Die Henscheidung (oder: Wie man zum Lesen und vom Lesen zum Schreiben kommen kann)

Mit dem Lesen ist es eine schwere Sache: Man lernt’s, man kann’s, und dann will man’s tun, und dann geht es nicht gescheit. Die Bücher paradieren Rücken an Rücken lockend im Regal, aber ein jedes hat seine Fehler: Eins ist zu groß, das plömpt im selbst hergestellten Viertelschlaf aufs Gesicht und erstickt das Wollen. Ein anderes trägt seine Buchstaben in Blattlausnachwuchsgröße auf pappesteifem Holzpapier, tausende davon, die darlegen, wie dem Helden ein Messer von unten in den Mundraum gestochen wird; das brennt gar fürchterlich und will nicht aufhören zu brennen, seitenlang, stundenlang, bis man’s weiß und überhat, die Schwarte weglegt und für Karl May auch verloren ist.

Die Lebensberichte – von Oliver Twist bis Ditte Menschenkind –: irgendwie immer gleich. Es geschieht Löbliches und Arges, wird gelitten und durchmacht, bis es endlich ans Sterben geht. Da kann man blättern, bis es so weit ist, dies immer wieder durchleiden, bis es peinlich wird, weil die Drüse zum xten Mal tränt, wenn Robin Hood schon wieder derart übermäßig zur Ader gelassen wird, daß er erbleicht.

Das ist alles recht banal und bald erledigt. Weitere Bücher locken und löcken zugleich: tragen wilde Weltraumrecken und wallacesche Dunkelmänner auf dem Deckel, drinnen aber nur fadgraues Gespinst, versprechen Freudenzins und saugen doch bloß Zeit ab, die mit dem Fernseh noch dienlicher wattiert werden kann; da lacht man immerhin, bisweilen selber.

Über Bücher zu sprechen, ist Erwachsenensache. Was taugt, ist produktiv und konstruktiv und jedenfalls ganz ernst. Eines Tages aber stand ein kleines, scharmantes Ding im Regal, das auch so hieß und recht und echt bezaubernd schien und zu dem die elterliche Junta knapp vermerkte, es sei „ein Schmarrn“: hübsch formatiert, geschmeidiges Papier schmeichelnd gelettert, mit zierlichem Bändchen; ein schweinischer Salzstreuer vorne drauf sich bespiegelnd, hinten Wörter, die man nie gehört hatte und nicht verstehend als das begriff, was jugendlichem Glucksen und Prusten förderlich war. „Stumpfsinnsdampfen, Keuschheitsprasseln, Milchschmutz feucht und falb und trampelnd.“ Das reimte sich ohne Sinn und Bild (und Reim), ließ sich keckernd deklamieren, schmolz in die Hirnschnecken und kam umgehend als höherer Blödsinn wieder heraus, indem die teenagende Bagage sich in der Wiese kugelte und brüllte vor Lachen, sich dabei Begriffe zublökend, die keine waren: Nalm! Twat! Bölber! Schratt! Flumm!

So fängt das Dichten an. Das wollte ich ja eh – die Bücher hervorbringen, die es nicht gab, auf daß die staubigen Regalbrigaden verschwünden. Aber was schreiben? Es reichte selten für mehr als ein paar Zeilen, dann vertrocknete der Impetus, und es war ja eigentlich nichts zu sagen, außer daß es schlimm war. Und das war nicht zum Lachen!

Wenn also schon nicht Bücher, dann anders. Aber selbst für die Schülerzeitung langte es nicht, weil die lümpfigen Milchbärte, die Mitte der 70er den an die Universität entrückten Altrevoluzzern nachgefolgt waren und mildironische Versöhnlichkeit sprühten, mit Glossen wie „Was ist eigentlich der Herr Ostler für einer?“ nichts anzufangen wußten oder wagten und bei dem Projekt einer komplett zusammengeschwindelten Biographie unseres Schuldirektors erschlotterten. „Der ruft am Ende den Strauß an, und dann fliegen wir alle“, na ja.

Mit dem Schreiben ist es also auch eine schwere Sache. Was zu sagen, nein: zu schimpfen, zu fetzen, zu zerlegen und zersetzen war an der Welt, das blieb im Kopf, drehte sich als Remix vermeintlich kühner Formulierungen, ging aber nicht in Zeilen hinein, weil man so etwas nicht tat, so wie man auch der bösen alten Nachbarin nicht die Kiste mit dem Hundedreck vor die Haustür stellte, schellte und in die Gegensprechanlage rief: „Ihr Waschvollautomat ist da!“ Und schon gar nicht ohne Dreck und Kiste einfach klingelte und ihr „Ja!“ mit „Dumme Sau!“ konterte. Krawallmachen war nicht opportun, Krawallschriftstellern, man mag es einsehen oder nicht, erst recht.

