Notwendig verspätete Anmerkungen zu John Fante anläßlich einiger Neuauflagen

Fragt man mich nach dem „wichtigsten“ oder „größten“ Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (oder meinetwegen: überhaupt), werde ich lange überlegen und wahrscheinlich keine Antwort geben. Aber allein daß es Vladimir Nabokov da mit John Fante (und wenig anderen) zu tun bekommt, sagt einiges.

Na gut, mag man meinen: Was soll man geben auf das Urteil von einem, der Thomas Mann schmäht und vier Fünftel des „Kanons“ der Gegenwartsliteratur verachtet, der die New York Dolls für eine der wichtigsten und größten Rock-’n’-Roll-Bands aller Zeiten hält und auch in anderer Hinsicht zu höchst unzuverlässigen Ansichten neigt?

Was die US-amerikanische Literatur angeht, hat John Fante in meiner Verehrung, Bewunderung und Liebe nur Frederick Barthelme zum Konkurrenten, und den rechnet man – da seit 1971 tätig, aber noch lebendig und aktiv und hierzulande, wo nur ein Bruchteil seines Werks (zudem sagenhaft schlecht) übersetzt vorliegt, noch unbekannter als Fante – wohl lieber zum 21. Jahrhundert.

Ob John Fante ein glücklicher Mensch war, ist schwer zu sagen. Das „Schicksal“ hat ihn hart erwischt, getreten, gebügelt und verprügelt, ihm alles, was ein Leben als Künstler gelingen lassen kann, entrissen oder gar nicht erst zugestanden. Seine Bücher verstaubten in Buchhandlungsregalen und Verlagslagern oder wurden gar nicht erst gedruckt; leben und seine Familie ernähren mußte er von Auftragsarbeiten, heruntergetippten Drehbüchern, und am Ende raubte ihm die Diabetes nicht nur die Beine, sondern vor allem das Augenlicht; seine letzten Werke konnte er seiner Lebensfrau Joyce nur noch diktieren.

Wenn es Glück sein kann, sich mit literarischem Furor und funkensprühendem Trotz gegen alle Widernisse einer bösen Welt, gegen Armut, Zweifel, Resignation, Ignoranz, Unverständnis und Schweigen zur Wehr zu setzen, all den unverdienten, ungerechten, absurden Schlägen zu begegnen, indem man sie in ein Werk destilliert, das insgesamt kaum ein Regalbrett füllt, aber in beispielloser Klarheit, Renitenz und glühender Liebe und tobendem Haß alles enthält, was das Leben in und mit dem „amerikanischen Traum“ des 20. Jahrhunderts ausmacht und bedeutet, – dann könnte John Fante auf eine sehr verquere Art tatsächlich glücklich gewesen sein.

Sein Leben in kurzen Worten: 1909 als Kind italienischer Einwanderer in Denver, Colorado geboren, schmiß er mit zwanzig das College, um Schriftsteller zu werden, zog nach Kalifornien, heiratete 1937 Joyce und zog mit ihr vier Kinder groß. Nach vielen (meist vergeblichen) Versuchen, seine Erzählungen in dem von dem ebenso genialen wie zwielichtig schillernden Journalisten, Essayisten, Kritiker und Zyniker H. L. Mencken herausgegebenen Magazin „American Mercury“ unterzubringen, erschien 1938, gefördert von Mencken, sein (zweiter) Roman „Wait Until Spring, Bandini“, der erste von vier Teilen einer Semiautobiographie. Der zuvor verfaßte Teil zwei, „The Road to Los Angeles“, fand erst zwei Jahre nach Fantes Tod 1983 einen Verlag. Dazwischen folgten der als einziges Fante-Buch halbwegs erfolgreiche dritte, „Ask the Dust“ (1939), und „Dreams from Bunker Hill“ (1982), außerdem, ebenfalls zumindest weitgehend auf eigenem Er-Leben beruhend, „Full Of Life“ (1952), zu dem er selbst ein (ausnahmsweise verfilmtes) Drehbuch schrieb, sowie „The Brotherhood of the Grape“ (1977) und die Kurzgeschichtensammlung „Dago Red“ (1940, erweitert 1985 als „The Wine of Youth“). „1933 Was a Bad Year“, die Novelle „West of Rome“ und eine Sammlung früher Stories („The Big Hunger“) erschienen ebenfalls postum.

