Reisen im Regal (1)

Die Luft war leer und heiter, während die orangefarbene Sonne sich ruhig und stetig aus dem klebriggelben Band des Horizonts löste. Prosser verfolgte ihr langsames Zutagetreten. (…) Er nahm nichts wahr als die aus dem Meer aufsteigende Sonne: erhaben, unerbittlich, fast schon komisch.
Schließlich saß der orangefarbene Ball fein säuberlich auf dem fernen Wellensockel, und Prosser schaute weg. (…)
Auf 2500 Metern fing Prosser das Flugzeug ab und nahm erneut Kurs auf den Stützpunkt. (…) Da passierte etwas. Er war so schnell heruntergegangen, daß es die Sonne wieder unter den Horizont zurückgetrieben hatte, und als er nach Osten schaute, sah er sie noch einmal aufgehen: an derselben Stelle hinter demselben Meer kam dieselbe Sonne heraus. Wieder ließ Prosser alle Vorsicht außer acht und sah einfach zu: der orangefarbene Ball, das gelbe Band, der Sockel des Horizonts, die heitere Luft und das geschmeidige, schwerelose Aufsteigen der Sonne, die zum zweiten Mal an dem Morgen aus den Welle hervorkam. Es war ein ganz gewöhnliches Wunder, das er nie vergessen würde.
Julian Barnes: In die Sonne sehen (1991)

Die unerfreulichen Begleiterscheinungen biomedizinischer Entdeckungen werden von manchen als zu sehr in der Zukunft liegend angesehen, um uns mehr als flüchtig in Anspruch zu nehmen, noch dazu in einer Zeit, in der uns überwältigende Gegenwartsprobleme so in Anspruch nehmen wie das Überleben im nuklearen Zeitalter, die Bevölkerungsexplosion und die stark belasteten Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe. Es wäre aber verkehrt, die biomedizinischen Probleme, welche die Entdeckungen auf diesem Gebiet mit sich bringen, als nicht dringend anzusehen. „Es sind keine Probleme der Zukunft“, erklärte Dr. Joshua Lederberg, Nobelpreisträger und Biologe an der Stanford Universität, „diese Probleme sind schon da.“ Wenn das Wissen des Menschen – und damit seine Macht – neue Dimensionen annimmt, dann bleibt kaum eine menschliche Vorstellung, kaum etwas, das dem Menschen als „Wert“ gilt, zu sakrosankt, um nicht einer radikalen Neueinschätzung unterzogen zu werden. Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter, Mann oder Frau, das Gute oder Böse – all diese werden eine gewandelte Bedeutung annehmen. Leben und Tod werden neu definiert werden müssen. Die Familienbeziehungen werden ganz zwangsläufig anders werden, und selbst die individuelle Identität wird schwer festzustellen sein. Nichts wird unter den Transhumanen der Nachzivilisation des psychozooischen Reiches selbstverständlich sein. Um überhaupt eine Ähnlichkeit mit den heutigen menschlichen Werten zu erhalten, werden die führenden Persönlichkeiten der Menschheit in neuen Kategorien denken müssen, und ihre Phantasie muß dafür schöpferisch beflügelt sein.
Albert Rosenfeld: Die zweite Schöpfung. Neue Aspekte des menschlichen Lebens (1969)

So kommt der Frühling auf das öde Land von Eben, das geschieht über Nacht. Die Luft wird plötzlich klar und riecht säuerlich, es ist eine laue, trächtige, fremde Luft, die lautlos über den Kamm des Berges kommt und durch die schwarz gefärbten Wälder fließt.
Karl Heinrich Waggerl: Brot (1930)

Slouching indolently, he sauntered to the window, where he watched the great sweeps of winter rain swirl against the protecting pane. Outside it was brumous: desolate and lonely; no one seemed to be passing by. Abruptly, from a crossing thoroughfare, a great truck lurched into the street and rolled, rumbling, towards Paul’s vision. In the circle of light created by an overhead arc-lamp Paul descried the young driver in his leathern apron, his head bare, his thick, black hair matted by the drenching downpour, controlling the sturdy carthorses, the reins bound round his naked, brawny arms. In the eyes of this young carter, seen but an instant in passing, Paul fancied he recognized a gleam of enthusiasm, a stubborn relish, a defiance of the storm, which had once been his own. Had I been content to drive a truck, Paul considered, I, too, might have retained some of the sensation of the joy of living.
As he turned away from the window it occurred to him that some one else might have harboured this thought at one time or another, but a pendent, solacing reflection informed him that all overmastering emotions, of whatever nature, must have come down through the ages. That, he mused, is the whole secret of the trouble with us damned, restless spirits, there are no new overmastering emotions. What I am feeling now I have felt before, only never before so poignantly. There is nothing new to think, or to feel, or to do. Even unhappiness has become a routine tremor.
Carl Van Vechten: Firecrackers. A Realistic Novel (1925)

Wenn ein menschliches Wesen sich aufmacht, ein paar Wochen mit Nichtstun zu verbringen, braucht es dazu eine große Ausrüstung.
Hugh Mills: Prudentia und die Pille (1965)

