Belästigungen 03/2017: „Tschilp!“ (oder: Von Leid und Erlösung der wandelnden Virenpartyzone)

Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man eines Morgens aufwacht und feststellt, daß man Mitbewohner in der Wohnung hat, von denen man bis dahin gar nichts wußte und die man auch nie eingeladen hat. Dann sitzen sie plötzlich am Küchentisch, trinken den Tee leer und tun so, als wären sie schon immer dagewesen.

So geht es dem Menschen im Januar mit dem ganzen Planeten, den er grundsätzlich in verblendetem Selbstwahn für den seinen hält und sich gewohnheitsmäßig untertan macht, indem er ihn mit Windrädern und Fabriken vollstellt, mit Teerbändern überzieht und mit einer Giftwolkenatmosphäre aus Abgas, Fake-News, Streß und Fernsehmüll bepumpt: Plötzlich ist er da nicht mehr allein und auch nicht mehr bloß von possierlichen Pflänzchen und Tierchen umgeben, die sich im „Belästigungen 03/2017: „Tschilp!“ (oder: Von Leid und Erlösung der wandelnden Virenpartyzone)“ weiterlesen

Belästigungen 02/2017: Ich will dieses Gespräch nicht mehr führen müssen! (und hören auch nicht)

Ein guter Freund hat mal einen schlauen Satz gesagt, den ich seither bei Anlaß und Gelegenheit gerne zitiere. Wir standen in einem vom Zufall der Nikotinvorliebe zusammengewürfelten Pulk vor der Kneipe, zogen am Stengel und lauschten notgedrungen irgendeinem Small-talk-Geplänkel, gespickt mit den üblichen Vokabeln des zeitgenössischen Diskurses von „im Grunde“ bis „tolerant“, von „ambivalent“ bis „zu Gemüte führen“, von „zeitgleich“ bis „nichtsdestotrotz“ und „zweifelsohne“, bis dem Freund der Kragen platzte und er zu niemand bestimmtem sagte: „Könnt ihr mal aufhören mit eurem Scheißgespräch?“

Seitdem werde ich diesen Satz nicht mehr los. Immer wenn jemand in sein öffentliches Telephon einen Satz hineinplärrt, der in Fernsehserien längst verboten sein sollte, und in Wirklichkeit bloß „Leck mich doch am Arsch“ „Belästigungen 02/2017: Ich will dieses Gespräch nicht mehr führen müssen! (und hören auch nicht)“ weiterlesen

Belästigungen 1/2017: Vom Plastikmeer zur Plastikstadt (Plädoyer für ein Jahr ohne Ideen)

Wenn ein beliebiges Lebewesen – sagen wir: eine Katze, ein Fink oder eine Weinrebe – zwischendurch mal nichts zu tun hat, tut es das, was ihm als Wesen naturgemäß zukommt: Es west. Das heißt: Es sitzt oder liegt oder steht oder hängt müßig herum, kontempliert mit einem wohligen inneren Brummen das Gewese außenrum, als dessen Teil es sich weiß, und genießt den meditativen Zustand des Aufgelöstseins in einer Welt, in der sich alles irgendwie fügt, bis sie eines Tages zu Ende geht.

Anders der Mensch: Der kriegt dann Ideen, weil ihm das selbsttätige Fügen nicht so recht behagt und er ständig meint, irgendwas verbessern zu müssen, was hinterher im Normalfall schlimmer ist als zuvor. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser seltsame Instinkt von der Konstruktion einer strahlenden „Belästigungen 1/2017: Vom Plastikmeer zur Plastikstadt (Plädoyer für ein Jahr ohne Ideen)“ weiterlesen

Belästigungen 25/2016: Warum der Mensch an Fakten glauben muß (und was das mit der Post zu tun hat)

