Noch vor nicht langer Zeit war es modisch, kritische Stimmen in einen Sack mit dem Etikett „Verschwörungstheorie“ zu werfen. Das zieht offenbar nicht mehr so, weil sich der Begriff durch übermäßigen Gebrauch abgenutzt hat.
Zudem war er manchmal nicht ganz so einfach nachzuvollziehen: Wenn etwa jemand äußerte, er glaube nicht so ganz an die Verschwörungstheorie, der Angriff auf das World Trade Center sei von einer Erdhöhle in Afghanistan aus gesteuert worden, war der automatisch ein Verschwörungstheoretiker. Wer hingegen der Theorie anhing, die AfD habe sich mit Putin verschworen, um Deutschland zu destabilisieren, der war keiner. Das erkläre mal jemand einem interessierten Grundschüler.
Da ist es schon nachvollziehbarer, die Frage (wohlgemerkt: nur die Frage!), ob hinter diversen Terroranschlägen, Kriegen und sonstigen schlimmen Vorgängen vielleicht etwas anderes stecken könnte als das, was die Nachrichtenagenturen meist nach Minuten einstimmig berichten, als „Desinformation“ bloßzustellen. Schließlich kratzt so was möglicherweise am geschlossenen Weltbild und schafft Verwirrung. Daß die Welt an sich verwirrend und ein Kratzer im Weltbild der Urgrund jeder Erkenntnis ist – pah, Desinformation!
Über „Desinformation“ schreibt mein zwanzigbändiges Brockhaus-Lexikon folgendes: „—“ Das Duden-Fremdwörterbuch schweigt ebenfalls, genauso wie Dollheimers „Großes Buch des Wissens“ und diverse weitere Nachschlagewerke. Zum Glück souffliert Wikipedia: „Desinformation“ sei „die gezielte Verbreitung falscher oder irreführender Informationen“, sie kann „entweder direkt (Lügen, Betrug) oder indirekt (subtile Unterdrückung objektiver oder überprüfter Fakten, Verschweigen oder Ablenken von der Wahrheit, Implizieren falscher Urteile) geschehen“, und „im weiteren Sinne ist Desinformation auch die gezielte Überversorgung mit – aus der Rezipientenperspektive – nutzlosen Informationen, welche die wichtigen Informationen überdecken sollen“.
Wir fragen jetzt mal nicht, was „objektive“ Fakten, „richtige“ (oder „implizierte“) Urteile, „die Wahrheit“ und „wichtige“ Informationen wären und wer das bestimmt. Sondern denken folgerichtig: Das gesamte Polit-Framing in Presse, Funk, Internet und Fernsehen, jedes Wahlplakat, jede Wahlkampfrede, jede Nachrichtensendung, Talkshow, Produktwerbung, selbst Bezeichnungen wie CSU, SPD, Bäckerbreze und Landbier, praktisch jedes einzelne Wort, das sich in unsere Aufmerksamkeit drängt – alles gezielte Desinformation!
Aber nein. Eine anständige Desinformation gibt es nur im Krieg (ob „kalt“ oder „heiß“), und kommen tut sie folgerichtig nur vom Feind. Das ganze Gebimse um und über „Desinformation“, das derzeit in deutschen Medien herumwimmelt und lustige Blüten von Panik und -mache treibt, ist folglich keine Desinformation, sondern (wichtige!) Information.
Den Begriff erfunden hat (angeblich) Stalin als Bezeichnung für eine KGB-Abteilung, die allerlei Unfug in die Welt setzte, um den Westblock zu verwirren und ihn damit in den Untergang zu treiben. Ein ähnliches Projekt gab es auch in der DDR; es war ungefähr so erfolgreich wie die letzten drei Wahlkämpfe der bibeltreuen Christen und entsprechend „gefährlich“ für den Westblock, in dem derweil zum Beispiel gemunkelt wurde, die Schoki im Osten bestehe aus Rinderblut, und man Schülern eintrichterte, „lieber tot als rot“ sein zu wollen. Immerhin gelang es neulich dem SZ-Magazin, einen ehemaligen Mitarbeiter aufzutreiben, der sich nicht schämte, konfuses Zeug über vermeintliche BND-Spione im Vatikan zu erzählen. Heiliger Bimbam, da haben wir ja noch mal Glück gehabt!
In demselben Artikel, in dem kaum berichtet, dafür ausgiebig beschworen, gebauscht und gewarnt wird (vor dem bösen Russen, wie üblich), las man auch dies: „Die freie Welt blühte auf, während der Ostblock Milliarden in Desinformation investierte.“[1] Nicht immer ist Propaganda so plump, billig und leicht zu erkennen wie in diesem Fall. Der Artikel als solcher wirkt ein Stück subtiler, zumindest auf den ersten Blick. Das gelang den Autoren mit altbekannten Methoden: Man schwurbelt und rhabarbert herum, streut Anspielungen, dreht sich argumentativ in einer wirren Spirale, stellt vermutete Tatsachen und tatsächliche Vermutungen in eine Reihe, wirft Ungleiches in einen Topf, sortiert streng nach gut und böse und läßt die „gute“ Seite weg, abgesehen von der eingeschobenen salvatorischen Bemerkung, auch im Westen sei nicht immer alles rosig und toll.
Zusammenfassen ließen sich die fünf Seiten in etwa so: Wenn eine Nachricht oder Meldung, ein Bericht oder Video oder eine Reportage oder sonstige öffentliche Äußerung den transatlantischen Westblock und seine Führer und Institutionen in heroisch schimmernden Farben malt und dabei ordentlich mit Phrasen („Werte“, „Demokratie“, „Freiheit“) um sich wirft, ist das Information. Schmäht jemand den Westen, berichtet Negatives oder macht sich gar lustig, ist das Desinformation. Daß die Autoren das nicht einfach so schreiben, ist nicht nur wegen des dann wegfallenden Honorars verständlich: Das wäre so plump und blöde wie der zitierte Satz, bei dem wohl jemandem momentweise der Fanatismus durchgegangen ist und auch der zuständige Redakteur nicht aufgepaßt hat.
