Im Regal: Sling (Paul Schlesinger) „Der Mensch, der schießt“

Vor Gericht wird der Mensch zur literarischen Figur, sozusagen natürlich, weil den schwammigen Unklarheiten des eigenen Existenzsumpfs entrissen, durch eine Mühle von Kategorien gedreht und neuerlich schwammigen Unklarheiten der Auslegung durch ebenso natürlich inkompetente Urteilsorgane ausgeliefert, die sich einen Reim machen sollen zum Beispiel darauf, daß ein bis dahin unbescholtener, fleißiger, integrer, angemessen unglücklicher und unglückseliger Mann eines Tages den eigenen Sohn in einem Amtszimmer des Finanzamts vor den Augen des (hierfür nur bedingt) zuständigen Beamten erschießt. Wie mit dem Mann weiterhin verfahren wird, erfahren wir ausnahmsweise nicht – immerhin dies: Der Staatsanwalt beantragte zehn Monate Gefängnis auf Bewährung, und der Leser, soviel sei weiterhin verraten, empfindet diese Strafe nach Lektüre der Reportage zum Prozeß als zu hart.

Das verdankt der Angeklagte Hackbusch (und der Leser) dem Autor Sling, bürgerlich Paul Schlesinger, der nach einer gescheiterten Wollmacherlehre (d. h. aufgrund deren Scheitern oder andersherum – bitte! selbst lesen) und 25 Jahren mit diversen anderen, wenig kapitalismustauglichen Unternehmungen 1921 Gerichtsreporter der Vossischen Zeitung wurde und bis zu seinem frühen Tod (mit 50) 1928 blieb. Schlesinger hat keinen der Berufe, die er ausübte, je gelernt, auch diesen nicht, und doch war er und bleibt er der wohl größte Gerichtsreporter aller Zeiten, weil er es verstand, auf der Nadelspitze der absoluten Empathie zu tanzen – im Wortsinn: Seinen Reportagen ist ein luftiger, von allem literarischen Schwurbelballast gänzlich freier Stil zu eigen, der sie atemraubend unterhaltsam, fesselnd, spannend macht; zugleich aber frappiert eben das Einfühlungsvermögen noch für den scheinbar schlimmsten Kriminellen, den irrsten Richter und seine treffsichere Fähigkeit der Parteinahme, des wie nebenbei hingeworfenen moralischen Urteils. Wenn er Mitgefühl für den achtfachen, achtmal zum Tode verurteilten Mörder Angermann fordert, den freigesprochenen Gattinnenmörder Böhme sozusagen „nachverurteilt“ – immer folgt man seinen Gedanken, Recherchen, Schlüssen widerspruchslos, bisweilen mit vor Faszination beziehungsweise überraschter Einsicht gesträubten Haaren und einer wiederkehrenden Gänsehaut.

Es ist kein Zufall, daß ein so wesentlicher Anteil der wirklich deutschen Schriftsteller mindestens des 20. Jahrhunderts Juristen waren, von Kafka bis Rosendorfer. Es wird nun mal der Mensch vor Gericht zur literarischen Figur; kein Wunder also auch, daß Schlesingers Reportagen (die beileibe nicht nur Mord betreffen, sondern ebenso liebenswerte bis blöde Betrüger, frappierend zeitnahe politische Prozesse, Diebstahl, Ehestreit, Societyskandale etc. und die Justiz als solche) genau betrachtet Romane sind, zumindest deren Samenkörner, auf zwei bis nicht viel mehr Seiten schlüssig, rund und meisterhaft auserzählt. Ein ungeheurer, glücklicher Zufall hingegen ist es, daß ein Nichtjurist dem Geist der ganzen Sache intuitiv wesentlich näherkam als die meisten der „Profis“. Glück auch für uns: Hätte er Jura studiert, stünde vor uns möglicherweise nun ein Stapel mit 130 mindestens daumenstarken Romanen. So passen sie alle in ein fast unfaßbares Buch. Das übrigens – hin und wieder darf man’s erwähnen – der Verlag wunderschön drucken und binden lassen und sogar darauf verzichtet hat, dem Stilzauberer Sling reformdeutsche orthographische Mätzchen draufzuwürgen.

geschrieben im August 2013 für KONKRET

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