(periphere Notate): Geimpft trotz Impfung

„Zwiefalten hat nicht viel zu erzählen.“ So leitete der Suhrkamp-Verlag 1983 den Klappentext zu dem Roman „Zwiefalten“ ein. Schriebe heute noch ein Verlag so etwas freiwillig auf ein Buch, und würde dieses Buch freiwillig jemand zur Hand nehmen, gar lesen? Mich könnte es freuen, denn wenn ich mich recht erinnere, fand ich den Roman damals sehr erfreulich, spannend und gehaltvoll, ebenso wie die „Mexikanische Novelle“ und „Infanta“ und im Gegensatz zu dem Schmarrn, den Bodo Kirchhoff später schrieb, und vielen, vielen Büchern, deren Autoren angeblich ganz „große Fabulierer“ sind und soooo „viel zu erzählen“ haben.

In der „Zeittafel“ eines viel späteren Kirchhoff-Buchs staune ich über den Eintrag: „1959-1968 Internet am Bodensee“. Das kommt davon, wenn das Gehirn zu laut mitliest. Vielleicht schreibe ich so etwas in den Klappentext meines neuen Romans: „1993-2021 Internet in Schwabing, ohne Abschluß“. Allerdings wird das Buch wohl keine Klappe haben (die es halten könnte), und eine „Zeittafel“ erschiene mir etwas preziös (Sonntagsgedanken).

Zehn Zentimeter weiter berichtet Egon Erwin Kisch von einer Genderdebatte auf einem englischen Passagierdampfer, unterwegs Richtung USA im Jahr 1928: „Einige junge Amerikanerinnen lassen sich von Doktor Becker die Grundbegriffe der deutschen Sprache beibringen und lachen sich schief darüber, daß ‚Kind’ sächlichen Geschlechts sei, unbeschadet, ob es einen Knaben oder ein Mädchen bedeute. Kichernd suchen sie unter dem Tisch dessen männliches Geschlechtsmerkmal, da sie hören, man sage: ‚der Tisch’. Als aber ‚Fräulein’ und ‚Mädchen’ als Neutra bezeichnet werden, prusten sie heraus und rennen davon.“

Folgende Passage steht unmittelbar davor und nicht danach: „In diesem Augenblick kam eine Sturzwelle, die schwarzäugige ungarische Dame, unmittelbar daneben stehend, übergab sich, und die politische Debatte war somit in entsprechender Weise beendet.“

Daß man Kischs Dichtkunst damals (und in der DDR-Ausgabe von 1953) nicht „Journalismus“, sondern „Reportage“ nannte, ist ein Unterschied, den man angesichts heutiger „Leistungen“ von Vertretern der Branche prophetisch nennen mag. Indes gibt es zumindest den Begriff „Reportage“ ja immer noch.

Zufällig genau hier (nach obigem Gedanken) erfahre ich, daß an der Hetzkampagne des „Tagesstürmers“, der vorgestern neue wirre Verschwörungstheorien zum „antidemokratischen Netzwerk hinter #allesdichtmachen“ verbreitete, neuerdings ein „Recherchenetzwerk Antischwurbler“ beteiligt ist. Da schleicht sich die dringende Vermutung ein, daß es sich auch hierbei um eine satirische Aktion handeln könnte.

Victor Klemperer, Tagebuch 1942, 3. Mai: „Alles kommt darauf an, wie lange sich die Regierung hält. ‚Sie ist sehr fest organisiert’, sagte Richter.“

Noch ein Zufallssatz, aus einem Brief von Ivan Klima an Philip Roth (1978): „Unser Leben hier ist nicht sehr ermutigend – die Abnormität dauert zu lang und ist deprimierend.“

Nach all den Sätzen zur Zeit ein Satz aus der Gegenwart: „Hier nicht verharren! Kurz Photo machen, und dann weiter! Nicht verharren!“

Gesagt hat diesen Satz ein unbekannter Ordnungsbeamter, dessen Aufgabe es war, zu verhindern, daß Passanten die Briefe und Zeichnungen von Kindern lesen bzw. betrachten, die ebenfalls Unbekannte zwischen weißen Rosen und Kerzen auf den Stufen zum Eingang eines deutschen Gerichtsgebäudes niedergelegt hatten, um sich bei einem Weimarer Richter zu bedanken. Der „Müll“ wurde innerhalb kurzer Zeit in Plastiksäcke verpackt und weggeschafft.

Nicht verharren bitte auch bei den stetig hereinflutenden Zeitungsmeldungen über positive PCR-Tests und Covid-19-Infektionen „trotz“ Impfung. Die „Stuttgarter Nachrichten“ melden solche „Ausbrüche“ allein in 13 „Pflegeeinrichtungen“ in der Stadt. Bei der US-Gesundheitsbehörde CDC ist die Zahl schon fast fünfstellig und trotzdem noch viel zu niedrig, weil nur Patienten erfaßt werden, die ins Krankenhaus müssen oder sterben.

Ob man das „trotz Impfung“ langsam lächerlich findet und meint, es könne auch zu einem „wegen“ oder keinem von beiden übergegangen werden – so oder so bleibt festzuhalten: Die Idee, Geimpften als Bonbon für ihr Opfer einen kleinen Teil ihrer unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte gnädig zu „gewähren“, könnte sich als eine der dümmsten Dummheiten in diesem ganzen Komplex erweisen. Medizinisch ratsamer wäre es wohl, Geimpfte zu ihrem eigenen Schutz für lange Zeit zu isolieren. Zumindest bis man ungefähr weiß, was man den Menschen da angetan hat.

In diesem Zusammenhang nicht ganz uninteressant ist eine aktuelle Studie (notwendige Anmerkung: Preprint!) aus Großbritannien, die sich als erste ihrer Art ausführlich, umfangreich und seriös den Auswirkungen der mRNA- und Vektorimpfungen auf weitere Ansteckungsgefahren und positive Tests bei Geimpften widmet.

Kurz herausgegriffen: Das Risiko, positiv getestet zu werden, steigt kurz nach der Impfung an und geht dann wieder zurück. Etwa drei Wochen nach der Impfung hat man wieder das gleiche Risiko eines positiven Tests wie vorher.

Ein zweiter Punkt zur Effektivität der Impfung: Das Risiko einer ungeimpften Person, einen positiven PCR-Test zu erhalten, liegt bei 0,4 Prozent. 80 Tage nach der zweiten Impfung liegt es bei 0,15 Prozent. Die absolute Risikoreduktion durch die Impfung beträgt also 0,25 Prozent. (Das betrifft wie gesagt nur das Risiko eines positiven Tests. Das Risiko, tatsächlich zu erkranken, ist für Geimpfte wie Ungeimpfte wesentlich geringer.)

Aus den Schriften des Fürsten von Shang, die die Regierungspolitik des ersten chinesischen Kaisers prägten: „Gut regierte Staaten setzen deshalb alles dran, das Volk zu schwächen. (…) Ein schwaches Volk hält sich an Gesetze, ein zügelloses wird übertrieben eigensinnig.“ Es sei deshalb erste Aufgabe des Herrschers, „das eigene Volk zu bezwingen“, bevor er sich äußeren Feinden zuwenden könne. „Die Wurzel der Bezwingung des Volkes ist es, das Volk so zu kontrollieren, wie der Metallschmied das Metall kontrolliert und der Töpfer den Ton.“

Und dazu dies aus dem Tao Te King: „Der, dessen Verwaltung aufdringlich ist, dessen Volk ist gebrochen.“

Ist das eigentlich „solidarisch“ oder „zynisch“, daß Facebook nun mit Posts überflutet wird, in denen frisch Geimpfte sich über Impfschäden lustig machen und Geschädigte verhöhnen? Oder pfeifen da viele Hosenscheißer im dunklen Wald, weil sie gerade „Komm nur her, Wolf! Kommt nur her, ihr feigen Räuber und Gespenster!“ gebrüllt haben und das nicht mehr rückgängig machen können?

„Die Kunst fordert vom Künstler kein Talent, sondern Werke.“ (Stanislaw Jerzy Lec)

3 Antworten auf „(periphere Notate): Geimpft trotz Impfung“

  1. „Ich verstehe das nicht“, begrüßte mich meine Frau heute, als ich nach Hause kam. „Warum hören die Leute nicht auf ihre Freunde sondern auf das, was aus dem Fernseher schallt.“ Tante E, und sie kann sehr überzeugend sein, und sie hat vielen kranken Menschen geholfen und einen entsprechenden Ruf, hat ihnen doch gesagt, tut es nicht. Eine Freundin von ihr, jetzt hat sie Probleme mit dem Herz, von Tag zu Tag geht es ihr schlechter, laufen kann sie schon nicht mehr. Vor ein paar Tagen war sie noch kerngesund. Ich sterbe jetzt, sagt sie. Ihr Mann verzichtet jetzt auf die zweite Impfung.

  2. Sie schreiben: „Das Risiko einer ungeimpften Person, einen positiven PCR-Test zu erhalten, liegt bei 0,004 Prozent.“
    Wenn Sie das Wort „Prozent“ weggelassen hätten, wär’s richtig: das Risiko lag zur fraglichen Zeit (April 2021 in München) bei 4 Promille bzw. 0,4 Prozent, d.h. die Wahrscheinlichkeit betrug 0,004 (ohne Einheit, da es sich um ein reines Verhältnis handelt.)
    So schnell liegt man um den Faktor 100 daneben (was aber nur beim Konstruieren von Marsraketen ernsthafte Folgen hat.)

    p.s.: daß es in Deutschland mehr schlechte als gute Mathematiklehrer gibt, von denen die meisten selber nicht verstanden haben, wie Wahrscheinlichkeits- oder Prozentrechnung geht, scheint mir eine empirische Tatsache zu sein (abgeleitet aus 13 Schuljahren). Leider liegen mir dazu keine quantifizierbar repräsentativen Ergebnisse vor, mit denen man Eindruck schinden könnte.

    1. Danke für den Hinweis. Unter meinen vier Mathematiklehrern war übrigens tatsächlich ein sehr guter, aber an mich war auch seine Kunst weitgehend verschwendet …

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen