengeschrumpft sind – aber irgendwie auch logisch, schließlich soll das Leben immer irgendwann besser werden, angeblich, und die Erkenntnis, wie gut es einmal war, daß es überhaupt war und nicht sein wird, gilt modernen Vorwärtsstrebern als verdächtig-nostalgische Verweigerungshaltung.

Mit achtzig spielt das keine Rolle mehr, da ist es Zeit, sich zu erinnern, und Agata, gerade achtzig geworden, beschließt, mehr zu tun als nur daran zu denken, was war: „Ich fahre nach Italien.“ Von dort, aus der Kleinstadt Tarni, ist sie vierzig Jahre zuvor mit ihrem Mann Mario und den Kindern Elsa und Guido nach Argentinien ausgewandert; jetzt will sie die verlorene Heimat zumindest wiedersehen, mit diffusem (oder ohne) Ziel. „Im Regal: Antonio dal Masetto „Als wär’s ein fremdes Land““ weiterlesen

Frisch gepreßt #334: Jessica Pratt „On Your Own Love Again“

Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die sich noch an Margo Guryan erinnern. Es dürften nicht allzu viele sein, die aber seufzen um so wohliger, wenn sie zufällig mal wieder „Sunday Morning“ lauschen und der beliebige Tag sich in einen Idealsonntag verwandelt – was besonders gut geht, wenn die Welt unter einem Plumeau aus weißem Samt schlummert. Dann gerät die Zeit sanft ins Schweben und verharrt, und das müßige Gehirn erschlafft und verschiebt all die wichtigen Pflichten – Steuererklärung machen, Beziehungsstrategien entwerfen, sich eine Meinung zu Griechenland bilden, das neue Bob-Dylan-Album hören usw. – auf einen fernen Sanktnimmerleinstag. „Frisch gepreßt #334: Jessica Pratt „On Your Own Love Again““ weiterlesen

Belästigungen 03/2015: Wo ein Volk herkommt und was es ist und sein kann (und wo es hingehört)

Da, wo ich aufgewachsen bin (nennen wir es mal generalisierend „Obergiesing“) gab es früher ein paar Lokale, an denen wir gelegentlich vorbeischlenderten (oder sagen wir: strawanzten) und einen Blick hineinwarfen und zusammenfassend feststellten, da sitze ja ein sauberes Volk drinnen. Manchmal kam dieses Volk auch heraus, das war dann nicht mehr so idyllisch anzuschauen. Da volkte es gewaltig, sozusagen, und ab und zu kam auch die Polizei. Oder der Sanker. Ein sauberes Volk halt.

War die Bezeichnung abwertend gemeint? Wer weiß; ein Stückerl Ehrfurcht (oder sagen wir’s moderner: „shock and awe“) wird schon dabeigewesen sein. Jedenfalls war es das, was wir unter der Bezeichnung „Volk“ verstanden: ein finsterer Haufen, zusammengeschmiedet durch das gemeinsame Trinken und Stinken, Glotzen und Motzen, Grölen und Nölen, wehrhaft noch im Delirium oder gerade dann, bisweilen von volkstümlicher (!) Freundlichkeit, der man jedoch besser mit einem gewissen Mißtrauen begegnete, wie man ja auch nicht jedem Wolf, der einem im bayerisch-böhmischen Grenzwald über den Weg läuft, umstandslos die Pfote und das Käsbrot reicht und ihm einen guten Tag entbietet. „Belästigungen 03/2015: Wo ein Volk herkommt und was es ist und sein kann (und wo es hingehört)“ weiterlesen

Im Regal: Aleister Crowley „Gilles de Rais. The Banned Lecture“

„Picasso des Okkulten“, „verruchtester Mann des Jahrhunderts“, „verderbtester Mann der Welt“ … die Liste der Werbesprüche, mit denen auf Aleister Crowley aufmerksam und mal wieder ein Produkt mit seiner auratischen Reizwirkung verkäuflich gemacht werden soll, ist schon deshalb so lang und absurd, weil ein „Ruch“ (d. h.: „umlaufendes Gerede“) ja meistens genau darin besteht, daß jemand jemanden als verrucht bezeichnet, wodurch er somit noch verruchter wird usw. – ein kulturbetriebliches Perpetuum mobile, das seit dem Esoterikwahn der 80er regelrecht ins Rasen geraten ist, sich aber halt leider immer nur im Kreis dreht um ein Zentrum, das niemand genau erkennt und das vielleicht leer ist. „Im Regal: Aleister Crowley „Gilles de Rais. The Banned Lecture““ weiterlesen

Im Regal: Richard Powers „Orfeo“

Was heutzutage auf und über Bücher geschrieben wird, könnte man als Schaumstoff bezeichnen: Es isoliert, erzeugt ein ungesundes Klima und verströmt giftige Dämpfe. Zum Beispiel: „Richard Powers stellt sich als Erzähler den großen Themen unserer Gegenwart: sei es der Kunst der Technik, der Musik der Gene oder dem großen Netz, das uns alle verbindet und alles verschlingt.“ Das ist kompletter Bullshit, und selbst wenn man es versuchsweise in eine Art Sprache übersetzt, bleibt davon, was dieses Buch betrifft, nur ein Wort, das Sinn ergibt: Musik. Allerdings nicht „die Musik der großen Fragen“ (wie ein Rezensent meint, der offenbar noch verblödeter ist als der Klappentextschreiber), sondern schlicht: Musik. „Im Regal: Richard Powers „Orfeo““ weiterlesen