Frisch gepreßt #322: Bear Hands „Distraction“

Am ersten Ferientag nach der dritten Grundschulklasse lagen wir im Schyrenbad und kannten weder Zeit noch Raum; es duftete nach warmen Chlorwasser, das am Beckenrand in Pfützen verdampfte, in die man sich manchmal legte, wenn man zu lange im Wasser gewesen war und nun mit himmelhellblauen Lippen sofortige Erwärmung suchte; es duftete nach feuchtem Gras, nach Schaumwaffeln, Pommes frites, Waldmeistereis und Americana-Comic-Kaugummi. „Frisch gepreßt #322: Bear Hands „Distraction““ weiterlesen

Belästigungen 22/2014: Ich! bin! alt! und! du! nicht! (eine Tirade)

Neulich war ich zu einem Poetry-Slam geladen. Früher durfte man dort so ziemlich alles, was oft recht spannend war. Seit Julia Engelmann (googeln: auf eigene Gefahr) gilt Regel Nummer eins: Du bist jung. Und du mußt davon schwärmen, wie geil es ist, jung zu sein.

Wer jung ist, hat Chancen, Optionen, Möglichkeiten, Aussichten, eine Zukunft! Aber keine Gegenwart. Die besteht aus Lernen, Aufsagen, Terminen, Jobs, Vorstellungsgesprächen, Praktika, sich endlos den Kopf zermartern, was für Chancen, Optionen, Möglichkeiten man nutzen soll und wie das geht.

Das ist mein Glück: Da, wo ich aufgewachsen bin, hat es keine Chancen und keine Zukunft gegeben. Da hieß es: jetzt Schule, später Arbeit, Rente, dann aus. Aber es gab eine Gegenwart: Fußballspielen, Musik, rumhängen, Leute ärgern, Sachen kaputtmachen, Sex haben, zum Baden fahren, Bücher lesen, spazieren gehen, in der Sonne liegen, nachdenken. Ich habe nie verstanden, wozu ich eine Zukunft brauche, wenn ich eine solche Gegenwart habe. Ich wollte, daß das immer so weitergeht, ohne Zukunft. „Belästigungen 22/2014: Ich! bin! alt! und! du! nicht! (eine Tirade)“ weiterlesen

Frisch gepreßt #321: Neil Diamond „All-Time Greatest Hits“

Für die Generationen, denen ich angehöre, war Neil Diamond schon ein Witz, als wir noch gar nicht richtig wußten, wie man lacht. Ich meine: Wer irgendwann mal, warum auch immer, versehentlich „Song Sung Blue“ hört, dem haut es automatisch den Vögel aus dem Häuschen (insbesondere in der unfaßbar anti-selbstironischen und dabei vollkommen souveränen Version auf dem Livealbum „Hot August Night“). „Everybody knows one / Every garden grows one“ – ho! ho! „Frisch gepreßt #321: Neil Diamond „All-Time Greatest Hits““ weiterlesen

Frisch gepreßt #320: Morrissey „World Peace Is None Of Your Business“

Manchmal möchte man meinen, es sei alles gesagt. Schlußsteine und Abspänne haben die schöne Eigenschaft, daß nach ihrem Auftreten und Erscheinen der Meinungsführer die Feder spitzen und Gesamtbilanz ziehen kann: Was war’s denn nun, in weltgeschichtlichem Kontextzusammenhang? Und was war’s wert?

Bei Morrissey wünscht sich das so mancher lange schon, weil der Nachruf zu Lebenszeiten in der Schublade liegt und nur noch etwas aufgehübscht, mit ein paar aktuellen Nachwörtchen berüscht und der aktuell gültigen Rechtschreibung angepaßt werden muß. My dear, ist das etwa kein Lebenswerk: eine der wichtigsten Bands aller Zeiten, neun Soloalben, von denen (vielleicht mit Ausnahme von Nummer zwei und drei) ein jedes besser war/ist als das vorhergehende, eine doppeldaumendicke Autobiographie, die bei Penguin Classics erschienen ist – und aber verdächtig doppelt und doppelt verdächtig endet: Mit den Worten „and it was dark, and I looked the other way“ schließt der Text; den knappen Danksagungen indes ist das Motto beigefügt: „Whatever is sung is the case.“ „Frisch gepreßt #320: Morrissey „World Peace Is None Of Your Business““ weiterlesen

Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers, frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist? „Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne“ weiterlesen

Belästigungen 20/2014: Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie hätten diese Kolumne (und sich selbst) selbst ausgedruckt (mit Kümmel)!

Im modernen Wahnkarneval um IT-, Marketing- und andere unwürdige Plemperljobs ist es wohl unvermeidlich, daß manch ehrenwerter Beruf längst nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die er verdient. Zum Beispiel der Kümmelbauer: Tagein, tagaus bestellt er sein Kümmelfeld, erntet das edle Würzkorn, trocknet und reinigt, sortiert und poliert es, läßt es vom Kümmellieferanten in die große Stadt karren, auf daß der Bäcker etwas Gutes daraus mache.

Leider ist der Bäcker heute kein Bäcker mehr, sondern Fließbandminijobber bei einem (wörtlich übersetzt) „Rückenladen“-Konzern, hat möglicherweise sogar „Sporteventmarketing“, ähem, „studiert“, dann aber nichts zu eventmarketen gefunden, weil der gesamte Sport in Europa und der Welt bereits geradezu surrt und brummt vor Marketing und Events, und steht nun also in einer Blechfabrik vor einem Sack Kümmel, mit dem er wenig anzufangen weiß. „Belästigungen 20/2014: Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie hätten diese Kolumne (und sich selbst) selbst ausgedruckt (mit Kümmel)!“ weiterlesen