Frankfurt: Ins Verhältnis gesetzt

Frankfurt hat mir mal das Leben gerettet.

Aber so kann ich nicht anfangen, das wäre unverhältnismäßig, also unpropotional; und Frankfurt ist die Stadt, die Welthauptstadt der Proportionen, in denen sich hin und wieder auch die anderen, die wahren Verhältnisse diesseits aller Proportionalität abbilden.

Nirgendwo als in Frankfurt zeigt sich der Kapitalismus so aufrichtig. Während man in München einen wohligen Seufzer läßt, wenn man im Biergarten idyllischen Genrebildern begegnet, in deren güldnem Rahmen man Geldarsch, Karriere-Infarktling und Opferruine friedlich am Tischensemble hocken und minderwertigen Dreck verzehren sieht (den der eine mit der Platinkarte bezahlt, der andere aus dem Mülleimer klaubt beziehungsweise aus Neigerln zusammenschüttet, was die Gleichmacherei gewissermaßen quersinnig noch mal steigert), ragt in Frankfurt der nutzlose Monetenplempel derart schamlos schroff in die Stratosphäre, daß die Botschaft beim ersten Blick klar ist: Wir machen mit eurem Leben, das wir euch gestohlen haben, was wir wollen, und wenn uns nichts zum Wollen einfällt, stapeln und betonieren wir es einfach in der Gegend herum. Den Proportionen wird man dabei zwangläufig nicht ganz gerecht: Eigentlich müßten die Stahlglastürme der Mörderbanken mindestens eine Million Kilometer hoch sein, aber da käme ihnen der Mond in den Weg; und den wegsprengen dürfen sie vorläufig nicht, weil er ihnen (wahrscheinlich) noch nicht gehört.

Um dennoch zumindest einen ahnungsweisen Eindruck zu vermitteln, hat man Frankfurt verkürzt. Wer mit dem Fahrrad am einen Ende losfährt, ist noch kaum im Schwitzen, wenn er hinten schon wieder hinausrollt. Aus Gründen des Prestiges (von dem sonst niemand weiß, was es ist und soll, weil man es nicht zählen kann) schwindelt die Verwaltungsgeographie, indem sie Orte hinzurechnet, die (vgl. Offenbach) Frankfurt gar nicht haben will, aber auf solcherlei Gegaukel fällt niemand herein (sonst müßte München seine Ortsschilder nordwärts jenseits von Ingolstadt aufstellen und im Süden durch Österreich hindurch schmuggeln), und falls doch, rücken ihm die brutalstmöglich zusammengekrüppelten Baumkrüppel am anderen Mainufer den Sinn gerade. Zwar müßten zur korrekten Darstellung der Ausbeutungsbesitzverhältnisse wiederum eigentlich die Hochhausmonster auf einer Fläche von etwa einem Quadratdezimeter Platz finden, dies aber verliehe ihnen eine grazile Eleganz, die ihnen nicht zukommt.

Belassen wir es dabei und wenden wir uns einer Verhältnismäßigkeit zu, die in der Tat einst mein Leben gerettet hat.

Dazumal weste ich in wahrhaft schlimmen Verhältnissen: ebenso disproportional wie dysfunktional verehelicht, einem „Beruf“ samt Arbeitsstätte verpflichtet, in namenloser Fadheit vorstädtisch vegetierend, dabei von brennender Sehnsucht und stürmender Verliebtheit in kontemplativen Augenblicken förmlich zerbröselnd, starrte ich in Bildschirme und aus Fenstern, wünschte kaum und wagte nichts, weil zu ändern doch nichts war. Wer sich einmal verpflichtet hat, muß den Topf auslöffeln bis zum Grund, bis ans Grab, so wollte es scheinen, und jedem Aufbegehren hätte es an Recht und Macht gebrochen. Der Nachbar prügelte die Nachbarin, man putzte den Mercedes, schlug Kupfernägel in unliebsame Bäume, ließ den Hund parieren, den Sittich „Bazi!“ plärren und abends das Fernseh hineinfließen ins Hirn, um die dräuende Furcht vor der Welt auch in jenen Regionen zu täuben, wo Ethanol nicht hinreicht.

In dieser grausen Lage wurde zwecks Ausgestaltung der Freizeit eine Fahrradtour beschlossen und, interessierte Partizipation vortäuschend, sich in den Beschluß gefügt. Führen sollte das selbstverständlich nicht an landschaftlichen, sondern „sportlichen“ (i. e. in Kilometern zählbaren) Gesichtspunkten ausgerichtete Gestrampel den Main entlang und anheben in Frankfurt, wo Freunde eingesammelt wurden, mit denen man sich den Schweiß der Raserei und nach vollbrachter Leistung ein abendliches Krüglein säuerlichen Apfelgärsud in der Ausflüglerherberge am Flußufer teilen wollte, vielleicht noch ein Langnese-Eis und eine Spitztüte Pommes frites.

Indes hatten wir Frankfurt noch nicht verlassen, als es zu einem folgenschweren Zwischenfall kam: Die Exklusivität der aus Motiven der Freizeitwertgestaltung eigens so angelegten Velorennbahn mißachtend, trat ein mutmaßlich leicht angedröhnter Angehöriger der Menschensorte Rocker (ohne Motorrad, aber trotz drückender Sommerschwüle in schwerer Ledermontur und Kutte, bestickt und beklebt mit grimmen Drohgebärden) einem Radraser in den Weg, dessen körperliche Ausmaße vermuten ließen, daß er unterwegs zu einem Fitneßstudio in Koblenz oder („Kleiner Schlenker, hä hä!“) Bielefeld war, wo er die restlichen zehn Stunden des Tages in schweren Geräten zu verbringen plante.

Dem Radfahrer gelang es, auszuweichen. Wenige Sekunden später, nach einem Bremsweg von kaum zweihundert Metern, wendete er sein Gefährt, um die Sache zu klären; auch der Rocker blieb, seinem Ehrenkodex (Unfug oder Tod oder beides) folgend, stehen.

Da ward der zugereiste Münchner mit all seiner Daseinsfurcht in einer Portion konfrontiert; eine solche Szene mündet, dies wußte er, mittels Dialogen wie „So, Spezi! Jetzt rauchts!“ – „Di back i, du Drecksau!“ unausweichlich in einem Blutbad zersplitterter Schädel zwischen sirrenden Polizeikugeln und mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Nun hat aber Frankfurt neben viel anderem auch einen durchaus angemessenen Dialekt; in diesem starrten sich die Kontrahenten zunächst an, ohne daß einer der beiden plangemäß in Grund und Boden versunken wäre. Dann öffnete einer (war’s der Rocker?) den Mund, und heraus kam folgender Satz:

„Isch buddel disch gleisch ein, Aldä. Dann kann disch dei Frau wiedä ausbuddeln!“

Ich konnte nicht anders: lächelte, grinste, zuckte, ließ mein Fahrrad fallen, den Rucksack, warf mich zu Boden und wälzte mich (während die beiden Kontrahenten entwaffnet starrten, sich schließlich die Hand reichten und ihrer Wege zogen) in einem halbstündigen ekstatischen Lachkrampf, der noch anderntags als Schluckauf reprisenhaft nachwirkte und mein Leben teilte wie der Blitz den Fels. Wochen später war alles – Ehe, Vorstadt, Job – eine lächerliche Erinnerung, lächerlich wie alles, wenn man es nur ins rechte Verhältnis setzt.

Hätte mir das in Stockholm, London, Wien, Paris, Ulan-Bator, Tanger, Havanna passieren können? in Hebramsdorf, Staffelstein, Burton-on-Trent, Atlanta oder am Nordpol?

Nein, hätte es nicht. Danke, Frankfurt.

geschrieben im Frühjahr 2014 für das von Jürgen Roth und Stefan Geyer herausgegebene Buch „Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“ (Verlag Waldemar Kramer)

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