Kürzlich hat man mir hochöffiziös mitgeteilt, daß wir in postfaktischen Zeiten leben. Seit dieser ersten Mitteilung vergeht kaum noch ein Tag, an dem mir das nicht hochöffiziös und mit gespreiztem Zeigefinger mitgeteilt wird. Selbst Bundessalbentube J. Gauck, der ansonsten außer einem militärisch umflorten „Freiheit!“ kaum etwas aus seinem Sinnmachungsorgan herausquetschen kann, ohne sich im ärgsten Gestrüpp von Bullshit, Nonsens und Antigrammatik zu verheddern, trompete neulich in die Nachrichtensender hinein, es gehe nicht an, daß „Fakten eine immer geringere Rolle spielen“.

Freilich sind „postfaktische Zeiten“ an und in sich ein Schmarrn, schließlich können Zeiten auch nicht „faktisch“ sein. Ob überhaupt irgendwas „faktisch“ sein kann, ob es das Wort „faktisch“ sinnvollerweise überhaupt geben kann, „Belästigungen 25/2016: Warum der Mensch an Fakten glauben muß (und was das mit der Post zu tun hat)“ weiterlesen

Belästigungen 24/2016: So geht das, wenn das so geht und das Winterhirn sich füllt und leert (eine Reisemeditation)

Man hat ja leider immer was zu tun. Gerade im Winter, wo man beste Gelegenheit und nachgerade Lust hätte, mal so richtig ausgedehnt und -giebig überhaupt gar nichts zu tun als tagsüber im Bett herumzugammeln, Himmel und Bücherwand zu betrachten, sich abends in die Kneipe und morgens wieder ins Bett zu schleppen, – gerade zu dieser wundervollen Jahreszeit kommen die Leute daher und wollen, daß man Termine einhält, Schrift liefert, Sinn stiftet, Erklärungen bietet, zu Handlungen aufruft, Erinnerungen beschwört, Lächeln und Lachen aus Modernweltmasken lockt, insgesamt: Texte vorträgt, zu diesem Behuf in Eisenbahnen steigt, die seit langem zu Plastikbahnen umgebaut und folglich vollkommen unbewohn-, ja: -belebbar sind und daher ausschließlich mit Leblosen besetzt und von diesen bewimmelt sind und werden, deren leere „Belästigungen 24/2016: So geht das, wenn das so geht und das Winterhirn sich füllt und leert (eine Reisemeditation)“ weiterlesen

Belästigungen 23/2016: Ein (vor)letztes Wort zu großen und noch größeren Übeln, denen man am besten die Zunge rausstreckt

Als ich ein kleiner Bub war, hatten wir jede Menge Ideen, die meistens nicht den Beifall der Erwachsenen fanden. Das mag die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben, die für uns jedoch auf einen einzigen, immer gleichen Grund zusammenschnurrten: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und wollen uns unser Menschenrecht auf ein unbeschwertes, spaßiges Leben verweigern!

Ob wir ein gefundenes Fünfmarkstück sofort in fünfzig Kugeln Eis umsetzen, auf Bäume hinauf- und unter Zäunen hindurchklettern, ein Schrottauto zu einem Indianerlager umbauen, mit Kartoffelpistolen auf Passanten schießen, unser Fußballtor (zwei Jacken) direkt vor dem Hauptfenster eines Großraumbüros installieren, Aschentonnen nach wertvollen Dingen durchwühlen, in den Lüftungsschächten eines Rohbaus „Belästigungen 23/2016: Ein (vor)letztes Wort zu großen und noch größeren Übeln, denen man am besten die Zunge rausstreckt“ weiterlesen

Belästigungen 22/2016: Von Götterbäumen, grünen Enten, furzenden Nashörnern (und dem Satan tief im Osten)

In meiner späten Kindheit bestand eine unserer Hauptbeschäftigungen darin, auf den Rücksitzen von Autos zu lümmeln und uns gegenseitig in den Oberarm zu zwicken, sobald wir eine grüne Ente erblickten (für Spätgeborene: dabei handelt es sich nicht um einen Vogel, sondern um ein schon damals bezaubernd antiquiertes Automobil, das motortechnisch Kundige als „Schnauferl“ bezeichneten und das angeblich gelegentlich in Kurven umkippte). Dabei erfuhr ich ein seltsames Phänomen: Vor Einführung dieses Rituals wußte ich gar nicht, daß es überhaupt grüne Enten gab, und nun wimmelten sie plötzlich in ganz München herum, als hätte jemand in ein Nest gestochen.

