(aus dem tiefsten Archiv): Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)? (1998)

Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)?

Um die Diskussion abzukürzen: Ich meine, nein. Und zwar unabhängig von der Frage, ob man fiktive Personen überhaupt lieben oder hassen kann, ob man jemandem, den man liebt, antun würde, was man seinen Figuren antut, und ob man jemandem, den man haßt, überhaupt Einlaß in das Gebäude einer Geschichte gewähren würde. Ein Autor sollte seine Figuren beschreiben, sie Dinge tun lassen – sterben meinetwegen, leiden oder sonst was –, aber er sollte sie so lassen, wie sie sind.

Dies gilt insbesondere für Ich-Erzähler. Wie oft werden wir mit unbeholfenen Versuchen mediokrer Autoren konfrontiert, uns ihren Erzähler sympathisch oder unsympathisch zu machen. Schluß damit! möchte ich jedesmal rufen. Halt dich aus den Gedanken deines Erzählers raus, laß ihn endlich das tun, wofür du ihn angeblich erfunden hast: erzählen. Wenn du partout in der Geschichte vorkommen oder irgendetwas kommentieren willst, dann begib dich hinein, begegne dem Erzähler, lächle ihm zu, klopf ihm auf die Schulter, verpaß ihm eine Ohrfeige oder stell ihm ein Bein.

Ein Autor, der diese Methode, diesen Trick besonders schätzt und zur Vollendung gebracht hat, ist Vladimir Nabokov, den ich im Übrigen (um die Einordnung meiner eigenen Person zu erleichtern) für den größten Autor unseres Jahrhunderts halte. Neben der lobenswerten Indifferenz gegenüber seinen Figuren (etwa in „Verzweiflung“ und „Bube, Dame, König“) ist Nabokov bemerkenswerterweise auch das Gegenteil vorgeworfen worden: Der Ich-Erzähler etwa in „Lolita“, so mußte man sich anhören, sei viel zu positiv und sympathisch dargestellt, Nabokov beziehe viel zu wenig eindeutig Stellung gegen Humberts perverse Handlungen und Gedanken.

Selbstverständlich tut er das nicht, denn Humbert erzählt die Geschichte selbst. Ob Nabokov ihn mag oder nicht, ob er richtig findet, was Humbert tut und unterläßt, spielt nicht die geringste Rolle, und gerade hier wird Literatur erst interessant, gerade darin besteht die Kunst: sich herauszuhalten aus dem Denken und Fühlen seines „Helden“, noch nicht einmal durch jenes alberne Klunkerwerk einzugreifen, das man „Symbole“ zu nennen pflegt. Was für ein Schwachsinn dabei herauskommt, wenn man mit derlei Zeug hantiert, wissen wir aus Thomas Manns „Tod in Venedig“: In dieser Erzählung, in der außer dem Autor überhaupt niemand vorkommt, wimmelt es nur so von „Symbolen“, die die ganze schwiemelige Geschichte vollends unerträglich machen. Irgendwas im ersten Absatz, so erfuhr ich etwa von einer Fachfrau solcher Angelegenheiten, sei ein eindeutiges Todessymbol, das auf den Ausgang der Geschichte hindeute. Wozu das Ganze dann überhaupt weitererzählt und gelesen werden muß, warum der Autor nicht einfach schreibt: Lieber Leser, lassen Sie mich Ihnen gleich mitteilen, daß die Hauptperson am Ende sterben wird, das konnte sie mir nicht sagen.

Ein ganz anderer und doch ähnlicher Fall wie Nabokov ist Ödön Horváth: Auch ihm ist an seinen Romanen und Erzählungen angekreidet worden, er sei als Erzähler „kalt“, „uneindeutig“ und so weiter. Was für ein Unsinn! Wozu sollte man eine Geschichte lesen, wenn sie nicht darüber hinausgeht, daß man ein bestimmtes Denken und Verhalten „schlecht“ oder „richtig“ finden (und womöglich – Gott bewahre! – auch noch übernehmen) soll?

Eine solche Einstellung zur Literatur erscheint mir wie die eines Menschen, der sein Interesse für die Welt mit vorgefertigten und kommentierten Reportagen stillt, anstatt sich selbst zum Zeugen zu machen. Wer bei einem Zaubertrick mit Adleraugen jede Bewegung des Künstlers verfolgt, anstatt sich von dem reinen Vorgang bezaubern zu lassen, ist entweder (zum eigenen Nachteil) ein schlechter Zuschauer oder einem schlechten Zauberer aufgesessen, der die Kunst nicht beherrscht, die auch hier die grundlegende ist: die eigene Person aus dem gezeigten Vorgang hinauszuzaubern.

Ein letztes Beispiel: In Urs Widmers Roman „Im Kongo“ hat Adolf Hitler einen bemerkenswerten Auftritt. Um einem schweizer Ingenieur seine Willensstärke zu beweisen, betrinkt er sich vor dessen Augen. Widmers Trick ist besonders gemein: Bei einem unbedarften Leser könnte der Eindruck entstehen, der deutsche Führer sei ein etwas überkandidelter, putziger Spinner, aber im Grunde nicht unsympathisch. Aus diesem Eindruck auf Widmers eigene Gefühle oder seine Einstellung auch nur zu Hitler zu schließen, wäre komplett idiotisch.