Will man der Rätselhaftigkeit einer Sache auf die Spur kommen, ist es oft das beste, man häuft andere, verwandte, nicht weniger auffällige Rätsel dazu.
Christian Meier: Politik und Anmut (1985)

Der gesunde Menschenverstand ist für den Geist, was die Anmut für den Körper ist.
La Rochefoucauld: Maximen (orig. ca. 1664, dt. v. Julius Schmidt 1961)

Skepsis ist Zweifel. Wer glaubt, glaubt an Wahrheit. Fast grotesk steht die personifizierte Wahrheit, die ewige Wahrheit, die stabilis veritas, weil sie Gott selber ist, für den gläubigen Augustinus da. (…) Ob die Wahrheit an den Dingen hafte oder am menschlichen Denken, an unsern Vorstellungen oder an unsern Urteilen, darüber ist endlos philosophiert worden. Alle Logiker haben den Wahrheitsbegriff auf das Denken oder das Urteil eingeschränkt: Aristoteles, Thomas, Descartes, aber auch Hobbes.
Jetzt, wo wir uns dem Ende der Untersuchung nähern und das Wort Wahrheit kein Fetisch mehr für uns ist, können wir mit freier Heiterkeit an die alte Streitfrage herantreten. Wer die Wahrheit in die Dinge verlegt, der hat den Glauben an seine Sinne; indem er seine Sinneseindrücke zweimal glaubt, zweimal setzt, einmal subjektiv und einmal objektiv, stellt er Übereinstimmung zwischen Schein und Wirklichkeit her und nennt es Wahrheit, daß identische Dinge identisch sind. Wer die Wahrheit in sein Urteil verlegt, gibt dem Wahrheitsbegriff womöglich noch geringeren Inhalt: einmal urteilt er (selbstverständlich richtig, d. h. nach seinem besten logischen Gewissen), sodann glaubt er an die Richtigkeit seines richtigen Urteils und nennt diesen seinen Glauben die Wahrheit.
Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie (2. Ausgabe 1924)

Die Stoiker geben uns den Rat, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, indem wir unsere Wünsche ausschalten. Ebenso könnten wir uns die Füße abschneiden, wenn wir Schuhe brauchen.
Jonathan Swift, Thoughts on Various Subjects (1706) (deutsch von Walther Freisburger, in: Satiren, 1965)

Während daß in der Entfernung etlicher Meilen von ihnen, längst der ganzen Küste von Nordamerika, Sklaven von ihren Herren, und die Herren von ihren Sklaven geplagt, und beide ein Paar feindliche Parteien ausmachten, die sich wechselseitig quälten und wechselseitig dafür rächten, saß hier Herr und Knecht, in eins vereinigt, beysammen und machte sich das Leben angenehm: niemand ließ die Subordination fühlen, und niemand fühlte sie, und jeder, der sich eines solchen Glücks unwerth machte, wurde aus der Gesellschaft verbannt und an einen Herrn verkauft, der ihn den Unterschied zwischen hartem und leichtem Joche lehrte. Auf diese Weise, ohne politisches Regiment, beynahe in dem Stande der Gleichheit, wie er nie war und Philosophen ihn träumten, in der bloßen Familienunterwürfigkeit der Natur, entgieng diese kleine Gesellschaft allen den beschwerlichen Folgen zweyer Dinge, die dem Menschengeschlecht die größten Wohlthaten erwiesen und den größten Schaden zugefügt haben – der Geselligkeit und des Eigenthums.
Johann K. Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776)

Halten wir – angesichts eines Universums, das zumindest zur Hälfte Affenhaus ist und Folterkammer ! – halten wir, unbekümmert um christoid=hilflose Erklärungsversuche, und ob auch Reader’s Digest andächtelt : > We can but bow < – halten wir das Eine fest:
e s   s t i m m t   h i e r   e t w a s   n i c h t !
Arno Schmidt: Belphegor, oder Wie ich euch hasse (1959)

The Eye continued to turn, carrying them all slowly back down to earth.
William Sutcliffe: Whatever Makes You Happy (2008)

(Anmerkung: Diese Fundstellen sind rein zufällige Früchte des müßigen Herumstöberns in Beständen und folgen keiner außer ihrer eigenen, möglichen Logik.)

2 Antworten auf „Reisen im Regal (1)“

  1. Heute bin ich ein bißchen boshaft (ich weiß nicht warum) und hyperkritisch. Ich bitte um Entschuldigung im voraus!
    Die Auswahl finde ich nicht unproblematisch und ziemlich typisch für eine deutsche Hausbibliothek: nur deutsche und englischsprachige Autoren (zwei unübersetzt!) zwischen Aufklärung und Gegenwart. Einzige Ausnahme: La Rochefoucauld. Es ist klar, daß die Zitate unsystematisch gesammelt wurden. Aber trotz Zufall (oder gerade deshalb?) ist die „Enge“ fast bedrückend. Warum keine andere Epochen, keine andere Sprachen, keine andere Länder? Das ist eine sehr kleine Reise…

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