Reisen im Regal (3)

Die europäischen Nationen gehen einer Epoche großer innerer Schwierigkeiten mit überaus heiklen Problemen wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Art entgegen. Wie sollte man nicht fürchten, daß der Staat unter der Herrschaft der Massen alle unabhängigen Individuen und Gruppen erdrücken und so die Zukunft zu einer Wüste machen wird!
Ein konkretes Beispiel für diesen Mechanismus liefert uns eine der beunruhigendsten Erscheinungen der letzten dreißig Jahre: die enorme Vermehrung der Polizei in allen Ländern. Die wachsende Ausdehnung der Gemeinwesen hat unentrinnbar dazu geführt. So sehr wir daran gewöhnt sind, wir sollten doch nicht das Gefühl für den beklemmenden Widersinn der Tatsache verlieren, daß die Einwohner einer heutigen Großstadt, um friedlich auf der Straße gehen und ihre Geschäfte besorgen zu können, einen Polizisten brauchen, der den Verkehr regelt. Der „ordnungsliebende Bürger“ glaubt in seiner Harmlosigkeit, daß diese „Organe der öffentlichen Ordnung“, die für die Ordnung ins Leben gerufen sind, sich damit begnügen werden, immer die Ordnung herzustellen, die ihm zusagt. Aber es wird unvermeidlich dahin kommen, daß sie selbst die Ordnung bestimmen, die sie herstellen – und das wird unvermeidlich die sein, die ihnen paßt.
José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen (1930)

Sie findet sich so klein, so einsam, so verloren in der Unendlichkeit dieser großen, erleuchteten und einsamen Stadt. Es ist ihr, als ob sie schon gestorben wäre.
Alphonse Daudet: Fromont jun. und Risler sen. (1874)

Der Verstand schaudert, wenn er sich den ewigen Wirbel denkt, in dem sich die ganze Natur dreht; die unzähligen Bewegungen, die ununterbrochen fortdauern, vom Umlaufe der Säfte im Innern jedes Thiers und jedes Baumes bis zum Umlaufe der Millionen Weltkörper, die das Firmament anfüllen, wie Tropfen das Weltmeer, und unter denen es vielleicht nicht zwei gibt, die einander gleich sind.
Fr. Th. Schubert: Geschwindigkeit (in: Vaterländisches Magazin für Belehrung, Nutzen und Unterhaltung, Nro. 5, 1841)

Wilhelmine läßt mir sagen, ich möchte sie zur Eisbahn abholen und daß sie bis über die Ohren verliebt sei. Wie ich eintrete in ihr Boudoir, drückt sie mir eine Photographie in Kabinettformat in die Hände, das sei er. Während ich ihn mir betrachte, pflanzt sie sich mit dem Album in der Hand vor mir auf und rezitiert mir mit haarsträubenden Gebärden einige Knittel, die sie an ihn gerichtet. Auf der Eisbahn, während wir Hand in Hand Schlittschuh laufen, zieht sie die Photographie wieder aus der Tasche, beliebäugelt sie und verliert alle zehn Schritt einen Schlittschuh. Das nämliche Spiel vollzieht sich während des Heimweges. Auf meiner Stube bedeckt sie das Bild mit Küssen und läßt es von oben nach unten und von unten nach oben langsam aus der Enveloppe gleiten, um die verschiedenen Reize gradatim und detailliert genießen zu können. Nur vier Wochen möchte sie mit ihm zusammen reisen können; er ist nämlich ein berühmter Tenor. Für ein halbes Jahr mit ihm gäbe sie gern ihr ganzes übriges Leben hin. Ich kann es ihr nicht verdenken; ihr Leben war bis jetzt ziemlich eintönig und freudlos und wird es voraussichtlich auch in Zukunft sein. Während wir vierhändig spielen, drückt sie bei jeder Viertelpause einen Kuß auf die angebeteten Züge. Nach Schluß der Etüde verfällt sie in absolute Agonie, sinkt in der Sofaecke zusammen und läßt sich ohne das geringste Widerstreben von mir liebkosen. Nur hin und wieder stammelt sie mit ersterbender Stimme: „Ach, du bist so unappetitlich, so unappetitlich! –“
Gott segne dich, göttlicher Tenor. So freilich hatte ich mir die Entwicklung nicht vorgestellt. Ich scheine mich nicht mehr so fürchterlich langweilen zu sollen.
Frank Wedekind: Ich langweile mich (1883)

Auf irgend eine Weise müssen sich die Triebe der Dinge Luft machen.
Leopold von Ranke: Die römischen Päpste (1834)