Wie fragil die Position des Autors ist, dem das Kunststück gelungen ist, sich aus seiner Geschichte herauszuhalten, zeigen nicht selten Übersetzungen. Nehmen wir Martin Amis‘ Novelle „Night Train“, ein schönes Beispiel aus der letzten Zeit: Welche der darin vorkommenden Figuren der Autor liebt oder haßt, ist definitiv nicht festzustellen, weil es eben keine davon ist. Der Ich-Erzähler, eine Polizistin namens Mike, ist ebenso wie die anderen Vorkommenden nur Mittel zum Zweck der Darstellung von etwas, das über die Personen weit hinausgeht. Solche Dinge darzustellen (wir wollen uns ersparen, hier zu diskutieren, was für Dinge dies sind oder sein können; dieser Zweig der Literaturwissenschaft entspringt meines Erachtens nur der Unfähigkeit oder Faulheit, sich auf Geschichten wirklich einzulassen – eine gute Geschichte ist IMMER die beste Art, das zu erzählen, was sie erzählt) – solche Dinge darzustellen setzt zwingend die Indifferenz des Autors gegenüber den Trägern der Handlung voraus. Dem deutschen Übersetzer von „Night Train“ ist es nicht gelungen, diese Haltung zu übernehmen – kaum merklich, doch mit katastrophalen Folgen sind ihm die Pferde durchgegangen, und schon steht der Leser mit ihm auf einer Seite und übersieht, was ihm eigentlich durch den Zaubertrick der Literatur gezeigt werden sollte.

Ein letztes Wort zur Versöhnung: Natürlich geschieht es beim Schreiben, daß man seine Personen liebgewinnt oder daß sie einem auf die Nerven gehen. Denn wer schreibt, ist auch sein eigener Leser; die Schwierigkeit besteht darin, beim Schreiben beide Rollen unbarmherzig zu trennen. Ist der Punkt erreicht, wo einem das beim besten Willen nicht mehr gelingen will, so ist der Roman oder die Geschichte beendet oder gescheitert.

(Dieser Text entstand wohl im Dezember 1998, kurz nachdem mir für meinen Roman „Die Verrückten stehen in der Sonne“ ein Literaturstipendium zuerkannt worden war. Ich wurde daraufhin zu einer Art Seminar mit weiteren Stipendiaten eingeladen und sollte den Roman dort vorstellen; in der folgenden Diskussion warfen mir einige unbedarfte Teilnehmer, deren Namen ich nicht mehr weiß, und eine ebenso unbedarfte Kulturbetriebsangestellte vor, meine Figuren „nicht genug zu lieben“. Ob ich den Text bei dem Seminar vorgetragen habe, weiß ich nicht mehr; vielleicht war er mir selbst zu eitel. Gedruckt erschienen ist er noch nie.)

2 Antworten auf „(aus dem tiefsten Archiv): Muß, darf, kann oder soll ein Autor seine Figuren lieben (oder hassen)? (1998)“

  1. Sympathische und weitgehend richtige Überlegungen. Thomas Mann tun Sie allerdings unrecht. Kaum jemand betrachtet seine Figuren und die Bredouillen, in die sie geraten, so gelassen. Zudem: Was das „Klunkerwerk“, also die Symbolik angeht, schütten Sie das Kind mit dem Bade aus. Oder glauben Sie, der Name des Motels, in dem Humbert Humbert zum ersten Mal mit Lolita ins Bett geht, ist Zufall?

    Ein zu weites Feld, um es hier zu beackern, seufz.

  2. Dass ein Romanautor eine wie auch immer geartete Zuneigung zu seinen Figuren, genauer: zu seinem personalen Erzähler entwickeln soll, kann nur mit einer fatalen Neigung zu literarischem Kitsch erklärt werden. Literatur soll also nicht nur den Leser, sondern auch den Autor erbauen, haben doch beide einen grundsympathischen Helden (natürlich nicht ohne einige der Handlung förderliche kleinere Fehler und Schrullen) als Freund gewonnen.
    Dass sich der Autor damit völlig unnötige Beschränkungen auferlegt und die großen Chancen, welche die Installation einer Instanz wie dem Erzähler bietet, leichtfertig aufgibt, könnte eine Verschwörung zur Reaktivierung reaktionären Denkens nahelegen: Was ist der unzuverlässige Erzähler doch für eine wunderbare Misstrauenserklärung gegen die Gewissheiten des bürgerlichen Romans! Ganz zu schweigen von den kaum greifbaren Erzählern des nouveau roman, die sich in Sprachkaskaden gleichsam auflösen, während die Handlungsstränge das lineare Forterzählen verweigern. Oder die wunderbaren Augenblicke der Erkenntnis, wenn sich der Erzähler von vorn- (Humbert Humbert) oder im Nachhinein als – na ja – Arschloch entpuppt: Zwei gern übersehene Beispiele liefern die Romane „Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen“ von Frank Schulz und „Sanierungsgebiete“ von Enno Stahl. Der Erzähler, zumal der unsympathische, ist der Stinkefinger gegen die behagliche Genügsamkeit des bürgerlichen Individuums, das im Roman gefeiert werden will. Indem er Gott spielt, stellt er die herrschende Weltordnung in Frage.

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