Reisen im Regal (9)

Fast dreißig Jahre lang habe ich Menschen begraben, aus drei Gemeinden, zirka fünf Menschen pro Jahr, und immer habe ich gedacht: Eines Tages begreif ich, was ich da tu, eines Tages versteh ich sogar den Tod, und ich hab Freunde und Feinde beerdigt, auch meine Gret und auch die jüngste Tochter, Anna, und immer habe ich gedacht: Eines Tages wird’s hell, eines Tages kapiere ich Leben und Tod, eines Tages meldet sich, während ich schaufle, eine Stimme und sagt mir, um was es geht, und sagt mir warum und wozu und wohin. Nichts, nichts ist geschehn in all den Jahrzehnten, jetzt bin ich alt und melk das Rösli und fasse weder Welt noch Herrgott.
Markus Werner: Froschnacht (1985)

„Reisen im Regal (9)“ weiterlesen

Reisen im Regal (8)

Mein Vater schenkte mir zum Geburtstag die Gedichte von Georg Trakl.
Franz Kafka erzählte mir, daß Trakl Selbstmord durch Gift verübt habe, um den Schrecknissen des Krieges zu entgehen.
„Fahnenflucht in den Tod“, bemerkte ich.
„Er hatte zuviel Phantasie“, sagte Kafka. „Darum konnte er den Krieg nicht ertragen, der vor allem aus einem ungeheuren Mangel an Phantasie entstanden ist.“
Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka (1951)

„Reisen im Regal (8)“ weiterlesen

Reisen im Regal (7)

Um diese politische Demokratie ihren Zwecken dienstbar zu machen, erhält und unterstützt die industrielle Autokratie zwei miteinander rivalisierende politische Maschinen und bringt von Zeit zu Zeit immer wieder einen regelrechten Scheinkampf auf die Bühne, trägt Millionen Dollar dem Wahlfonds beider Parteien bei, verbrennt tausende Tonnen bengalischen Feuers und ergießt Millionen Flugblätter der papiernen Propaganda und Milliarden Worte des Rednerkampfes. Das Volk nimmt an diesem Scheinkampf Interesse, doch alle verständigen Leute wissen, daß, wie immer auch der Kampf entschieden wird, das Geschäft Geschäft bleibt und das Geld andauernd seine eigene Sprache führen wird. So haben wir auch die in diesem Buch dargelegten Tatsachen zu verstehen. Der Journalismus ist einer der Kunstgriffe, durch den (sic!) die industrielle Autokratie ihre Herrschaft über die politische Demokratie aufrecht erhält. Es ist die tägliche, zwischen den Wahlen geführte Propaganda, durch die die Volksstimmung in einem Zustand der Ergebung gehalten wird, so daß die Leute, wenn die Aufregung der Wahlen kommt, zu den Urnen schreiten und ihre Stimmzettel für einen der beiden Kandidaten ihrer Ausbeutung abgeben.
Upton Sinclair: Sündenlohn (1916)

„Reisen im Regal (7)“ weiterlesen

Reisen im Regal (4)

Partei, staatliche Volksspaltereivorrichtung, (programmelnde Volkshängekommission, höchste Staatsmaschinenwalze), Spießbrüderschaft, Spießbruderei, Spießluderei, Volksschindluderei, Schindbruderei, staatserhaltende Kirche (…), Mehrheitsgaukelei der Minderheit (s. Majorität), Gesinnungsstall für Unmenschen, menschenschnappende Stimmfangreuse. Als Köder (s. Programm) dient ein möglichst unklares Fremd- und Erschlagwortgewölle (s. Schlagwort), dessen Er- und Verbrechung einem besonders gewaltvertrottelten Wortklauber (s. Wissenschaft) anvertraut wird. Nach der Köderung werden diese Schwarzweißwürste als verbraucht und überflüssig in die Ecke geschmissen (s. Schmiß). Jeder Parteiköder besteht aus den Falschgedanken, die in ihm verschwiegen werden. Denn auch die P. des Umsturzes (…) wollen sich den Staat als ihren Steuermilchkübel erhalten (…).
Ewald Gerhard Seeliger: Handbuch des Schwindels (1922)

„Reisen im Regal (4)“ weiterlesen

Reisen im Regal (3)

Die europäischen Nationen gehen einer Epoche großer innerer Schwierigkeiten mit überaus heiklen Problemen wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Art entgegen. Wie sollte man nicht fürchten, daß der Staat unter der Herrschaft der Massen alle unabhängigen Individuen und Gruppen erdrücken und so die Zukunft zu einer Wüste machen wird!
Ein konkretes Beispiel für diesen Mechanismus liefert uns eine der beunruhigendsten Erscheinungen der letzten dreißig Jahre: die enorme Vermehrung der Polizei in allen Ländern. Die wachsende Ausdehnung der Gemeinwesen hat unentrinnbar dazu geführt. So sehr wir daran gewöhnt sind, wir sollten doch nicht das Gefühl für den beklemmenden Widersinn der Tatsache verlieren, daß die Einwohner einer heutigen Großstadt, um friedlich auf der Straße gehen und ihre Geschäfte besorgen zu können, einen Polizisten brauchen, der den Verkehr regelt. Der „ordnungsliebende Bürger“ glaubt in seiner Harmlosigkeit, daß diese „Organe der öffentlichen Ordnung“, die für die Ordnung ins Leben gerufen sind, sich damit begnügen werden, immer die Ordnung herzustellen, die ihm zusagt. Aber es wird unvermeidlich dahin kommen, daß sie selbst die Ordnung bestimmen, die sie herstellen – und das wird unvermeidlich die sein, die ihnen paßt.
José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen (1930)

„Reisen im Regal (3)“ weiterlesen

Reisen im Regal (2)

Das zaristische Rußland ist wie ein Naturelement, das sich wie ein Landräuber ausbreitet, aber hauptsächlich um zu zerstören. In diesen Eroberern der Neuzeit ist etwas von der Barbarei der Skythen, Hunnen und Tataren erhalten geblieben. Vom Standpunkt unserer heutigen Zivilisation versteht man nicht dieses ständige Expansionsbedürfnis durch Eroberung und Raubbau und auf der anderen Seite diese Vernachlässigung jeder Erhaltung und Verbesserung des Vorhandenen.
Alexandre Dumas: Kaukasische Fahrt (1859)

„Reisen im Regal (2)“ weiterlesen

Reisen im Regal (1)

Die Luft war leer und heiter, während die orangefarbene Sonne sich ruhig und stetig aus dem klebriggelben Band des Horizonts löste. Prosser verfolgte ihr langsames Zutagetreten. (…) Er nahm nichts wahr als die aus dem Meer aufsteigende Sonne: erhaben, unerbittlich, fast schon komisch.
Schließlich saß der orangefarbene Ball fein säuberlich auf dem fernen Wellensockel, und Prosser schaute weg. (…)
Auf 2500 Metern fing Prosser das Flugzeug ab und nahm erneut Kurs auf den Stützpunkt. (…) Da passierte etwas. Er war so schnell heruntergegangen, daß es die Sonne wieder unter den Horizont zurückgetrieben hatte, und als er nach Osten schaute, sah er sie noch einmal aufgehen: an derselben Stelle hinter demselben Meer kam dieselbe Sonne heraus. Wieder ließ Prosser alle Vorsicht außer acht und sah einfach zu: der orangefarbene Ball, das gelbe Band, der Sockel des Horizonts, die heitere Luft und das geschmeidige, schwerelose Aufsteigen der Sonne, die zum zweiten Mal an dem Morgen aus den Welle hervorkam. Es war ein ganz gewöhnliches Wunder, das er nie vergessen würde.
Julian Barnes: In die Sonne sehen (1991)

„Reisen im Regal (1)“ weiterlesen