Was verstehen wir unter dem „Untergang“ der antiken Kultur? Was liegt dieser stetigen Rückwendung des Kulturmenschen zum primitiven Stande des Barbarentums zugrunde? Wo immer wir diesen Vorgang beobachten, bemerken wir auch einen psychologischen Wandel in denjenigen Gesellschaftsschichten, die bis dahin die Schöpfer der Kultur gewesen waren. Ihr schöpferisches Vermögen und ihre schöpferische Energie vertrocknen. Die Menschen werden müde, verlieren das Interesse am Schaffen und hören auf, es zu werten. Sie sind enttäuscht; ihr Leben ist nicht mehr ein Streben in der Richtung auf ein schöpferisches Ideal zum Wohle der Menschheit. Ihr Sinn ist entweder von materiellen Interessen erfüllt oder von Idealen, die nicht mit dem Leben auf Erden in Verbindung stehen und anderswo ihre Erfüllung finden. Im letzteren Falle verlegt sich der Anziehungspunkt von der Erde in den Himmel oder von der Erde in eine Welt jenseits des Grabes.
Michael Rostovtzeff: Geschichte der Alten Welt, Band II: Rom (1927)

Nachdem sich schwere sportliche Strapazen nachweislich schon auf den erwachsenen Organismus sehr nachteilig auswirken können, verlangt Geisböck im Wachstumsalter ganz besondere Mäßigung.
Dr. med. Max Brandl: Für und wider den Sport in der Pubertät der Mädchen (1938)

Die leuchtende Freude dieser treuen Volksgenossen, die oft von weither und unter nicht geringen Opfern nach Haus Wachenfeld gepilgert sind, um diesen einen Augenblick zu erleben, sie strahlt dann im Antlitz des Führers wider, und so wird diese tägliche Begegnung zwischen Adolf Hitler und seinem Volk eine strahlende Offenbarung der neuen deutschen Einheit.
Baldur von Schirach: Hitler in seinen Bergen – Zum Geleit (1935)

Na also, meine Mitreisenden lasen. Einer den „Völkischen Beobachter“, der andere die „Münchner Nachrichten“. In beiden auf den ersten Seiten große Schlagzeilen über die ganze Seite: „Landesverräter!“ „Schleicher hat Deutschland an Frankreich verraten!“ Das war allerdings eine Sensation. War das vielleicht die Erklärung für die Morde in der Nacht des 30. Juni? Das Interesse an den Zeitungen zeigte, welche Tiefenwirkung die Schüsse dieser Nacht hatten. Hier gab Hitler endlich eine Erklärung …
Keinesfalls. Hitler schwieg weiter. Die Zeitungen druckten nur die Nachrichten der amerikanischen Presseagentur United Press. Wie sie angeblich aus vertrauenswürdiger Quelle erfahren hatten, hatte der ermordete General Schleicher Kontakte zur französischen Regierung und hatte Militärgeheimnisse an Frankreich verraten. Das wurde in ganz großen Lettern gedruckt ohne Kommentar, und die Kommentare, die sich auf starke Worte gegen Schleicher und begeisterte Worte für den Führer reduzierten, verbrauchten nicht wenig Druckerschwärze. Schleicher – ein Landesverräter. Das war eine fast größere Überraschung als sein gewaltsamer Tod. Würde das wirken? Würde man das glauben? Hitler hat sicher nicht an Geld gespart, als er Herrn Hearst beauftragte, diese Nachricht zu verbreiten, und Herr Hearst, einer der wenigen, die im Pressegewerbe Milliarden verdienten, hatte sich sicher selbst darum gekümmert, es dem getreuen deutschen Kunden seiner United Press recht zu machen. Aber war diese Bombe wirklich eine gute Idee?
Julius Fučik: Eine Reise nach München (1934)

Der Baum, der mir den Schatten zittert,
Der Quell, der mir sein Mitleid rauscht,
Der Vogel, der im Baume zwittert
Und, ob ich ihn auch höre, lauscht –
Die ganze freundliche Natur
Nimmt mich umsonst in ihre Kur.
Jakob Michael Reinhold Lenz: Die erste Frühlingspromenade (ca. 1775)

„Schert euch etwas weiter weg, ihr Schurken, wenn ihr mich beschimpfen wollt“, herrschte Antigonos einige Soldaten an, die, ohne seine Anwesenheit zu bemerken, über ihn herzogen.
Ulrich Kraiss: Kleine Geschichten aus Hellas (1939)