Sechs bzw. zehn Bücher in knapp einem halben Jahrhundert – schon diese Bilanz spricht für die außergewöhnliche Beharrlichkeit eines Mannes, der zu Lebzeiten niemals einen Preis erhielt, nie in einer Bestseller- oder „Bestenliste“ auftauchte, von der voluminösen Korrespondenz mit Mencken abgesehen dem „Kulturbetrieb“ so fern blieb wie ein italoamerikanischer Lumpenproletarier dem Washingtoner Geldadel und erst Ende der Siebziger, nachdem Charles Bukowski in einer Leihbibliothek zufällig „Ask the Dust“ (damals längst vergriffen) aus dem Regal gezogen und seinen literarischen „Gott“ gefunden hatte, eine gewisse Anerkennung erfuhr. Daß selbiger Jahrhundertroman mehr als sechs Jahrzehnte nach seinem ersten Erscheinen dann doch wochenlang die Verkaufshitparade der New York Times zierte, könnte dafür sprechen, daß sich schiere Qualität abseits von Marketing und Betriebsinzucht bisweilen, wenn auch extrem selten, durchsetzen kann. Oder für das Gegenteil, je nach Sichtweise. Immerhin kann heute, wer möchte, Fantes Werke lesen, sich davon begeistern, ernüchtern, schockieren, amüsieren und mitreißen lassen, und viele, die das taten, brauchen keinen zweiten Autor mehr. Zumindest kann das, wer der englischen Sprache mächtig ist.

Bücher haben manchmal kaum weniger verwickelte Geschichten, als in ihnen erzählt werden. In Deutschland, wo eine schrumpfende Zahl adipöser Megaverlage intensiv mit der Bekämpfung und Vernichtung guter Literatur durch Bombardements mit papierenem Schrott beschäftigt ist, gilt dies in besonderer Weise. Daß sich ein schmales, scheinbar unspektakuläres, aber mit wundervollen Juwelen gefülltes Werk wie das von John Fante seit mehr als 35 Jahren in dieser Müllwüste tummelt, ramponiert, demoliert, verwundet und mißhandelt, aber einfach nicht totzukriegen, mag man als Wunder betrachten, man kann darin aber auch eine Allegorie auf die Zähigkeit des Autors sehen, der sich buchstäblich durch nichts davon abhalten ließ, dieses Werk zu schaffen.

Gleiches gilt für seine Erzähler. Die neigen nicht zum Pathos, sie stürzen sich hinein, Kopf voraus, ungebremst und ohne Zögern. Sie baden darin, tauchen mit fanatischem Furor im Flammenmeer der Emotionen, und wenn die Fluten nicht tief genug sind, brechen sie sich trotzig das Genick. Der Leser taucht mit, manchmal kichernd, lauthals lachend angesichts der Übertreibung, die jedoch den immer wieder verblüffenden paradoxen Effekt hat, daß darin die Wahrheit so klar und überwältigend scheint wie die Sonne.

Die tragische Melancholie, die trotzige Wut der Vergeblichkeit, die aus Fantes Geschichten geradezu herausquellen, mögen einen selbst befallen, wenn man vor dem Bücherregal steht und angesichts des größtenteils gegilbten bis tief gebräunten Sammelsuriums über die eigene Fante-Lesehistorie sinniert: Die begann, wie wahrscheinlich bei den meisten Suchtkollegen, mit „Ask The Dust“, zuerst 1982 unter dem unerklärlichen Titel „Ich, Arturo Bandini“ beim gleichfalls wundersam/bewundernswert zähen Augsburger Maro-Verlag erschienen und bald danach aber nur noch als Billigtaschenbuch mit abschreckendem Filzstiftgeschmier auf dem Cover erhältlich. Und mit dem legendären Vorwort von Charles Bukowski – oder sollte man sagen: von Carl Weißner? Der nämlich hatte es (ohne genannt zu werden) ins Deutsche … nun ja, umgedichtet, liebevoll und wirksam, aber auch unverschämt frei, wie ein Blick auf die ersten Sätze zeigt: „I was a young man, starving and drinking and trying to be a writer. (…) It seemed as if everybody was playing word-tricks, that those who said almost nothing at all were considered excellent writers“, heißt es im Original. Weißner machte daraus: „Ich war ein junger Mann, kurz vorm Verhungern, meist besoffen und ständig bemüht, ein Schriftsteller zu werden. (…) Ich hatte den Eindruck, daß sich jedermann mit Wortspielchen über die Runden rettete und daß ausgerechnet diejenigen, die so gut wie nichts zu sagen hatten, als großartige Schriftsteller angesehen wurden.“

Kann man schon machen, geht aber auch anders, wenn man die Lakonie des Textes ohne Sponti-Wortspielchen in die fremde Sprache herüberziehen möchte. Aber gut, wer damals bei Fante landete, kam von Bukowski und den Freak Brothers und sollte dort landen, da schadete ein bißchen Hilfestellung nicht so sehr.