Man hat mir erklärt, das habe mit Aufmerksamkeit zu tun: Man bemerkt manche Sachen erst, wenn man sie einmal bemerkt hat. Ähnlich ging es mir „Belästigungen 22/2016: Von Götterbäumen, grünen Enten, furzenden Nashörnern (und dem Satan tief im Osten)“ weiterlesen

Belästigungen 21/2016: Wer holt den Donald da raus, bevor es zu spät ist?

Ich kann mich an keine Sekunde in meinem ganzen Leben erinnern, in der ich Lust gehabt hätte, mich mit Donald Trump zu beschäftigen.

Was ich in meinen Jahren als Fernseh- und Zeitungskonsument ungefragt über den Kerl vorgesetzt bekam, genügte bei weitem: rassistische Tiraden, frauenfeindliches Gewäsch, zwielichtiges bis kriminelles Milliardengescheffel, kapitalistischer Größenwahn, offensiv zur Schau getragene Vollidiotie und impertinente Großmaulerei, Misswahlengeschwiemel, Verblödungs-TV, allgemein und insgesamt mangelnder Anstand, absichtlich herbeigeführte Unansehnlichkeit bei gleichzeitiger maximaler Medienpräsenz, und dann ist er auch noch Nichtraucher und trinkt keinen Alkohol. „Belästigungen 21/2016: Wer holt den Donald da raus, bevor es zu spät ist?“ weiterlesen

Belästigungen 20/2016: Von Beziehungen (ohne Sex), Nichtbeziehungen (mit Sex) und ein paar anderen „Begriffen“

Z hat mir neulich erzählt, sie führe jetzt eine „Nichtbeziehung“. Das sei zeitgemäß und trendig, außerdem habe sie sich das nicht unbedingt ausgesucht, und selbstverständlich führe sie diese Nichtbeziehung mit R, mit wem denn sonst.

Z ist seit ungefähr zehn Jahren, seit der letzten Schulklasse, mit R … nun ja, zusammen oder halt jetzt „nichtzusammen“; was sind solche Begriffe schon wert, „verheiratet“ heißt ja heute auch ganz was anderes als vor zwanzig Jahren, von „verlobt“ zu schweigen. Verlobt waren Z und R übrigens auch schon mal. Ich gestehe gerne, daß ich maßgeblich daran beteiligt war, ihnen (oder sagen wir: Z) diesen Schmarrn wieder auszureden. Eben wegen der Bedeutung der Begriffe, unter anderem. „Belästigungen 20/2016: Von Beziehungen (ohne Sex), Nichtbeziehungen (mit Sex) und ein paar anderen „Begriffen““ weiterlesen

Belästigungen 19/2016: Ein paar grundlegende Fragen (und ein Ätschibätschi) für den goldenen Restsommer

Neulich war an dieser Stelle die Rede von den Ferien und ihrer Eignung, ja geradezu Prädestination zum Lernen – wobei es eben darauf ankomme, was man lerne und daß dies im Zweifelsfall zuallererst das Naturgesetz ist, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man so weit wie nur möglich aus dem Weg gehen sollte.