Dann endlich kam ein Buch daher, ein liegengebliebenes (das sind immer die besten, weil das, was jeder lesen zu wollen meint, grundsätzlich nichts taugt und am Ende meist nicht mal gelesen wird) und daher vom studentenaffinen Zweitausendeins-Vertrieb in eine Blindverkostungskiste gepacktes, das auch haptisch den dicken Bruder des in den verstrichenen 1,1 Jahrzehnten leider längst verschollenen scharmanten Schmarrns von damals gab und in dem deshalb vordringlich gesudelblättert wurde. Und da stand ja alles, was mir im Kopf rumging: andere „Themen“, andere Figuren, andere Zeiten, anderer Dreck, aber eben: ein übervierhundertseitiges Aufbegehren gegen die Unzumutbarkeit und Dummheit des Welt- und Kulturgerassels, gegen seine Dreistigkeit, exemplarische Hohlheit, die geistige Pilzfäule, die alles versaftet, was bei drei nicht auf dem Baum oder am Hinterzimmerstammtisch ist, wenn die Kennfanfare von „Aspekte“ oder „TTT“ ertönt oder der Botenbub die „Süddeutsche“ ins Treppenhaus schmeißt.

Das war famos! Der konnte das, durfte das und tat es: rüpeln, bölken, spotten und höhnen, sich krümmen vor Kichern über diese Weltverschwörung der Blöden, die das meiste, was er ihnen drübergoß (oft nur ein sanfter Sud aus reinem Zeigen, was ja genug war), nicht mal begreifen konnten in ihrer Steindummheit, mit der sie den ganzen Tag mit dem Schädel im eigenen Hintern durch die Kamera- und Mikrophonwälder flanierten. Na gut, er durfte das nicht immer; hin und wieder muckte ein Entkleideter auf und verlangte Seitenschwärzung wegen menschenrechtswidriger „Schmähkritik“. Was mich an einen Autofahrer denken läßt, der vor Jahren direkt vor meinem flitzenden Rad die Fahrertür aufriß, mich um ein Haar zu Fall und möglicherweise zu Tode gebracht hätte und dem ich deswegen ein „Arschloch!“ entbot. Flugs stieg er wieder in die Karre, eilte mir nach bis zur nächsten roten Ampel, kurbelte die Beifahrerscheibe hinunter und plärrte in hilfloser Empörung: „Ich … bin kein Arschloch!“ Meinetwegen, es war ja alles gesagt und wieder gut.

Nun begann das Schreiben, das ein Sprudeln und Fließen wurde, vom Nachschub des Vorbilds befeuert in dem vorsatzlosen Eifer, alles und jedes und alle und jeden zu vermerken, was und wer auch immer peinlich, peinsam und hirnlos gegen Wahrheit, Schönheit, Geist und Stille sündigte, mit dem bebrillten Oberhintern umriß, was er mit eigenen Händen nur noch zerbröseln konnte, und überhaupt irgendwie die kontemplative Muse stört, zu der der Mensch grundsätzlich ebenso geschaffen ist wie die Katze und das Moos. Das machte in fast jedem Fall wie jede berechtigte Randale schlagartig gelassen, zufrieden und versöhnt entspannt; so fand auch manch Idyll den Weg aufs Papier.

Bald erschien das Bild eines über die Jahrzehnte hingesudelten Lebensromans vor dem träumenden Auge: vielbändig in Feinleinen fadengeheftet, mit Farbschnitt und Bändchen und aquarelliertem Schutzumschlag, numeriert nach Hundertern. Daraus wurde nichts oder halt bloß ein halbes Dutzend selbstverlegter Taschenbücher in dreißig Jahren; immerhin die Hunderter stehen drauf, dies und das gesellte sich.

Hingegen wuchs der Stapel seiner Werke wie ein Baum, verzweigte und verästelte sich, wucherte aus und warf vielfarbiges Laub in die Welt, der zum Glück inzwischen besseres einfällt, als es zusammenzurechen und auf den Kompost zu schmeißen. Er hat’s ja auch viel mehr verdient als der Wurm, der in seinem Schatten an der Wurzel zuzelt und ohne ihn vielleicht nie eine gescheite Zeile zustandegebracht (oder gelesen) hätte.

geschrieben am 13. Oktober 2021 auf Anregung von Jürgen Roth als nachträgliche Würdigung zu Eckhard Henscheids 80. Geburtstag, gedruckt am 20. Oktober in der „Jungen Welt“ (Beilage „Christ & Hund“); ungefähr acht Jahre zuvor (am 29. September 2013) durfte ich Eckhard Henscheid und Jürgen Roth als Gäste einer Sonderausgabe der „Schwabinger Schaumschläger“ begrüßen, woran ich mich mit großer Freude erinnere

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