(aus dem tiefsten Archiv): Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)? (1998)

Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)?

Um die Diskussion abzukürzen: Ich meine, nein. Und zwar unabhängig von der Frage, ob man fiktive Personen überhaupt lieben oder hassen kann, ob man jemandem, den man liebt, antun würde, was man seinen Figuren antut, und ob man jemandem, den man haßt, überhaupt Einlaß in das Gebäude einer Geschichte gewähren würde. Ein Autor sollte seine Figuren beschreiben, sie Dinge tun lassen – sterben meinetwegen, leiden oder sonst was –, aber er sollte sie so lassen, wie sie sind. „(aus dem tiefsten Archiv): Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)? (1998)“ weiterlesen

(periphere Notate): Wörter, Bücher und die rassige Welt

Von manchen Frauen sagten manche Leute (vermutlich Männer) früher, sie seien „rassig“. Das ist eines der wenigen deutschen Wörter geblieben, von denen ich bis heute nicht die geringste Ahnung habe, was sie bedeuten. Es könnte sogar das einzige deutsche Wort sein, bei dem ich mir ziemlich sicher bin, daß in den letzten dreihundert Jahren niemand, der es aussprach oder hinschrieb, wußte, was es heißt.

„(periphere Notate): Wörter, Bücher und die rassige Welt“ weiterlesen

(periphere Notate): Buch und Stabe

Literatur ist der letzte Dreck. Bücher sind der letzte Dreck. Deswegen stehen sie heutzutage auch nicht mehr in Bibliotheken, sondern in „Zu verschenken“-Kisten herum und saugen sich im täglichen Gewitter mit Wasser voll, verwandeln sich in Maché und landen millionenfach in Containern. „Romane“ von 2024 schauen genauso aus wie die „Romane“ von 1990, enthalten die gleichen Wörter, dieselben blödsinnigen „Plots“ und „Handlungen“, und daß Deutschland auf dem Weg ins Vierte Reich ist, merkt jeder, der mal einen aktuellen Bestseller parallel zu einem Kolbenheyer liest und feststellt, daß die trübgelbe Dumpfsinnigkeit, der Qualm und Malm von Stumpfsinn und „Haltungs“-Sicherheit von 1934 sich von dem biederen Gewölle von 2024 höchstens in modewortigen Nuancen unterscheidet.

„(periphere Notate): Buch und Stabe“ weiterlesen

(periphere Notate): Die Zehennägel meiner Nachbarn (und zehntausend Liter Benzin)

Für „extremistisches Gedankengut“ sei „an Bayerns Universitäten kein Platz“, sagt der hierfür zuständige bayerische Minister, dessen Namen ich mir nicht merken mag, weil sich in zwei Jahren kein Mensch an ihn erinnern wird. Diese Behauptung bringt die geistige Verwirrung des deutschen Akademismus („Bildung“) perfekt auf den Punkt: Wo sonst sollte Platz sein, um extremistisches Gedankengut zu dokumentieren, zu diskutieren und zu erforschen, wenn nicht an Universitäten? Fliegen Hitler, Goebbels, Strauß, Kretschmann und Faeser (nur als Beispiele) jetzt aus dem „Lehrplan“? Stehen letztere überhaupt schon drauf?

„(periphere Notate): Die Zehennägel meiner Nachbarn (und zehntausend Liter Benzin)“ weiterlesen

Reisen im Regal (3)

Die europäischen Nationen gehen einer Epoche großer innerer Schwierigkeiten mit überaus heiklen Problemen wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Art entgegen. Wie sollte man nicht fürchten, daß der Staat unter der Herrschaft der Massen alle unabhängigen Individuen und Gruppen erdrücken und so die Zukunft zu einer Wüste machen wird!
Ein konkretes Beispiel für diesen Mechanismus liefert uns eine der beunruhigendsten Erscheinungen der letzten dreißig Jahre: die enorme Vermehrung der Polizei in allen Ländern. Die wachsende Ausdehnung der Gemeinwesen hat unentrinnbar dazu geführt. So sehr wir daran gewöhnt sind, wir sollten doch nicht das Gefühl für den beklemmenden Widersinn der Tatsache verlieren, daß die Einwohner einer heutigen Großstadt, um friedlich auf der Straße gehen und ihre Geschäfte besorgen zu können, einen Polizisten brauchen, der den Verkehr regelt. Der „ordnungsliebende Bürger“ glaubt in seiner Harmlosigkeit, daß diese „Organe der öffentlichen Ordnung“, die für die Ordnung ins Leben gerufen sind, sich damit begnügen werden, immer die Ordnung herzustellen, die ihm zusagt. Aber es wird unvermeidlich dahin kommen, daß sie selbst die Ordnung bestimmen, die sie herstellen – und das wird unvermeidlich die sein, die ihnen paßt.
José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen (1930)

