(Aus dem tiefen Archiv:) 1969: Das schlimmste Rockjahr der Welt!

(Der folgende Text entstand im Sommer oder Herbst 2004 als „Intermezzo“ im fünften Kapitel des Buchs „Deep Purple – die Geschichte einer Band“, das bis heute zu den ganz wenigen Dingen gehört, bei denen ich froh bin, mehr oder weniger dazu „gezwungen“ worden zu sein. Es war ein Riesenhaufen Arbeit, für den Jürgen Roth und ich einiges an Schmähungen einstecken mußten – und zwar für genau das, was mir an dem Buch bis heute gefällt: Es stehen Sätze drin, von denen ich mich nach wie vor frage, wie sie gelingen konnten. Das, vermute ich, war die Musik.)

Wenn man das Spiel mit den Pop-Generationen mitmacht, dann hat, wer Mitte bis Ende der fünfziger Jahre geboren ist, Pech gehabt, weil er zu jung für die Beatles und zu alt für Glam und Punk ist. Und wer 1969 erstmals regelmäßig pubertäre Schübe verspürt, die den Besuch von Rockkonzerten dringlich erscheinen lassen, der hat gleich doppelt Pech. Die Rockgeschichte hat viele schreckliche, öde, finstere und fade Jahre erlebt, aber selten ein solches wie 1969. „(Aus dem tiefen Archiv:) 1969: Das schlimmste Rockjahr der Welt!“ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) Der kleine König der dunklen Straße (mit Tricky in London, April 1998)

Seltsam: Jedesmal, wenn ich in London ankomme und das erste Quantum Atmosphäre inhaliere, ertönt in meinem inneren Hohlraum ein Sex-Pistols-Song. Heute, an einem müde-warmen, pelzgrauen Apriltag, ist es »Liar« (»Lügner«). Eine Stelle im Mittelteil des Songs, an der sekundenlang alles zu zerbersten und zerfallen droht, ehe Steve Jones‘ Gitarre ein elastisches Fangnetz auswirft, bildet die Leinwand, auf der nach einem belanglosen Vorspann (kaputter Aufzug, Hintertreppe, Hotelflur) meine erste Frage an den jungen Mann erscheint, der sich einst Tricky Kid nannte, um nicht mehr Adrian Thaw zu heißen: Mir kommt es vor, als würden Trickys Songs den Körper der Popmusik bis auf die blanken Knochen entkleiden, um die sich dann diffuse Gruppen interessanter Insekten sammeln. „(Aus dem tiefen Archiv:) Der kleine König der dunklen Straße (mit Tricky in London, April 1998)“ weiterlesen

„Was ist so lächerlich an Frieden, Liebe und Verständnis?“ (Gedanken zu einem Stück Musik)

Anmerkung: Der folgende Text entstand ursprünglich für die von Jens Fischer Rodrian initiierte Reihe „Friedensnoten“. Leider stellte sich, nachdem ich ihn fertig und abgeschickt hatte, heraus, daß meine liebe Radio-München-Kollegin Sabrina Khalil etwas früher angefragt worden war und dem gleichen Song (in einer anderen Version) eine Folge der Reihe gewidmet hatte (was – sorry, subjektive Meinung! – für ihren Spürsinn und Sachverstand spricht). Mein Vorschlag, beide Texte zu beiden Versionen gleichzeitig zu veröffentlichen, hätte wohl das Format ein bißchen überfordert. Sabrinas Text ist hier nachzulesen, die Originalversion des Songs von Nick Lowes Band Brinsley Schwarz (1974) gibt es hier. Die definitive Version, auf die ich mich beziehe, ist diese. Es gibt auch eine Version von Bruce Springsteen und vielen supi Prominenten im üblichen Nutella-Sound, die aber immerhin eindeutig klarmacht, wieso Elvis Costello unsterblich ist und The Attractions die geilste Rock-’n‘-Roll-Band dieses Planeten und aller Zeiten waren, momentweise. So, und jetzt kommt endlich der Text (nach dem Bild):

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(Aus dem tiefen Archiv:) Havana Affair (Manic Street Preachers in Kuba, Februar 2001)

Wenn eine Rockband wie die Manic Street Preachers alles erreicht hat, was man so erreichen kann, gibt es zwei Möglichkeiten: Ehrenvolle Frührente – oder die Suche nach neuen Zielen und Wegen. Man könnte zum Beispiel versuchen, im sechsten Anlauf doch noch den US-amerikanischen Markt zu knacken (was Sony Music sicher freuen würde). Oder man tut das genaue Gegenteil.

(Dieser Artikel erschien im Frühjahr 2001 im Musikexpress.) „(Aus dem tiefen Archiv:) Havana Affair (Manic Street Preachers in Kuba, Februar 2001)“ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) The Rakes – „Capture/Release“

Ungefähr heute vor zwanzig Jahren wurde eine meiner Lieblingsbands gegründet, im Sommer 2005 erschien ihr erstes Album, das leider niemand mehr kennt, weil es wohl siebzehn Jahre zu früh kam. Ich schrieb damals (für KONKRET) folgendes dazu:

Was „Flexibilität und „Reformfähigkeit“, die Hinnahme „schmerzhafter Einschnitte“ und die Bereitschaft zur gegenleistungslosen Steigerung der eigenen Produktivität und Hinnahme der völligen Durchdringung des Privatlebens von ökonomischen Strukturen angeht, sind die Briten, so hört man, den Deutschen ein paar Nasenlängen voraus. „(Aus dem tiefen Archiv:) The Rakes – „Capture/Release““ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) The Go-Betweens