Daher erstaunt es nur auf den ersten Blick, daß in all dem wuchernden Gerede und Geschreibe über Desinformation nicht und nirgendwo die millionenfach verbreitete „BILD“-Zeitung erwähnt wird, die seit Jahrzehnten für Hetze, Propaganda, absichtliche Falschmeldungen, nutzlose Informationen und Ablenkung von Wichtigem institutionell zuständig ist. Auch Spiegel, FAZ, SZ, Zeit, Welt, Funke-Mediengruppe, ARD, ZDF, B5 aktuell und das Konglomerat der privaten Sender kommen nirgends vor. Aber klar: Schließlich sind es ja diese Medien, die das Thema Desinformation in die öffentliche Aufmerksamkeit gepflanzt haben und nicht müde werden, es zu beackern. Die hauen sich nicht selbst in die Pfanne.
Und was ist mit den Parteien und ihrem Wahlkampf, in dem verdreht, verfälscht, verfremdet, das Blaue vom Himmel versprochen und geschwindelt wird, daß sich die Podeste nur so biegen? Und deren Organisatoren selbst stolz verkünden, sie wollten „Themen setzen“ und „besetzen“ und Meinungen „bilden“? Nun ja, die dienen ja ausschließlich dem Zweck, Menschen dazu zu manipulieren, an Wahlen teilzunehmen und die einen zu wählen und die anderen nicht. Und das ist nur dann Desinformation, wenn es aus dem Osten und von Putin kommt.
Überhaupt scheint es jenseits von allem, was mit dem Osten, Putin und aktuellen Wahlen zu tun hat, überhaupt keine Desinformation zu geben. Nicht mal spektakuläre Fälle schaffen es in die Desinformations-Berichterstattung – etwa als die Zeitschrift „Tempo“ Mitte der 80er in der DDR gefälschte Zeitungen mit Fake News verteilte. Oder als Franz Josef Strauß verbreiten ließ, die Urheber des Münchner Oktoberfestattentats seien „Linke“. Oder Günther Schabowskis legendär-historische Desinformation, die das Ende der DDR zumindest beschleunigte. Oder die Propaganda für „Sicherheitskonferenzen“, die Diffamierung von „G20-Krawallen“, die Konstantinische Schenkung, die legendäre Kampagne gegen „Münchens faulsten Lehrer“, diverse (nicht nur) Springersche Feldzüge von Rudi Dutschke über Venezuela bis zum Hambacher Forst. Die „Asylbetrugs“-Ente von 2018, Hitlers Tagebücher oder Potjomkins Dörfer, Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, der „Hufeisenplan“ und die Emser Depesche. Oder die Verharmlosungskampagnen der deutschen und sowjetischen Regierungen nach Tschernobyl. Oder der Putsch in der Ukraine. Äh, Moment, der schon, aber selbstverständlich andersrum.
Welch ein Glück, daß es neuerdings den großen Sack gibt, in dem alle möglichen (rechts)populistischen bis faschistischen Parteien und Häuflein sitzen! In den kann man nun bequem auch jene schmeißen, die zum Beispiel den Namen Assad erwähnen, ohne „Diktator“ dazuzusagen, oder sich neutral oder gar positiv über Putin äußern. Schließlich tun das auch manche Faschistenbürscherl hin und wieder! Die Frage, weshalb das Wort „Weltfrieden“ trotz der notorischen Nazikampagne „Mit dem Führer für den Weltfrieden“ nach wie vor folgenlos benutzt werden darf, zeigt beispielhaft die Idiotie derartiger In-einen-Sack-Schmeißerei. Als Helmut Kohl einst Gorbatschow und Goebbels gleichsetzte, war das zwar keine Desinformation (weil das Schlagwort noch nicht geläufig war), aber immerhin ein kleiner Skandal. Putin und Stalin möglichst oft in einem Atemzug zu nennen, ist hingegen nur eine Information für mündige Bürger.
Nehmen wir das Theater nicht zu ernst. Sinngemäß übersetzt bedeutet Desinformation, Informationen zu vernebeln und aus den Köpfen verschwinden zu lassen. In der derzeitigen „Desinformations“-Hysterie geht es aber gar nicht um Angriffe auf oder die Löschung von Informationen, sondern Überzeugungen, die „gesetzt“ und er-zeugt wurden und bewahrt werden sollen. Da ist alle „Desinformation“ bloß Geplänkel, das sicher nicht zu einer massenweisen (durchaus wünschenswerten) Desideologisierung führen wird. Dafür ist der Panzer der Weltanschauung längst zu hart.
Immerhin eignet sich die Wikipedia-Desinformation gut für ein Experiment: Wikipedia ist „offen“, da kann jeder beitragen, korrigieren und verbessern, theoretisch somit auch ich. Also habe ich mir den Spaß erlaubt, in den zu großen Teilen unsinnigen und plump manipulativen Artikel über „Desinformation“ ein paar klärende Zeilen einzufügen. Und siehe da: nicht mal 30 Sekunden später sind die Zeilen wieder verschwunden.
Offensichtlich ist Desinformation ein ziemlich heiliges Gut, das scharf bewacht wird. Es kommt halt nur darauf an, welche.
[1]„Täuschungsmanöver“ von Hannes Grassegger und Till Krause, SZ-Magazin 18/2019
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.