Indes befürchte ich, daß vor allem ungeduldige Leser (d. h.: die jüngeren) über die Überschrift und ihre gerechte Empörung – „Bitte was? Lernen in den Ferien!? Blas mir den Schuh auf!“ – nicht hinausgekommen sind und grollend beschlossen haben, diese Seite hinkünftig zu überblättern, um nicht noch mehr solchen Schmarrn vorgesetzt zu kriegen. „Belästigungen 19/2016: Ein paar grundlegende Fragen (und ein Ätschibätschi) für den goldenen Restsommer“ weiterlesen

Belästigungen 18/2016: Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)

Wenn der goldene Frühherbst daherrauscht, zieht es Menschen wie mich aus ihrer sommerlichen Entrückung in den Gefilden von Isarufer, Seestrand und Traumlandschaft notgedrungen ein bißchen hinaus und näher an die Gemeinschaft der Menschen hinan, die sich mit anderen Dingen als Wasser, Liebe und Hirngespinsten beschäftigen. Schließlich gibt es da ja auch noch eine Wohnung, in der man den Winter über wohnen wird müssen und die man deshalb entwahrlosen sollte, indem man (wenn es regnet) endlich mal wieder Staubsauger und Waschmaschine anwirft, Geschirr spült, Berge von Altpapier und sonstigen Ansammlungen hinausschmeißt und sich zwischendurch über die bekannten Kanäle sozialer Medien mal kurz umschaut, was sich so getan hat in der müßig verkümmelten Zwischenzeit. „Belästigungen 18/2016: Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)“ weiterlesen

Belästigungen 17/2016: Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit)

In München steht ein Haufen Zeug herum, über das man viel zu selten nachdenkt. Zum Beispiel erfuhr ich heute von einer beleuchteten Werbetafel, die ich wahrscheinlich schon oft gesehen, aber noch nie wirklich bemerkt habe: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über (aufgrund von Gründen nicht genannter Name einer Internet-Datingseite)!“

Das erschien mir recht natürlich. Zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen gelingt es auch mir, mich alle elf Minuten zu verlieben. Aber das bringt halt nicht wirklich was, abgesehen von befremdeten bis empörten Blicken der Opfer solch hormoneller Überschießerei.

Aber apropos Opfer: In München steht auch ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf dem zu lesen ist, einige davon „Belästigungen 17/2016: Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit)“ weiterlesen

Belästigungen 16/2016: Was man so erlebt, wenn man nichts erlebt

Es passiert ja so viel in einer großen Stadt.
Menschen fahren sich mit Kisten über den Haufen, springen aus Fenstern, ertrinken in Flüssen und Gullis, sterben an eingeschleppten Seuchen und in Stanzmaschinen, und dazwischen saufen, tanzen und schreien sie, als wär‘ das Leben ein ewiges und irgendwann würd’s schon besser; und wenn einmal gar nichts oder wenigstens zuwenig für die allgegenwärtigen Meldestellen passiert, dann schreit die Zeitung an jeder Ecke „München brodelt!“, und schon hat sich’s wieder mit der gemütlichen Idylle.

Da läuft man auch Amok, bisweilen, in so einer Stadt. Vor nicht langer Zeit wurde ich erstaunt Zeuge, wie aus der Hauptstraße um die Ecke eine soeben hineingefahrene Trambahn rückwärts wieder herausfuhr (Trambahnen tun so etwas für gewöhnlich nicht) und daraufhin die Straße von drei Polizisten gesperrt wurde. „Belästigungen 16/2016: Was man so erlebt, wenn man nichts erlebt“ weiterlesen

Belästigungen 15/2016: Ferien sind zum Lernen da (es kommt nur darauf an, was)!

Daß der Mensch was lernen muß, hat schon meine Oma hin und wieder betont, wenn die zügellose Kinderschar lieber in einer Gebirgslandschaft aus Donald-Duck-Heften, Knabberzeugs und Blubberlutsch kampierte als sich lateinischen Vokabeln und mathematischen Formeln zu widmen. Andererseits lernt der Mensch bekanntlich gerade dann besonders gut und nachhaltig, wenn er es aus reiner Lust und Laune tut und gar nicht merkt.

So haben ganze Generationen aus der Lektüre der Entengeschichten von Carl Barks die tief im Bewußtsein verankerte Erkenntnis davongetragen, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man am besten weiträumig aus dem Weg geht, und daß einem viel Geld nur dann was nützt, wenn man Spaß daran hat, darin herumzukraulen. „Belästigungen 15/2016: Ferien sind zum Lernen da (es kommt nur darauf an, was)!“ weiterlesen

Belästigungen 14/2016: Vom Rand und seinen Bewohnern (eine sommerliche Elegie)

Was ist eigentlich mit dem Münchner Stadtrand geschehen? Früher konnte man den buchstäblich er-fahren, zumindest mit dem Radl, zumindest hier und da: Die Häuschen und Hütten wurden immer kleiner, ein letzter geduckter Schupfen, halb versunken zwischen gemütlich wucherndem Gebüsch, ein Bach in Bäumen; der Feldweg führte über eine kleine, katzenbuckelige Brücke, dann stand man auf einer scheinbar unendlichen Allee, links und rechts Wiesen, Felder, Wäldchen bis zum Horizont. Da war die Stadt aus.

Heute wuchern weiter hinten Klötze über die Baumwipfel, fondantbunt und normiert eckig. Da geht die Stadt weiter, meint man, und imaginiert, daß man ewig weiterfahren könnte und immer wieder solche Klotzhaufen auftauchen sähe. Auch Felder und Wiesen sind nicht mehr die alten, da stehen jetzt gigantische Baumaschinen, Blechhütten und wachsende Schutthügel zwischen tiefen, von der Sonne in den geschundenen Boden gebackenen Riesenreifenspuren.

L. wohnt dort draußen in einem der Klötze. Wobei „wohnen“ nicht ganz das richtige Wort ist: Sie fährt täglich abends nach der Arbeit dorthin zum Fernsehen, Essen und Schlafen, und morgens fährt sie wieder weg. Lebensmittel erhält sie in einem rechteckigen Discounter zwischen Parkbuchten, Bushaltestelle und einem gepflasterten Platz um etwas, das vielleicht Kunst sein soll und wahrscheinlich lieber ein Springbrunnen wäre; aber weil sich dort ohnehin niemand aufhält, ist das nicht so wichtig.

Der Klotz, in dem L. arbeitet, steht ebenfalls irgendwo zwischen ehemaligen Stadträndern herum; man müßte auf einer Landkarte nachschauen, ob er der eigentlichen Stadt näher oder ferner ist, aber auf dem Plan, den sich L. gekauft hat, als sie nach München gezogen ist, gibt es die Straße, in der der Klotz steht, noch nicht. Möglicherweise handelt es sich um einen der Feldwege, die zwischen den auf der Karte angedeuteten zerfransenden und wuchernden Stadträndern verlaufen. Das ist jedoch nicht mehr festzustellen; Menschen, die diese Feldwege noch gegangen oder gefahren sind, gibt es offenbar nicht mehr.

Wenn es L. dort draußen zu einsam und deprimierend wird, fährt sie in die Stadt hinein und nimmt an den Events teil, die Münchens selbsternannte Unterhaltungsbeauftragte inszenieren, um die frühere „Hauptstadt der Bewegung“ in Bewegung zu halten, damit ihre entmündigten Bewohner nicht auf abwegige Gedanken kommen. Wobei „teilnehmen“ nicht ganz das richtige Wort ist: L. bewegt sich auf ihren zarten, vom übermäßigen Gebrauch modischer Schuhe leicht entstellten Füßen unsicher zwischen Gestalten, die wie sie auf etwas warten, dabei Süßgetränke und Gewummer konsumieren und sich über Dinge unterhalten, die nicht stattfinden, dies aber könnten.

Wenn L. danach in ihren Klotz zurückgekehrt ist, fühlt sie sich wie nach dem Kotzen: erschöpft und euphorisiert zugleich, verängstigt und erleichtert. L. kotzt oft, weil sie das Zuckerzeug, den Schnaps und die Gemische aus Weißmehl und Billigfett mit Tomatenbrei nicht recht verträgt, vielleicht aber auch einfach so.

L. hat ein Geheimnis, das sie entdeckt hat, als sie einen ganzen leeren Sonntag damit verbrachte, aus dem quadratischen, toten Fenster ihrer Schlaf- und Fernsehstätte im zehnten Stock zu schauen: Nicht weit von ihrem Klotz sah sie zwischen dichten Bäumen etwas, was sie weder erklären noch zuordnen konnte. Sie zog ihre unmodischen Schuhe an, ging nachschauen und fand eine kleine Siedlung, einen Rest davon, ein paar Häuser nur, seit vielen Jahren verlassen, etwas heruntergekommen, aber nicht verloren. Menschen mit etwas Liebe und Geschick hätten sie in wenigen Wochen nicht nur bewohnbar, sondern zu einer Idylle machen können.

L. erkundete die Häuser, setzte sich vor einem davon auf eine alte Bank und stellte sich vor, dort zu leben, in einer Zeit, die es nie geben würde, aber vielleicht einmal gegeben hatte. Sie fand viele Dinge in den Häusern: Möbel, Öfen und Herde, Bilder, vergilbte Dokumente, aber keinen Fernseher. Manchmal nahm sie einen Schlafsack mit, den sie sich eigens dafür gekauft hatte, und übernachtete in einem der Häuser oder, wenn es warm genug war, auf der Bank davor.

Einmal überraschte sie in einem der Gärten hinter und zwischen den Häusern ein Mann, der sie fragte, was sie da verloren habe. Nichts, dachte L., und alles, und sie floh, ohne etwas zu sagen. „Hallo, Sie!“ rief der Mann, aber L. wandte sich nicht um. Danach wagte sie sich nicht mehr in die Siedlung.

„Du hättest mit ihm reden sollen“, sage ich. „Vielleicht hätte er dir das Haus geschenkt.“

„So etwas tun die Leute nicht“, sagt L., und da hat sie wohl recht, obwohl es im Grunde denkbar wäre, daß Menschen Dinge verschenken, mit denen sie nichts anfangen können und andere schon. Daß es die verfallende Siedlung noch lange gibt, ist hingegen unwahrscheinlich. Stadtplaner und Architekturfaschisten lauern auf solche Überbleibsel, weil sie weder Liebe noch Geschick, aber Visionen haben.

An einem leidlich sonnigen Frühlingstag haben wir einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Nicht durch die Stadt der „Events“, sondern durch die stillen, verzauberten und geheimnisvollen Nischen, Ecken und, ja: Ränder dazwischen, wo der Staub vieler ungelebter und gelebter Leben zwischen die Steine sinkt und anderswo verbotene Grashalme nährt. Als wir im Sonnenuntergang in einem zwischen verwilderten Schrebergärten verborgenen Biergarten saßen, der weitgehend stummen und ansonsten vollkommen unsinnigen Konversation der Gartler lauschten und den in uns hineingeflossenen Tag wieder herausfließen ließen, wollte L. tanzen und singen vor Freude, weil sie nun doch noch die Stadt gefunden hatte, in die sie vor drei Jahren angeblich gezogen war.

Nächsten Monat muß L. in die Nähe von Dortmund ziehen. Ihre Firma braucht sie dort, sagt sie, und: „In München braucht mich niemand.“ Ich könnte sagen, das sei nicht wahr, denke ich, aber ich möchte L. nicht belasten, und dann denke ich: Vielleicht gibt es in der Nähe von Dortmund ein zehntes Stockwerk, wo sie an einem langen, leeren Sonntag aus dem quadratischen Fenster schauen und etwas finden kann. Obwohl ich ihr diesen Tag nicht wünsche, denke ich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.