Das ist eine Zufallsidee: Ein Leser hat mich gefragt, ob ich nicht noch eine alte Rezension zu (sagen wir) den Go-Betweens habe. Wir leben im Zeitalter der Daten, daher konnte ich feststellen, daß ich u. a. „16 Lovers Lane“ seit Oktober 2011 genau vierzigmal gehört habe. Das hätte ich nicht gedacht. Hingegen war ich überzeugt, daß ich „Here Comes A City“ (von „Oceans Apart“) bestimmt tausendmal gehört habe (in tausend Nächten in einer bestimmten Kneipe, die keine tausend Nächte waren, sondern ungefähr fünftausend). Der iTunes-Zähler hat aber nur 32 registriert. „(Aus dem tiefen Archiv:) The Go-Betweens“ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) Television – „Marquee Moon“ & „Adventure“

„Vier Rebellen, die ihren Aufschrei in Graffiti-Manier auf die bröckelnden Fassaden der Betongebirge malen.“ Schrieb 1978 der Musikexpreß über Television: vier dürre, relativ kurzhaarige Burschen aus New York mit sensibel-intellektueller Anti-Rock-Ausstrahlung, die 1974 gemeinsam zu musizieren begonnen hatten und nun so etwas wie das Aushängeschild der US-New-Wave geworden waren: Tom Verlaine (ein Straßenpoet aus dem Dunstkreis von Patti Smith), Richard Lloyd, Fred Smith (der Proto-Punk und Bandgründer Richard Hell ersetzte und gerne mit dem gleichnamigen Gitarristen der Detroiter Anarcho-Rocker MC5 verwechselt wird) und Bill Ficca.

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(Aus dem tiefen Archiv:) Die (Früh-)geburt des Punkrock

Fast fünfzig Jahre ist es her, daß im New Yorker Mercer Arts Center zum ersten Mal eine Band auf der Bühne stand, von der man später sagte, sie sei an allem schuld gewesen, was sich danach auf dem Gebiet der Pop- und Rockmusik getan und verändert hat – von Punk über Grunge bis Heavy Metal und wieder zurück. Vor fast zwanzig Jahren habe ich versucht, die Geschichte aufzuschreiben.

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(Aus dem tiefen Archiv:) Morrissey „Ringleader of the Tormentors“ (2006)

(Anmerkung: So schnell vergehen fünfzehneinhalb Jahre. Oder so langsam, siehe ganz unten.)

Das ist Tradition seit gut zwölf Jahren, seit Vauxhall and I: Der „schwierige“ Song ist auf Morrissey-Alben immer der erste. Man denke an „The Teachers Are Afraid Of The Pupils“: Kein Kritiker hatte Zeit und Nerven, den Elf-Minuten-Exorzismus durchzustehen; dasselbe mit der Titelzumutung auf Maladjusted. Die ersten paar Minuten entscheiden aber nicht nur darüber, wie Rezensenten mit Morrissey-Alben umgehen, sie geben auch tatsächlich einen gerafften Eindruck von der Platte und dem augenblicklichen Innenzustand ihres Schöpfers. „(Aus dem tiefen Archiv:) Morrissey „Ringleader of the Tormentors“ (2006)“ weiterlesen

(Aus dem tiefen Archiv:) Ende einer Kraut-Kindheit oder: Wieso Tangerine Dream an Punk schuld waren

(Anmerkung: Dieser Text entstand Mitte September 2000 als Beitrag für das von Frank Schäfer herausgegebene Lesebuch »The Boys are back in Town – mein erstes Rockkonzert«, das Ende 2000 im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschien.)

Mein erstes Konzert war eigentlich nicht mein erstes Konzert; das will ich kurz erklären. „(Aus dem tiefen Archiv:) Ende einer Kraut-Kindheit oder: Wieso Tangerine Dream an Punk schuld waren“ weiterlesen

Lebensplatten #002: Alice Cooper „Love It To Death“

Die Underground-Rockszene der späten Sechziger war eine ziemlich verwegene Veranstaltung, und Alice Cooper (die Band!) waren so was wie der Wurm im faulen Apfel: der wildeste Haufen von allen, fünf spindeldürre Typen um die zwanzig mit den längsten Zotteln diesseits des Neandertals in glitzerbunter Sex-Schock-Maskerade, die in wechselnden Buden mit dauerleerem Kühlschrank als Kommune zusammenlebten, sich in nächtelangen Jamsessions austobten, Gäste wie Syd Barrett, Jimmy Pages Yardbirds, Jimi Hendrix, Iggy Pop, Pharoah Sanders und Jim Morrison beherbergten und inspirierten und ihren abseitigen Phantasien freien Lauf ließen. „Lebensplatten #002: Alice Cooper „Love It To Death““ weiterlesen

Bestmusik 2010 bis 2019

Ich weiß nicht, wie viele aus meiner Liste der „besten Platten der 10er Jahre“ es tatsächlich ins Musikexpress-Heft geschafft haben … vermutlich: die ersten zwei oder drei auf Plätze zwischen 90 und 100. Das kommt davon, wenn man so viele Sachen hört, die sonst niemand hört. Nicht weiter schlimm, die Auswahl war sowieso spontan und zufallsanfällig. Aber damit die Mühe nicht umsonst war, ist hier die ganze Liste:

„Bestmusik 2010 bis 2019“ weiterlesen

The Monkees: Das anarchistische Marionettentheater

Die Beatles waren an allem schuld: Ihr kometenhafter Erfolg und vor allem Richard Lesters Film „A Hard Day’s Night“ brachten die Hirne der US-amerikanischen Musik- und Filmindustrie zum Rattern. Daß sich dann ausgerechnet die Durchgeknalltesten davon sammelten, war Zufall und führte zur vielleicht irrsten, wirrsten, genialischsten und schrägsten Geschichte, die die Popwelt je erlebt hat. „The Monkees: Das anarchistische Marionettentheater“ weiterlesen