Belästigungen 06/2015: Das gibt es auch als Buch! (inkl. Nabokov, Fix & Foxi und Lagerfeuer)

Wenn im frühen Frühling der weiche Regen die Fenster wäscht, verkrieche ich mich gerne in die Welt der gedruckten Buchstaben. Dies ist eine extrem verniedlichende Umschreibung für ein schlimmes Problem: die galoppierende Büchersucht, an der ich leide, seit ich eines Tages von einem lieben Menschen sozusagen die Einstiegsräuberleiter hingehalten bekam. Wir hatten uns gemeinsam einen schönen Film angeschaut, und sie sagte, das gebe es „auch als Buch“.

Eine unverschämte Untertreibung. Es gab den Film nicht etwa als Buch, sondern es gab ein Buch, aus dem irgendwer ein Filmchen herausgewrungen hatte, so wie man aus einer jahrelangen Beziehung ein „Fazit“ herauswringt oder Witzchen über Sex macht, von denen man in verzweifelten Momenten zwischen Klo und Tresen meint, sie seien genauso gut wie Sex.

Ich war angefixt und wurde Junkie. Irgendwann jedoch ließ ich mich überreden, eine und dann gleich zwei Tageszeitungen zu abonnieren, um wieder mit der Welt in Kontakt zu treten, deren graugründampfige Ausdünstung via Fernsehen ich längst nicht mehr ertrug. Ein großer Fehler: Die Bücher blieben fortan weitgehend im Regal, während ich mich in der Badewanne und im Liegestuhl mit legasthenischem Propagandamüll quälte und ab und zu sehnsüchtig ihre Rücken streichelte: keine Zeit, ihr Lieben.

Gott sei Dank: vorbei. Seit sich die deutschen „Printmedien“ durch impertinentes wirtschaftsfaschistisches Indoktrinationsgehampel und kriegstreiberisches Gelärme endgültig disqualifiziert haben, seit vom sogenannten Journalismus nur noch zwei, drei Fossilien übrig sind, mit denen man lieber hin und wieder ein Bier trinkt, ist die alte Sucht zurückgekehrt und hat eine strahlende, nie vollständig zu ergründende Welt mit sich gebracht, in der es um gänzlich anderes geht als das angeblich so wichtige Geseier. Und trotzdem muß ich ein Geständnis ablegen: Ich tue hin und wieder etwas, was „Kulturmenschen“ für schlimmer erachten als Kinder zu watschen oder in die Ukraine einzumarschieren: Ich schmeiße Bücher weg.

Die Büchersucht ist eine elitäre Angewohnheit, auch wenn es auf den ersten Blick anders scheinen mag. So läuten etwa seit Jahren (oder Jahrhunderten?) in regelmäßigen Abständen die entsprechenden Multiplikatoren ihre Alarmglocken und behaupten, das Lesen seit eine untergehende Kulturtechnik, das Buch sterbe aus usw. usf. – dabei wurden in der gesamten Menschheitsgeschichte nie so viele Bücher ver- und gekauft wie heute. Zugleich strotzen und platzen sämtliche Medien vor Kaufempfehlungen, die offenbar auch befolgt werden, und in den Biergärten und Kneipen plärren sich die Leute gegenseitig zu, welche aktuellen Schwarten man unbedingt kaufen kaufen kaufen muß, um dranzubleiben, in zu sein und nicht den Zug zu verpassen.

Kein Zweifel also: Es gilt als ungeheuer erstrebenswert, Bücher zu lesen. Keine Ahnung, wieso. Neunzig Prozent aller Bücher, in die ich je hineingeschaut habe, waren scheiße, und es waren zehntausende, und neunundneunzig Prozent aller Bücher, die heute im Handel sind und angeblich „sellen“, sind ebenfalls scheiße. Wieso also soll es sinnvoll sein, sich irgend so einen Thrillerdreck namens „Blutrünstig“, „Opfer“ oder „Zerstückelt“ zu kaufen, ein paar Seiten zu lesen und den Scheiß dann jahrelang irgendwo herumliegen zu haben, weil „man Bücher nicht wegschmeißt“?

