Oft geht die Klage, es sei alles schon dagewesen und nichts neu. Vor allem aber sei alles nicht nur schon dagewesen, sondern ja immer noch da: 1964 zum Beispiel habe es den letzten Urknall (circa Elvis usw.) nur noch als ferne Erinnerung und auf ein paar zerkratzten Antiquitäten in Papas Kinderkoffer droben im Speicher gegeben – leichtes Spiel für Rolling Stones und Konsorten, denn mit so was läßt sich eine zünftige Teenagerrevolte nicht gestalten. 1972 das gleiche Spiel, diesmal zum Beispiel von Marc Bolan mit genialischem Augenblicksgespür und ohne Arg (sie meinten es ja alle ernst!) betrieben, 1976 dann von Punks und Hip-Hoppern. Ein scheinbar unendlicher Spiralkreislauf von Wellen, die anrollen, versanden, verebben, von der nächsten überschäumt werden, deren ideeller Schwester am Meeresstrand man ja auch nicht ansieht, wie sehr sie der in Sekunden vergessenen Vorgängerin ähnelt.
Geht nicht mehr, weil es heute nur ein paar Klicks braucht, um alles gleichzeitig zu erleben, den ganzen Rock ’n’ Roll, ein veritables Jahrhundert an Krach, Posen, Attitüden, Melodien, Akkorden, Klamotten, Settings und philosophischem Begleitmaterial inklusive fast nichtexistenten Raritäten und Zillionen an Alternativversionen. Hach! seufzt der Kulturpessimist, zu Ende sei die Geschichte und Neues nicht mehr drin.
Na und? fragen wir zurück und weisen auf gerne ausgeblendete Argumente hin: Neuigkeit als solche mag leidlich spannend sein (oder gewesen im Zeitalter der Science Fiction, als es per se cool war, mit Roxy im Ohr zum Mars zu fliegen, ohne zu wissen, was man da eigentlich sollte), wirkungsvoller aber ist die Sache selbst (als zum Beispiel „For Your Pleasure“ ganz ohne Marswahn). Und viel mehr noch: wird das klickweise erlebte Alles-auf-einmal zum Schaum, aus dem sich Grundformen bilden, die diese Sache selbst (oder eine bestimmte Variante davon) verkörpern und definieren.
Vorteil: Theoretisch läßt sie sich somit emulieren und neu (!) herstellen, ohne all die Ausrutscher, Peinlichkeiten, Mängel, Fehler, Leerstellen der behaupteten „Originale“ – Rock ’n’ Roll in Idealform, perfekt und sofort nutzbar ohne Vorsicht und Bedenken. Ein Traum. Nachteile, Risiken und Nebenwirkungen sind zu vernachlässigen – im Zweifelsfall schmeißt man’s eben wieder weg, und es versinkt rückstandslos im Schaum, dem es nichts hinzugefügt hat.
Jetzt sind wir bei den drei Jarman-Brüdern, die genau das seit bald 15 Jahren tun oder versuchen: die Essenz des britischen Indie-Spirits auszukochen wie einen Teebeutel und herauszudestillieren wie hundertprozentigen Brand, von Song- und Albumtiteln über optisches Auftreten, Assoziation mit dem New Musical Express und sämtliche weiteren Ingredienzen (wozu selbst der lachhafte Stunt von Ryan Jarman gehörte, der sich bei den NME-Awards 2006 auf den Tisch der Kaiser Chiefs warf, ohne die Getränke vorher wegzuräumen, und mit erheblichen Schnittwunden im Krankenhaus landete) bis hin zu … nun ja, den Songs, da mußte man Abstriche machen. Die waren zum größten Teil immer eher halbgar, nichts Besonderes, manchmal nett, oft nervig, frei von Genie, Witz und Originalität, die auf diesem gebiet dann eben doch von Bedeutung sind. Da half es auch nichts, mit einer kaum zu überbietenden Liste von Beteiligten, Mitarbeitern und Unterstützern aufzuwarten (was so weit ging, daß Smiths-Legende Johnny Marr ein paar Jahre lang richtig offizielles Bandmitglied war).
Was man nicht hat, muß man ersetzen, und Ideen und Ambition haben die Jarmans tatsächlich im Überfluß. Drum haben sie für dieses Jahr gleich zwei neue Alben angekündigt, die dann aber auch wirklich das gesamte Spektrum abdecken sollen: Der widerborstige Rebellenlärm (produziert von Steve Albini, klar) folgt später. Vorläufig gibt es die Poplieferung, produziert von (klar!) Ric Ocasek (da hagelt es Namen, die sich aus schierer Vielfalt zum Urbild der Geek-Rock-Coolness sammeln: Bad Brains, Weezer, Suicide, No Doubt, Hole, Bad Religion, Wannadies, Jonathan Richman, Nada Surf, Guided By Voices …).
Und? Nein, wirklich geniale Songwriter sind die Jarmans immer noch nicht. Der Funke, der die Evergreens etwa der Manic Street Preachers (an die man sich hier stellenweise erinnert fühlt) zu solchen machte, bleibt aus. Dafür gibt es schöne Anspielungen zuhauf, von Fifties-Power-Pop bis Brit-New-Wave, von Oasis bis Costello, von Springsteen bis Gene Pitney, und es gibt wahrhaft große Momente, traumhafte Arrangements, breite Gitarren, Donnerdrums, hübsche Slogans und nette Andeutungen in den Texten, ein Siebenminutenepos als Finale grande. Mag sein, daß wir die Platte (und The Cribs überhaupt) in zehn Jahren vergessen haben. Im und für den Frühling 2015 aber sind sie dann doch das Coolste, was sich aus dem Schaum destillieren läßt.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.