Die kilometerlange technische Logik einer mit bis auf das absolute Minimum herunterrationalisierter Mannschaft sehr profitabel laufenden Chemikalienfabrik produziert einerseits dickflüssiges, gelblich schäumendes Giftwasser, das sich trübselig unter den Fahrbahnbrücken hindurchzieht, und andererseits wirbelnde Säulen aus beißendem Rauch, die sich im Wind trichterförmig ausdehnen, bevor sie als toxischer Schleier über die Fertighäuser der angrenzenden Wohngebiete herabsinken, wo sich junge Mütter nach der vierundzwanzigstündigen Doppelschicht alte Küchenlumpen über den Mund pressen, um mit ihrem blutigen Staubhusten nicht ihre chronisch übermüdeten Kleinen zu wecken.
Alexander Schimmelbusch: Im Sinkflug (2005)

Aber schon kamen die grimmen Unholdinnen und grausen Furien wieder angereist und nahten sich, schlangengiftschnaubend, in ruchloser Eile!
Lucius Apuleius: Der goldene Esel (deutsch von Carl Fischer, 1967)

„Leuchte den Herren heim, Schwester!“
„Aber es ist doch hellichter Vormittag“, antwortete Nanon.
„Trotzdem. Leuchte ihnen heim, sie haben es wohl verdient.“
Jules Verne: Meister Antifers wunderbare Abenteuer (1894)

Der Raum ist das ganze nach außen zerstückelte Ich.
Otto Weininger: Über die letzten Dinge (1904)

Nun aber ist der Fluch des logisch-mathematischen Genius, daß er immer glaubt zu „erkennen“, indes er nie etwas anderes verwaltet, nie anderes verwalten kann als das Ideal, darin die ganze Geschichte des Abendlandes wurzelt: Wissen ist Macht!
Niemals ist der Übermächtiger des Lebens sein Erkenner. Niemals war ein Mathematiker oder Logiker – Philosoph! Niemals kann, niemals darf er es sein!!
Immer aber war auch der nüchternste Wissenschaftler des Abendlandes selbunbewußt ein Kind des Christentums, d. h. des Humanismus.
Theodor Lessing: Die verfluchte Kultur (1921)

Die beiden wohlbestallten Künstler saßen im kleinen Nachtcafé und besprachen es emsig, wir brutal der Ichmus der Nebenmenschen wäre! Das Wort „Ichmus“ sprachen sie so aus, wie wenn sie sagten: Die übrige Menschheit sagt nämlich „Egoismus“!
Peter Altenberg: Verkehr zwischen Menschen (1904)

Für die andern leiden, ja, das kann eine große Freude sein, wenn einer eine hochgesinnte Seele hat, aber in den andern leiden: hier fängt das wahre Leiden an!
Leon Bloy: An seine Braut (1889)

Von allen deutschen Städten, die ich kenne, habe ich mich nur in Stuttgart bedingungslos fehl am Platz gefühlt, und nicht einmal als ich mit Hermann Lenz über den Killesberg ging, verging meine gesträubte Unbehaglichkeit vor dieser Stadt, während ich doch sonst in fremden Städten nur mit Leuten zusammen zu sein brauche, von denen ich nichts zu befürchten habe, und ich werde auch mit der Umgebung einverstanden. Aber in Stuttgart kam – wie Hermann Lenz das nennt – so etwas wie „Übereinstimmung“ nicht zustande. Wo wir auch gingen – es herrschte ein Villenleben, zugeschnürt und erstickt, weder Stadtwirrwarr, noch Naturaufatmen, eine hügelige Landschaft von Vorgärten und Naherholungs-Abritten, wo man Väter zu ihren Kindern sagen hört: „Noch bis zu diesem Strauch dort gehst du bitte, dann trag ich dich!“, wo Leute in Trainingsanzügen auf den Trimm-Dich-Pfaden plötzlich stoppen und genau vor dem angegebenen Kniebeuge-Piktogramm ihre zehn Kniebeugen machen und weiterrennen …
Hermann Lenz erzählte, als er einmal im Wald Anemonen gepflückt habe, sei ein Herrenreiter vorbeigeritten und habe leutselig gesagt: „Ach, das gibt wohl eine Waldmeisterbowle!“
Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat (1974)

Seine schöne Geliebte, die er angebetet hatte, war gestorben. Um ihn zu trösten, suchten ihm seine Eltern eine Frau. Gerade als ob man einem, dem das eine Bein amputiert worden ist, nun auch das andere amputieren wollte, um seinen Geist aufzufrischen.
Pitigrilli: Ein Freundschaftsdienst (1922)

Und dem, der sich umblickt, mag es in der Tat erscheinen, als hätte sich über alles und jedes ein unmerkliches graues Stäubchen gelegt.
Tommaso Landolfi: Zwei späte Jungfern (1946)

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