Aber nein, Lesen ist toll, Buch ist supi, und deswegen betreibt man in Deutschland sogar amtlich „Leseförderung“, freut sich wie ein Leberknödel über jeden abverkauften Haufen Papier und betoniert die Kaufhäuser nur so zu mit immer neuen Bestsellerlawinen, die immer dasselbe sind: Müll.

Daß derweil die Bücher, die es wert wären, gelesen zu werden, seit Jahrzehnten vergriffen, nur in übelsten Ausgaben verfügbar, in Kleinstverlagen oder gar nicht erschienen sind, ist die Kehrseite einer verlogenen Kulturfurzerei, die uns klarmachen möchte, jeder noch so minder- bis nullwertige Sprachschleim sei ein dringend zu wahrendes „Gut“ und nicht das, was es ist: eine erbärmliche, wertlose, vollkommen überflüssige Ware, die sich als etwas gaaanz anderes als ein Erfrischungsstäbchen aufführt, nur weil ein Verlag daran verdient und weil Lesen (im Gegensatz zu Wichsen) eine kulturelle Tätigkeit sei. Der Kapitalismus kennt keinen Unterschied zwischen Nabokov und Fix und Foxi, abgesehen von dem kleinen Detail, daß Nabokov, weil „zu literarisch“ und „anspruchsvoll“, heute keinen Verlag mehr fände, und Deutschlands große Verlage kennen nicht nur keinen Unterschied, sondern überhaupt nichts mehr. Außer Summen.

Ein Vergleich: Ebenso dringlich gefördert und gefordert wie das Lesen wird seit Jahren das Wählen, und der Grund ist derselbe: Wenn ich in eine Buchhandlung hineingehe und dort mit Lawinen von identisch blödsinnigem Dreck zugeschüttet werde, gehe ich unverrichteter Dinge wieder hinaus, und wenn ich in ein Wahllokal gehe und auf dem Stimmzettel keine Partei finde, die nicht ausdrücklich für Wachstum, Wettbewerb und „Nachhaltigkeit“ „eintritt“, habe ich eben keine Wahl und schenke mir den Scheiß. Auch hier reagieren die auf meine Mitwirkung angewiesenen Profiteure wie gewohnt: Anstatt sich zu fragen, ob ich mir den Scheiß deswegen schenke, weil es für mich nichts zu wählen gibt, wollen sie mich animieren, verleiten, verführen und drängen. Es ist mir aber nun mal ehrlich ehrlich ehrlich egal, ob die Exekuteure des Ausbeutungsterrors CDU, SPD oder sonstwie heißen. Wenn ich etwas, was zum Kotzen ist, nicht ändern kann, werde ich den Teufel tun und es auch noch durch meine Mitwirkung absegnen. Wer das „schlimm“ findet und meint, es gerate „die Demokratie“ in Gefahr, sollte sich fragen, ob er „Demokratie“ nicht mit einer Staubsaugermarke verwechselt.

Ähnlich ist es bei den Büchern, aber immerhin: Da habe ich eine Wahl. Da kann ich ein vergriffenes Bändchen eines von den Feuilletons mit Ignoranz gekillten Autors für zehn Cent beim Straßenhändler erwerben und einen vergnüglichen bis wunderbaren Nachmittag damit verbringen, während ich an den Megaklötzen der Rummelverlage mit einem herzlichen „Bah!“ vorbeiflanieren und sie, wenn sie mir ungefragt ins Haus fluten, frohgemut ins Lagerfeuer schmeißen darf.

Und ich kann sogar hin und wieder, wenn mich jemand auf die angebliche Welt da draußen und ihren fürchterlichen Zustand hinweisen möchte, freundlich sagen: Das gibt es auch als Buch, und da ist es ganz anders. Wer könnte so etwas von Politik, Journalismus oder Heroin behaupten?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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