Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?

Tolle Frage: Da steht der 14jährige, sprachlos, weil er gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Aber das Problem ist bekannt: Wer als Bams zum ersten Mal in einen Kaugummi beißt, hat für den plötzlich aufquellenden Süßrausch aus Aromasensationen zum Vergleich nur Milch, Brei, vielleicht noch Breze und schlimmstenfalls Gelbwurst. Da ringelt er sich vor Entzücken und manscht in dem zähen Kautschukknödel herum, nicht achtend der Welt, die sich recht übersichtlich gestaltet: hier Mama, da Papa, dort ein undurchsichtiges Wallen, aus dem bisweilen ein Phänomen hervorspitzt, das man sich in den Mund schieben und feststellen kann, daß es meistens nicht schmeckt (Regenwurm, Batterie, Badeente, Gelbwurst).

Wer sich den tausendsten Kaugummi in den Mund schiebt, tut das aus anderen Gründen. Weil er sich gerade einen Döner hineingepreßt hat und in zehn Minuten im großen Meeting mit seiner World-Advance-Strategy überzeugen oder andernfalls Hartz IV beantragen muß. Weil die angeheiratete Immobilienbesitzerstochter die der zeitweise aufgehobenen Sinnlosigkeit des Rödelns entsprungene Mittagsbierfahne nicht bemerken soll. „Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (8)

 
„Ach so, Liebe heißt für dich Verantwortung.“
„Was denn sonst?“
„Was sonst? Wie wär’s mit Liebe? Sonst könnte man gleich sagen: Wir haben eine Verantwortungsbeziehung. Romeo verantwortet Julia.“
„Ha ha.“
„Genau. Lächerlich.“
„Der Witz. Verantwortung ist nicht lächerlich.“
„Und was bedeutet das, Verantwortung?“
„Daß man sich umeinander kümmert.“
„Wenn man alt und krank wird und so was.“
„Ja. Das ist nicht zum Lachen. Man wird ja wirklich alt und krank.“
„Yeah, und dein Orgasmus ist so richtig geil, wenn du dir vorstellst, daß sie dir in vierzig Jahren den Hintern putzt und die Windel wechselt.“

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Periphere Notate (3): Sieht aus wie Regen

Sitzt da, die Arme aufgestützt, wirft einen Schatten auf ihre Hände, die den Kopf halten. Eine dunkle Konstruktion, dunkler noch als der Rest, die Luft, die schwer über uns hängt, um uns, irgendwie dunkel grün, auch der Tag.

Sagt nichts, aber ich sehe etwas Helles, denke mir den Rest dazu und weiß, daß es ein Lächeln ist.

Liegt dann wieder im Bett und spricht zu mir, macht die schwere Luft vibrieren, die dunkle Luft, feucht und grün irgendwie. Spricht mit einer Stimme, die feucht und dunkel klingt. Von unten kommt, tiefer als sie, tiefer als wir.

Sitzt wieder am Tisch, sieht an mir vorbei, sieht gar nirgends hin. Sieht nichts. Falsch, nichts erreicht meine Augen, sagt sie, denn sehen kann man nicht bewußt, es muß etwas hineingeraten. „Periphere Notate (3): Sieht aus wie Regen“ weiterlesen

Beim Schreiben eines Romans (7)

Er erinnerte sich an die Beerdigung an einem Dienstag im frühen Februar, zu der sie mit dem Zug nach Hannover gefahren waren, frühmorgens. Lisa war noch betrunken, er schwer verkatert; fünf Stunden lang betrachteten sie schweigend einen bleischwarzen Todeshimmel, der sich langsam achatartig graubraun färbte und ihnen zu folgen schien; dann waren sie zu viert (Vater, Mutter, Tochter, Schwiegersohn – der Rest der Verwandtschaft hatte sich nicht von seinen beruflichen Verpflichtungen befreien können) im winterlichen Sturmwind am Grab gestanden, hatten schweigend zugeschaut, wie der Sarg in der Grube verschwand. „Beim Schreiben eines Romans (7)“ weiterlesen

Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?

Moralapostel mag niemand gerne (und keine Angst, ich werde in den folgenden Zeilen ganz bestimmt keinen solchen geben). Denen ruft man ein gehässiges „Mäh! Mäh! Mäh!“ entgegen und schaut vergnügt zu, wie sie geteert und gefedert auf einer Eisenbahnschiene aus dem Dorf getragen werden. Mit einer Ausnahme: Wenn die Zeigefingerburschen einer Gesellschaftsschicht, oder sagen wir ruhig: Klasse entstammen, die man von Haus aus für eine schmierig schillernde Bande von Schwerverbrechern hält und für ihre maßlose Gier, Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit insgeheim bewundert („Hund’ sans scho!“), dann zieht man den Hut, wenn sie mal was annähernd Vernünftiges sagen.

So brachte es der Wurstfabrikant, Börsenspekulant und Vereinspräsident Ulrich Hoeneß zu einigem Ansehen, weil er neben einem Haufen Blödsinn immer mal wieder Sachen sagte, von denen wir alle wissen, daß sie richtig sind, die sich aber sonst keiner sagen traut, weil es sonst schlagartig aus ist mit der Medienkarriere und den Talkshowhonoraren. Deutsche Medien brauchen Durchhalteparolen, neoliberale Propaganda, Unterschichtbeschimpfung und Leistungsgefasel; etwas anderes wird weder gedruckt noch gesendet, und wenn doch, dann nur umgeben von solchem, das dann immer in der Mehrheit sein, hochamtlich tönen und die jeweilige Frau Wagenknecht niederbrüllen muß. „Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?“ weiterlesen

Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City“

Der Plan war: Eindringlich, poetisch und unwiderlegbar darlegen, weshalb es, wenn der verschneite Frühling in einen verregneten, verwehten, verstürmten, vergrauten und verwolkten überschmilzt, in dem Schwester Sonne nur bei Kurzauftritten trotzig-traurig bläut, weshalb es da für pathologische Romantiker mit gebrochenem Sinn gar nicht genug Lotte-Kestner-Alben geben kann, um das Seelenblut zu stillen und den brachen Geist in weiche Tücher zu hüllen, damit er schlafen möge und träumen von anderen Welten und Zeiten. Weshalb es deswegen so schön ist, daß einen Monat nach dem letzten heute schon wieder ein neues Lotte-Kestner-Album erscheint …

Aber es geht nicht, weil ein solcher Krach die Wohnung füllt. Wo kommt der plötzlich her? „Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City““ weiterlesen