Fantes Texte selbst litten mehr unter den Frei-, Dumm- und Schludrigkeiten, die sich seine Übersetzer in immer neuen Ausgaben leisteten. Die erschienen zum Beispiel Mitte der 80er bei dem Kleinverlag Pohl’n’Mayer – hübsche Hardcovers, die sich leider beim ersten Öffnen den Rücken brachen und zu Blätterhaufen zerfielen, weshalb es sie kurz darauf nur noch in Zweitausendeins-Ramschkisten gab. Und wiederum als Taschenbücher mit Filzstiftgeschmier. Einige aber auch bei Eichborn auf noch schlechterem Papier und mit so vielen Druckfehlern, daß ich, als ich „Full of Life“ (besonders doofer Titel: „Gemischte Gefühle“; daß der Heyne-Verlag es 1961 schon mal „Alle Sehnsucht dieser Welt“ genannt hatte, wußte und weiß bis heute kaum ein Mensch) verschenken wollte, mich so schämte, daß ich das in Windeseile vergriffene Buch lieber abtippte und dabei korrigierte, als es im Antiquariat zu suchen (oder vielmehr in einem Tauschladen für Romanhefte, weil damals auch Antiquare noch einen Stolz hatten).

Die Titel blieben ein Rätsel: „Wait until Spring, Bandini“ hieß bei Pohl’n’Mayer „Hau ab Bandini“, was ohne Komma eine seltsame Aufforderung ist. Aus „Dreams from Bunker Hill“ wurde „Warten auf Wunder“, aus „The Brotherhood of the Grape“ „Unter Brüdern“. Als wollte man deutschen Lesern einschärfen: Das ist langweilig! Laßt es stehen! Was ja auch die meisten taten, außer den wenigen, die sich von Bukowski/Weißner anfixen ließen.

An dieser chaotischen und qualvollen deutschen Veröffentlichungshistorie hat sich bis heute wenig geändert. Nach wie vor und wohl auf absehbare Zeit gibt es keine brauchbare Gesamtausgabe der Werke des vielleicht größten US-amerikanischen Schriftstellers der letzten hundert Jahre. Noch nicht einmal ein vollständiges Werkverzeichnis: Selbst in der aktuellen Maro-Ausgabe von „Full of Life“ („Voll im Leben“, warum auch immer), „Brotherhood of the Grape“, „The Wine of Youth“ („Little Italy“) und „West of Rome“ (seltsamerweise und ohne Erwähnung auf dem Umschlag oder irgendwo sonst ergänzt um die Erzählung „Die Orgie“, die derselbe Verlag 2002 in dem Auswahlband „Eine Braut für Dino Rossi“ noch „Old Red Devil“ getauft hatte) verschweigt die Bibliographie u. a. die seit Jahrzehnten vorliegenden Korrespondenzen – u. a. mit Mencken – und die grandiose Sammlung „The Big Hunger“. Und zwar sind viele alte Fehler korrigiert, trotzdem ärgert man sich über den fürchterlichen „würde“-Konjunktiv, über fehlende Bindestriche und Kommata, die Verwechslung von „oh“ und „o“, die Verwirrung bezüglich „her“ und „hin“ und ihre Verknüpfungen mit „aus“, „ein“, „unter“ und „auf“, Dummheiten wie „das Schutzschild“ und manches andere.

Aber wo es um ein literarisches Werk wie dieses geht, nimmt man all das hin. Man pickt es sich halt zusammen aus den immerhin leidlich kongenialen Maro-Ausgaben, den genießbaren Nachdichtungen von Alex Capus bei Blumenbar (und/oder älteren Ausgaben) und wartet auf den Rest. Oder lernt Englisch, um die Originale verschlingen und als tragende Wände ins eigene Leben einbauen zu können.

Für Menschen, die sich wirklich für Literatur, für das Leben und die Welt interessieren, die ein Herz und ein Hirn und Sinn und Gefühl haben, ist einer dieser Wege auf jeden Fall unverzichtbar, selbst wenn man dafür (oder danach) die Regale leerräumen und Hekatomben leerer Wortspielereien ins Altpapier kippen muß. John Fante war und ist (um auf die Einleitung zurückzukommen) die New York Dolls der US- und Weltliteratur: verkannt, vergessen, nur den Eingeweihtesten bekannt, denen aber Gott und Messias, Marx und Bataille, Johnny Thunders und der Heilige Geist in einem, den wenigen, denen Literatur mehr bedeutet als modisches Geschreibsel, Befindlichkeitsgequatsche, auf Buchformat aufgepumptes Pseudosinnieren über Mittelschichtwehwehchen und Markennamen, Who-dun-it-Quark als TV-Vorlage bzw. Fantasy-Fluchten vor der U-Bahn-Realität. Fante hatte die Leidenschaft und das Genie, die Millionen verlogener Klappentexte reklamieren, die Schuld, die Liebe, den Haß, die Dummheit, die Beharrlichkeit, die (sorry) Authentizität, die andere nicht einmal zu simulieren schaffen.

geschrieben im März 2019 für KONKRET, dort leicht gekürzt erschienen

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen