Frisch gepreßt #379: Rio Reiser „Blackbox“

Abschlußtreffen der Forschungsgruppe „Proletarische Rockmusik in Deutschland“. Ernüchtertes Fazit: gibt es nicht, gab es nie. Im Gegensatz fast zum Rest der Welt ist die deutsche Pop(ulär)musik eine hermetisch geschlossene Veranstaltung der Ober- und Mittelschicht, zwar nicht so streng dynastisch durchorganisiert wie der Literaturcircus, aber doch abgeschottet gegen das Proletariat, das lediglich konsumieren darf.

Lediglich Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben, ebenfalls der Mittelschicht entsproßt, wagten den historisch ziemlich einmaligen Schritt, sich der Industrie (größtenteils) zu verweigern, konsequent proletarische Interessen und soziale Konflikte aufzugreifen und sich zum laut lärmenden Sprachrohr so ziemlich sämtlicher emanzipativer, progressiver, linker und randalös-wirrer Ansätze und Bewegungen ihrer Zeit zu machen. Daß sie dabei nicht wie manche Reihenhauspunks tief ins Plumpe abrutschten, vielmehr Emotion, Analyse und Anspruch so wirksam verbanden, daß einige ihrer Songs zu zeitlosen Volksliedern wurden, lag in erster Linie an Rio Reiser, der ja nicht nur Renegat und Agitator, sondern auch ein echter Sänger und Musiker war.

Daß diese Vorgehensweise eines Tages in der Sackgasse enden mußte, versteht sich von selbst; auf ewig als Agitproptruppe durch die Lande zu ziehen und den eigenen Jüngern zu predigen ist keine befriedigende Perspektive für eine Musikgruppe. Was TSS bis 1981 an Tondokumenten schufen, ist dennoch unantastbar.

Zur Diskussion stehen nun Reisers Werke ab- bis jenseits von TSS, für die er sich als Solist schuldenbedingt zeitweise den Konzernen ausliefern mußte (durchaus hadernd), die aber viel weiter zurückreichen, als manch einer glaubt, und in ihrem künstlerischen Umfang weit über das hinausreichen, was man kennt: Vielfältig, divers, bisweilen ausufernd, schräg und vor Fettnapftritten nicht sicher, ist die vorliegende Box mit einer angeblich nur knappen Auswahl von 355 Aufnahmen aus Reisers privatem Bandarchiv und von vergessenen Vinylscheiben, die damit beginnt, daß der 15jährige Mitte der 60er per experimenteller Mehrspurtechnik und selbstgeschriebenen englischen Songs den Bob Dylan gibt (mit frappierendem Talent), sich über Theaterprojekte mit seinen Brüdern Gert und Peter (Möbius, er selbst hieß bekanntlich Ralph) als Hoffmans Comic Teater, mit diversen TSS-Besetzungen, den Ensembles Brühwarm, Kollektiv Rote Rübe, Transplantis und anderen, Sessions mit allen möglichen Freunden und Kollegen, Arbeiten für die Stadtoper Unna, Filme, Hörspiele und Musicals bis hin zu Demos aus den letzten Jahren vor seinem Tod 1996 erstreckt.

Vorläufiges Fazit: Dieser selbst in einem ganzen langen Winter kaum erschöpfend zu durchtauchende Ozean von Skizzen, Coverversionen, Produktionen und Rekonstruktionen ist im Gegensatz zu der TSS-Gesamtausgabe kein kulturhistorisch stringentes Archiv der deutschen Zeit(musik)geschichte, auch wenn der Anspruch auf soziale Wirksamkeit über weite Strecken spürbar ist und möglicherweise wirksamer war, als man heute noch weiß. Nein, vor allem ist dies rührend, begeisternd, witzig, spannend, experimentell, immer wieder überraschend (z. B. verknüpft „Freitagabend“ von 1969 den Beatlessong „Bungalow Bill“ und frühe TSS-Anklänge zu einem echten Gassenhauer), hier und da auch peinlich, verstörend bzw. komisch (etwa wenn sich Reiser 1967 mit „König & Clown“ als Ersatz-Drafi-Deutscher versucht und mit „Dreh dich nicht um“ Schlager und Underground-Psychedelik zusammenzuschrauben versucht), mit wenig Längen in 20jähriger Arbeit von Lutz Kerschkowski auf 16 CDs zusammengestellt und mit einem dicken, bebilderten Beibuch versehen, das zwar ein strengeres Lektorat verdient gehabt hätte, das aber auch so wie ein Trip in eine Parallelbundesrepublik wirkt.

Und es ist die bei aller Einmaligkeit von Reisers Leben und Wirken exemplarische Dokumentation eines nicht immer widerständigen, aber durchgehend eigensinnigen künstlerischen Lebens in verwehten Zeiten der Träume von Freiheit und Leben, wie es auf dem deutschen Tonträgermarkt mit Sicherheit keine zweite gibt und auf absehbare Zeit nicht geben kann. Und, dies sei für die Puristen von der sozialwissenschaftlichen Fakultät angemerkt: wirklich verstehen kann man auch TSS erst über diesen ganz anderen Zugang.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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