Belästigungen 22/2016: Von Götterbäumen, grünen Enten, furzenden Nashörnern (und dem Satan tief im Osten)

In meiner späten Kindheit bestand eine unserer Hauptbeschäftigungen darin, auf den Rücksitzen von Autos zu lümmeln und uns gegenseitig in den Oberarm zu zwicken, sobald wir eine grüne Ente erblickten (für Spätgeborene: dabei handelt es sich nicht um einen Vogel, sondern um ein schon damals bezaubernd antiquiertes Automobil, das motortechnisch Kundige als „Schnauferl“ bezeichneten und das angeblich gelegentlich in Kurven umkippte). Dabei erfuhr ich ein seltsames Phänomen: Vor Einführung dieses Rituals wußte ich gar nicht, daß es überhaupt grüne Enten gab, und nun wimmelten sie plötzlich in ganz München herum, als hätte jemand in ein Nest gestochen.

Man hat mir erklärt, das habe mit Aufmerksamkeit zu tun: Man bemerkt manche Sachen erst, wenn man sie einmal bemerkt hat. Ähnlich ging es mir neulich, als mir ein Freund von dem Götterbaum in seinem Garten erzählte: Der sei zwar recht hübsch anzuschauen, aber giftig und äußerst allergen. Sein Holz tauge weder zum Bauen noch zum Heizen, allerhöchstens habe die Rinde chinesischen Wunderheilern zufolge eine „adstringierende“ Wirkung, was laut Lexikon „zusammenziehend“ bedeutet – nun ja, das ist was für hoffnungsfrohe Jungpärchen mit Kinderwunsch, die sich allerdings für gewöhnlich kaum mit Baumrinde einreiben müssen, um ihre illusionäre Verblendung zu intensivieren.

Vor allem aber zählt der garstige Baum zu den schlimmsten invasiven Neophyten, weil er aus Sicht des heimatpflegerischen Botanikers einfach nicht hierher gehört, dies aber partout nicht einsehen mag, sondern alles andere zuwuchert. Wenn man ihn umsägt und mit Hacke und Spaten die Wurzeln atomisiert, hilft das auch nichts, weil er ein paar Schritte weiter mit doppelten Elan und dreifacher Widerborstigkeit erneut aus der Grasnarbe schießt, und am Ende sitzt man in einer riesigen Baustelle, kratzt sich die Pusteln wund und darf sich noch verlachen lassen von dem Kerl.

Da ging es mir genauso wie mit den grünen Enten: Von einem Götterbaum hatte ich bis dahin nie gehört (selbst der Freund hatte erst nach eingehenden taxonomischen Studien ergründet, daß es sich um einen solchen handelt). Jetzt, wo ich es weiß, kann ich keine zehn Meter radeln, ohne mindestens drei Götterbäumen zu begegnen, die in ganz München aus praktisch sämtlichen Ecken, Nischen, Ritzen und Winkeln herausploppen wie der Sparrige Schüppling aus dem Fundament meiner altersschwachen Espe. Oder sagen wir für weniger Pilzkundige: wie die Immobilienbüros aus den Parterre-Etagen sämtlicher Münchner Bauwerke. Das ist nämlich eine durchaus ähnliche Erscheinung und ungefähr ebenso erfreulich.

Noch vor wenigen Jahren okkupierte die schrillbunte Armada der Telephondantler flächendeckend ehemalige Bäckereien, Metzgereien, Obst-, Milch- und Schreibwarenläden und hoffte offensichtlich darauf, daß im Jahr 2020 jeder Münchenbewohner vierzehn Händis mit sich rumschleppen und für seine diversen Null-Euro-Flatrates trotzdem irgendwie genug bezahlen würde, um ihnen in den ebenfalls neuen, nebenan kohabitierenden Thai-Dampfküchen eine ausreichende Kalorienzufuhr zu ermöglichen.

Eine Milchmädchenrechnung, freilich. Heute sind die Thaiküchen zu ultraveganen Trendfoodapotheken mutiert, wo sich die modische Mittelschicht zum zehnfachen Preis mit weitgehend denselben Zutaten plus drei Salatblättchen die Magenwände tapeziert, während nebenan in den ehemaligen Händiläden die Schaufenster zugeklebt sind mit amateurhaft-grieseligen Schnappschüssen von Betonsilos und Luxusbunkern, die zu Millionenpreisen als Traumwohnungen offeriert werden. Da stehen die gestylten Streßsklaven dann davor und träumen von einer anderen Welt, in der sie so was dank eifriger Arbeitsleistung irgendwann bezahlen können.

Und wir stellen fest, daß es in München offenbar dermaßen viele freie Wohnungen gibt, daß sich selbst im hintersten Giesing das Betreiben einer Vermittlungsstelle für grotesk überteuerten Leerstand lohnt. Kauft so was wirklich jemand, fragen wir uns, und: Wieso fällt uns das jetzt erst auf? Weil aus den Ritzen im Pflaster vor solchen Läden besonders gerne Götterbäume sprießen und drei Meter weiter die letzte grüne Ente des Voralpenraums parkt?

Der Grund ist wahrscheinlich, daß wir auf derartige Phänomene normalerweise kaum achten können, weil wir nur eine Aufmerksamkeit haben und die ständig abgelenkt wird. Von Sachen, auf die man gar nicht extra achten muß, weil sie sich selbsttätig ins Hirn hineinhämmern. Nämlich ist es Wissenschaftlern zufolge so, daß der Mensch, wenn er erst mal lesen gelernt hat, an schriftlichen Botschaften absolut nicht mehr vorbeikommt, ohne sie aufzusaugen. Weil München wie die meisten deutschen Städte lückenlos vollgestellt ist mit den Verlautbarungskästen der offiziellen Propaganda, werden deren Botschaften zwangsläufig in unser Hirn förmlich hineingestempelt, und wir müssen uns notgedrungen mit den aktuell „wichtigen“ Parolen auseinandersetzen: Tief im Osten lauert der finstere Satan Putin, der die Welt ins Chaos reißen will, und wer im Alter nicht darben möchte, muß dringend „privat vorsorgen“, weil die staatliche Rente nicht reicht. Dazu die üblichen Beilagen von zerstückelten Jungfrauen, heldenhaften Fußballprofis und Einkaufstips.

Weil sich ein einigermaßen funktionstüchtiges Hirn die Dauerpenetration mit derartigem Bullshit nicht bieten läßt, fängt es automatisch an, dem Terror mit vernünftigen Argumenten entgegenzudenken, wird dabei aber unterbrochen von den Nachfahren der grünen Enten, den Protzautos der Machtelite, die beim ameisenartig ungeduldigen Dahinbrettern röcheln wie ein kaputter Starfighter und an jeder Ampel furzen wie ein darmkrankes Rhinozeros, das gerade fünf Zentner rohe Feuerbohnen verzehrt hat (womit übrigens nichts gegen die Tiere gesagt sein soll: Daß hinter deren Nasenhörnern mehr Intelligenz und Empathie zu finden ist als im Schädel eines durchschnittlichen Porschefahrers, weiß ich sehr wohl).

Und so wuseln und irren wir durch die von Götterbäumen zugewucherten Schluchten der Stadt, im Kopf ein einziges Wischiwaschi aus Rente, Putin und Autofürzen, und stellen alle paar Monate fest, daß irgendwas vollkommen anders geworden ist, was gerade noch vollkommen anders war. Vielleicht sollten wir uns öfter in den Oberarm zwicken.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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