„Reisen im Regal (3)“ weiterlesen

Reisen im Regal (1)

Die Luft war leer und heiter, während die orangefarbene Sonne sich ruhig und stetig aus dem klebriggelben Band des Horizonts löste. Prosser verfolgte ihr langsames Zutagetreten. (…) Er nahm nichts wahr als die aus dem Meer aufsteigende Sonne: erhaben, unerbittlich, fast schon komisch.
Schließlich saß der orangefarbene Ball fein säuberlich auf dem fernen Wellensockel, und Prosser schaute weg. (…)
Auf 2500 Metern fing Prosser das Flugzeug ab und nahm erneut Kurs auf den Stützpunkt. (…) Da passierte etwas. Er war so schnell heruntergegangen, daß es die Sonne wieder unter den Horizont zurückgetrieben hatte, und als er nach Osten schaute, sah er sie noch einmal aufgehen: an derselben Stelle hinter demselben Meer kam dieselbe Sonne heraus. Wieder ließ Prosser alle Vorsicht außer acht und sah einfach zu: der orangefarbene Ball, das gelbe Band, der Sockel des Horizonts, die heitere Luft und das geschmeidige, schwerelose Aufsteigen der Sonne, die zum zweiten Mal an dem Morgen aus den Welle hervorkam. Es war ein ganz gewöhnliches Wunder, das er nie vergessen würde.
Julian Barnes: In die Sonne sehen (1991)

„Reisen im Regal (1)“ weiterlesen

(periphere Notate): Nord-Stream-Terror: Der Robert war’s!

Der Krieg der NATO gegen Rußland nähert sich den entscheidend(er)en Phasen. Da stehen nun auch grundsätzliche Entscheidungen an: Soll Rußland vollständig zerstört werden (wie etwa Libyen), zerschlagen und kolonisiert (wie Teile des ehemaligen Jugoslawien)? Oder beugt man sich der außerhalb der direkten Kriegstreiberkreise (von Rand bis Nuland) verbreiteten Einsicht, daß beides nicht realistisch möglich ist und das Maximalziel nur sein kann, den Krieg so lang und mit so vielen Toten und Zerstörungen wie nur möglich am Laufen zu halten, bis Rußland von selbst zusammenbricht?

„(periphere Notate): Nord-Stream-Terror: Der Robert war’s!“ weiterlesen

(aus dem tiefen Archiv): Belästigungen 03/2005: Achtung, wer das liest, ist Bob Dylan!

Neulich kam das Gespräch auf Elfriede Jelinek. Das ist freilich Unfug, weil Gespräche so etwas (kommen und gehen) nicht tun, aber jetzt mal egal: „Igitt! Wer hat denn das dahergebracht!“ hieß es jedenfalls. „Der soll es gefälligst auch wieder wegschaffen!“ Dies erledigte ich, indem ich sagte, daß es Frau Jelinek wahrscheinlich gar nicht gibt. Es handle sich dabei in Wirklichkeit um Stephen Hawking. Das konnte Daniel Kehlmann bestätigen: beide, Hawking und Jelinek, seien zumindest noch nie gemeinsam photographiert worden. Ich stellte die These auf, es sei grundsätzlich jeder, der noch nie gemeinsam photographiert worden sei, identisch. Juli Zeh, die ansonsten gerne mal meine Sätze zu lang und verwurstelt und überhaupt findet, lachte hier, weil ihr gar nicht auffiel, daß dieser Satz so verwurstelt war, daß er sich – pliff! – in nichts auflöste. „(aus dem tiefen Archiv): Belästigungen 03/2005: Achtung, wer das liest, ist Bob Dylan!“ weiterlesen

