Belästigungen 04/2005: Neid oder Glatzwampen oder Charakter oder überhaupt oder und und

Immer dasselbe: jedes Jahr eine Oderflut! Und dieses Mal kann nicht mal der Kanzler die Dämme entlangschrödern und Sandsäcke begutachten, weil kein Wasser beteiligt ist.

Dafür Deutschlands Journalisten. Die SZ z. B.: Der Maler Florian Süßmayr, stand da zu lesen, wolle sich „mit Charles Manson oder der Otto-Mühl-Kommune beschäftigen“. Keine leichte Entscheidung. Der TSV 1860 hinwieder plane für die neue Saison mit „Michael Hofmann oder Paul Agostino“. Auch nicht ganz einfach. Die taz meldet, das nationale Selbstbewußtsein Japans sei „durch die Giftgasanschläge der Aum-Sekte oder das Erdbeben von Kobe erschüttert“ worden, ein Label schwärmt von einer „blutjungen“ Band, die mit „den Beatles oder den Rolling Stones“ aufgewachsen sei; und wiederum die SZ meldet, ein neuer Film über Franz Josef Strauß lasse „die CSU-Zeitzeugen Peter Gauweiler oder Friedrich Zimmermann“ zu Wort kommen.

Da greift man instinktiv zum „Duden“, ausnahmsweise sogar zur neoliberalen Ausgabe mit dem doofen ss-Zeug, aber „und“ steht nach wie vor drin, darf man also schreiben. Tut bloß keiner mehr, und irgendwann werden wir dann sagen: „Zu meiner Familie gehören auch meine Oma oder mein Opa“ und vor Länderspielen singen: „Einigkeit oder Recht oder Freiheit!“ Dann reagieren auch Rechtschreibkommission und streichen „und“ aus Wörterbuch, weil nix mehr brauchen. Hopfen oder Malz, Gott erhalt’s!

Woher kommt so was? Wieso gerade und und oder? Ich vermute: „Und“ klingt zu verbindlich, zu staatlich, fast schon kommunistisch. „Oder“ hingegen umweht ein warmer Wind von Wettbewerb und Markt — das hat man heute gerne.

Vielleicht tun sich deshalb die altmodischen Nazis trotz emsiger Wurstelarbeit nach wie vor so schwer gegen die wirtschaftsfaschistische Konkurrenz: „Führer, Volk oder Vaterland“ kommt denen nicht in den Mund, und eine Oder-Neiße-Grenze erkennen sie aus Prinzip nicht an. Drum werden die plumpen Glatzwampen und ihre Führer weiterhin als Schmuddelkinder geschmäht und müssen sich zu abendlicher Stunde in vorstädtischen Bushaltestellenwartehäuschen versammeln, um Dosenseich in sich reinzuschütten und ihre rituellen Darbietungen großdeutschen Liedguts und volksverbindender Parolengrölung durchzuführen. Und zähneknirschend zusehen, wie andere ihre Ideen abkupfern.

Das fing damit an, daß vor einigen Jahren plötzlich jeder ein „Patriot“ sein wollte, vor allem Leute, die das Wort kurz zuvor höchstens als Schimpfwort benützt hätten. Nun dröhnten aus allen Ecken flammende Liebesschwüre für Deutschland als solches, man schwenkte die Flagge, trällerte die Hymne und biß sich höchstens auf die Lippen, wenn einem ein Wort wie „Volksgenosse“ rausgerutscht war.

Mit dem Nationalwahn war es aber nicht getan. Man findet es toll, daß mit Horst Köhler endlich mal ein „Mann der Wirtschaft“ Bundespräsident ist, der auch gleich die zaghaft erhobene Forderung nach „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ als „Extremismus“ bezeichnet. Steht halt leider (noch) so als Pflicht im Grundgesetz (Art. 106).

Besser wissen es die „Wirtschaftsweisen“: Die schrieben in ihr Jahresgutachten hinein, „Humankapital“ sei „ein zentraler Faktor für zukünftiges Wachstum Deutschlands“. Dafür brauche es Tugenden wie „Zuverlässigkeit, Arbeitsdisziplin, Teamfähigkeit“. Diese aber seien „teilweise angeboren.“ Finden sich, heißt das, nur in gutem, reinem Blute; einheitliche Lebensverhältnisse somit ausgeschlossen. Wäre ja auch schlimm, dann gäbe es nämlich den Neid nicht mehr, der Grundlage des Heiligen Wettbewerbs ist und nur als böse gilt, wenn er sich gegen das Privatvermögen fetter Protze richtet.

Dafür ist Gerd Habermann zuständig, Direktor des „Unternehmerinstituts der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer“ (ASU – hi hi hi!) und Autor von „Der Wohlfahrtsstaat – Geschichte eines Irrwegs“, der als Gegenbeispiel für den Heiligen Wettbewerb gerne den „orientalischen Basar“ heranzieht und kürzlich in das Propagandaorgan „Cicero“ hineinschrieb, bei einer Chancengleichheit würden „die geistigen oder (!) charakterlichen Schwächen der (…) Unterdurchschnittlichen mit brutaler Nacktheit als Ursache des verlorenen Rennens enthüllt“.

Heißt: Wer nicht reich ist, dem fehlt es am Charakter. Da hilft nur Hartz IV, der „notwendige Tritt in den Arsch der Arbeitslosen“, wie die „Financial Times Deutschland“ tönte. Kurt Biedenkopf seinerseits lobt die USA, wo die Charakterlosen mit drei bis fünf Jobs gerade mal so am Leben bleiben, weil eine derartige Existenz den Sozialmüll wenigstens „motiviert“. Und weil Motivation nicht genügt, fordert die SZ lauthals, es seien Maßnahmen nötig, „um die Jobs auch tatsächlich entstehen zu lassen, in die die Arbeitslosen gezwungen werden sollen.“ Von entsprechenden Lagern ist derzeit noch nicht die Rede – trotzdem: Da sollen die echten Nazis nicht sauer sein, wenn jeder dahergelaufene Wirtschaftsdepp ihr patentiertes Gedankengut klaut?

Warum er das tut, wissen übrigens die Sozialwissenschaftler: Daß Menschen aus „gutsituierten Verhältnissen“ besonders zu Rassismus und Faschismus neigen, liegt an einer „forcierten Identifikation mit den Werten von Leistung, Wohlstand, Karriere und Geld“. Die führt zur panischen „Abwehr gegen alle, die als leistungsunfähig gelten oder anscheinend ohne eigene Anstrengung versorgt werden“. Zu was der Neid alles fähig ist – da staunt er, der Herr Habermann. Oder?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor. Dieser Text findet sich in Band 2: „Die nackten Idioten. Belästigungen 101-200“.

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