Belästigungen #416: Zwischen Weisheit und Inkonsequenz ist nur ein kleiner Riß

F hat mir erzählt, wie sie neulich über ihren Schatten gesprungen ist, der in diesem Fall allerdings weniger ihr eigener war als der einer kollektiven Verblödung, der wir alle manchmal verfallen. Sie habe eines ansonsten normalen Abends diesen Typen in der Kneipe gesehen und gespürt, wie ihr ganz seltsam wurde, und sofort seien die üblichen Gedanken durch ihr Hirn paradiert wie eine Schafherde über den Steg: Mal sehen, was er sagt/tut/ob er was sagt/tut. Ach, wie gerne würde ich. Wird sich schon ergeben, wenn/falls. Gerade noch rechtzeitig vor „wäre wahrscheinlich sowieso nicht“ habe sie die Bremse gezogen, sei einfach hingegangen und habe irgendwas absolut Saudummes gesagt, für das man sich im normalen Leben unter den Tisch und durch die Bodendielen hindurch in die Schwabinger Kanalisation hinunterschämen müßte. Was aber in diesem Fall – wie in jedem Fall – genau das Richtige war: Er sagte irgendwas noch Saudümmeres, und nach zwei Minuten war eines dieser Gespräche im Gang, aus denen die größten Popsongs aller Zeiten entstanden sind. „Belästigungen #416: Zwischen Weisheit und Inkonsequenz ist nur ein kleiner Riß“ weiterlesen

Frisch gepreßt #296: Marissa Nadler „Little Hells“

Das Erscheinen ist eine Tätigkeit, die in der sowieso elusiven, nur noch als Idee und Erinnerung in der Welt wesenden Musikbranche eine schwer zu umreißende Rolle spielt. Bei Marissa Nadler noch mehr als bei anderen: Ihre (vielen) Platten irrlichtern durch die Zeit wie Sternschnuppen mit Zellaktivator – gerade erst da und mit begeisterten „Oh! Ah!“-Rufen sowie diversen Preisen und Anpreisungsetiketten versehen, sind sie schon wieder weg, kehren plötzlich wieder, sind wieder weg und wieder da. Das gilt nicht nur „körperlich“: Dieses, ihr (ungefähr) sechstes Album (von ungefähr acht) kam 2009 auf das, was man immer noch gerne Markt nennt, obwohl sich davon praktisch nichts mehr zwischen Regal und Kasse abspielt, und zwar mit Hilfe eines New Yorker Metal-Labels. Kritiker, die davon etwas mitbekamen, waren begeistert (und zeigten damit eine gewisse Beharrlichkeit, hatten sie doch schon den ungefähren Vorgänger „Songs III: Bird On The Water“ als „Best Americana Record of the Year“ gefeiert), der Rest der Welt ging achselzuckend vorüber. „Frisch gepreßt #296: Marissa Nadler „Little Hells““ weiterlesen

Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück

Das Wort „Single“ gab es schon, als ich ein Kind war und ansonsten kaum Anglizismen im Alltagssprech herumschwirrten. Damals bezeichnete es kleine, grellbunt verpackte Vinylscheiben, Zauberwerke der Popkultur, die alle paar Wochen einen neuen Wahnsinnshit meiner Glamrock-Helden Slade, T. Rex, Bowie, Sweet, Roxy und Alice Cooper ins Haus dröhnten und den Aspirinkonsum unter Eltern ankurbelten. Ein paar Jahre später, als die Springerpresse den Deutschen endlich ihr Solidaritätsgedusel ausgetrieben und die Lambsdorf-Kamarilla den Wirtschaftsfaschismus als neue Staats- und Gesellschaftsraison durchgepeitscht hatte, war „Single“ keine Platte mehr, sondern ein Mensch, der sich aus freien Stücken entschlossen haben wollte, ohne lästige Anhängsel wie Ehepartner und Bamsenbagage durch ein Leben der sensationellen Berufserfolge und Freizeitbelustigungen zu flanieren – ein Heros der neoliberalen Ära, frei und selbstbestimmt im globalen Supermarkt der Achtziger. „Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück“ weiterlesen