Die Henscheidung (oder: Wie man zum Lesen und vom Lesen zum Schreiben kommen kann)

Mit dem Lesen ist es eine schwere Sache: Man lernt’s, man kann’s, und dann will man’s tun, und dann geht es nicht gescheit. Die Bücher paradieren Rücken an Rücken lockend im Regal, aber ein jedes hat seine Fehler: Eins ist zu groß, das plömpt im selbst hergestellten Viertelschlaf aufs Gesicht und erstickt das Wollen. Ein anderes trägt seine Buchstaben in Blattlausnachwuchsgröße auf pappesteifem Holzpapier, tausende davon, die darlegen, wie dem Helden ein Messer von unten in den Mundraum gestochen wird; das brennt gar fürchterlich und will nicht aufhören zu brennen, seitenlang, stundenlang, bis man’s weiß und überhat, die Schwarte weglegt und für Karl May auch verloren ist. „Die Henscheidung (oder: Wie man zum Lesen und vom Lesen zum Schreiben kommen kann)“ weiterlesen

(periphere Notate): Geimpft trotz Impfung

„Zwiefalten hat nicht viel zu erzählen.“ So leitete der Suhrkamp-Verlag 1983 den Klappentext zu dem Roman „Zwiefalten“ ein. Schriebe heute noch ein Verlag so etwas freiwillig auf ein Buch, und würde dieses Buch freiwillig jemand zur Hand nehmen, gar lesen? Mich könnte es freuen, denn wenn ich mich recht erinnere, fand ich den Roman damals sehr erfreulich, spannend und gehaltvoll, ebenso wie die „Mexikanische Novelle“ und „Infanta“ und im Gegensatz zu dem Schmarrn, den Bodo Kirchhoff später schrieb, und vielen, vielen Büchern, deren Autoren angeblich ganz „große Fabulierer“ sind und soooo „viel zu erzählen“ haben. „(periphere Notate): Geimpft trotz Impfung“ weiterlesen

Im Regal: Sling (Paul Schlesinger) „Der Mensch, der schießt“

Vor Gericht wird der Mensch zur literarischen Figur, sozusagen natürlich, weil den schwammigen Unklarheiten des eigenen Existenzsumpfs entrissen, durch eine Mühle von Kategorien gedreht und neuerlich schwammigen Unklarheiten der Auslegung durch ebenso natürlich inkompetente Urteilsorgane ausgeliefert, die sich einen Reim machen sollen zum Beispiel darauf, daß ein bis dahin unbescholtener, fleißiger, integrer, angemessen unglücklicher und unglückseliger Mann eines Tages den eigenen Sohn in einem Amtszimmer des Finanzamts vor den Augen des (hierfür nur bedingt) zuständigen Beamten erschießt. Wie mit dem Mann weiterhin verfahren wird, erfahren wir ausnahmsweise nicht – immerhin dies: Der Staatsanwalt beantragte zehn Monate Gefängnis auf Bewährung, und der Leser, soviel sei weiterhin verraten, empfindet diese Strafe nach Lektüre der Reportage zum Prozeß als zu hart. „Im Regal: Sling (Paul Schlesinger) „Der Mensch, der schießt““ weiterlesen

Notwendig verspätete Anmerkungen zu John Fante anläßlich einiger Neuauflagen

Fragt man mich nach dem „wichtigsten“ oder „größten“ Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (oder meinetwegen: überhaupt), werde ich lange überlegen und wahrscheinlich keine Antwort geben. Aber allein daß es Vladimir Nabokov da mit John Fante (und wenig anderen) zu tun bekommt, sagt einiges.

Na gut, mag man meinen: Was soll man geben auf das Urteil von einem, der Thomas Mann schmäht und vier Fünftel des „Kanons“ der Gegenwartsliteratur verachtet, der die New York Dolls für eine der wichtigsten und größten Rock-’n’-Roll-Bands aller Zeiten hält und auch in anderer Hinsicht zu höchst unzuverlässigen Ansichten neigt? „Notwendig verspätete Anmerkungen zu John Fante anläßlich einiger Neuauflagen“ weiterlesen