Belästigungen 18/2016: Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)

Wenn der goldene Frühherbst daherrauscht, zieht es Menschen wie mich aus ihrer sommerlichen Entrückung in den Gefilden von Isarufer, Seestrand und Traumlandschaft notgedrungen ein bißchen hinaus und näher an die Gemeinschaft der Menschen hinan, die sich mit anderen Dingen als Wasser, Liebe und Hirngespinsten beschäftigen. Schließlich gibt es da ja auch noch eine Wohnung, in der man den Winter über wohnen wird müssen und die man deshalb entwahrlosen sollte, indem man (wenn es regnet) endlich mal wieder Staubsauger und Waschmaschine anwirft, Geschirr spült, Berge von Altpapier und sonstigen Ansammlungen hinausschmeißt und sich zwischendurch über die bekannten Kanäle sozialer Medien mal kurz umschaut, was sich so getan hat in der müßig verkümmelten Zwischenzeit.

Da gäbe es schließlich einiges zu diskutieren: Krieg, Zerstörung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Kapitalismus, Hunger, Bomben, Nazis und notfalls ein paar vom ältesten Sommerwahn der Welt befallene Politkasperl, die zum hunderttausendsten Mal Steuersenkungen für die Reichen „ins Spiel bringen“, weil die Armen so was pfundig finden und sie dann wählen.

Aber lustig: Was die „öffentliche Meinung“ derzeit umtreibt, ist nichts davon, sondern so gut wie ausschließlich ein Thema – was muslimische Frauen am Badestrand (und im Grunde überhaupt) anziehen sollen und dürfen oder eben nicht dürfen. Jedenfalls, so lautet offenbar der Tenor, darf es nicht dieses Ding sein, von dem niemand so genau weiß, ob es Burka, Tschador, Niqab oder sonst wie heißt. Und zwar, so hört man, weil damit der Frau ihre Individualität genommen werde.

Klingt erst mal irgendwie plausibel. Daß böse alte Männer Frauen zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, war uns noch nie sympathisch, schon damals nicht, als böse alte Männer hierzulande unter dem Eindruck von Sexwelle, Minirock und Bikini ebenfalls Frauen in Stoff einwickeln wollten. Allerdings ging es damals nicht so sehr um Individualität, und damals wie heute bin ich mir nicht so sicher, ob hinter der Einwicklerei wirklich (nur) Männer stecken: Die schauen sich im Normalfall ganz gerne mal eine hübsche Frau an, am liebsten leicht oder gar nicht bekleidet. Aber egal.

Noch unsympathischer ist andererseits, wenn böse alte Männer böse alte Männer zwingen wollen, ihre Frauen nicht zu zwingen, sich in Stoff einzuwickeln, und zu diesem Zweck die Frauen zwingen, sich auszuwickeln. Und sowieso ist das mit dem Auswickeln auch nicht ganz so leicht, schließlich gibt es da noch ein durch Gewohnheit entstandenes Schamgefühl, und wenn die bösen alten Männer das mal spüren möchten, sollen sie gerne am Samstagnachmittag nackt durch die Fußgängerzone spazieren und dann noch mal drüber nachdenken. Aber auch egal.

Interessant finde ich vielmehr, wer sich da alles zusammenfindet, um das Einwickeln zu verbieten. Nämlich sind das sowohl die Leute, die damals jeden Nacktbader zwangsweise einwickeln wollten, als auch die, die eingewickelt werden sollten. Individualität, da sind sich plötzlich alle einig, ist das höchste Menschenrecht und muß notfalls auch gegen den Willen der Rechteinhaberin durchgesetzt werden – schließlich will die ja nur deswegen nicht individuell sein, weil sie aufgrund von Gehirnwäsche und Zwangserziehung noch nicht weiß, wie toll das ist.

Und das ist es in der Tat! Deswegen kommt ja auch niemand auf die Idee, sich wie die buddhistischen Mönche (die damit irrerweise ihre Individualität auszulöschen trachten, weil sie glauben, daß es eine solche gar nicht gibt!) den Kopf zur Einheitsnichtfrisur zu rasieren oder modeweise mit einem genormten Pudel am Unterkopf oder einem tätowierten Arschgeweih herumzulaufen. Deshalb ließe sich ein deutscher Individualmensch niemals zwingen, aus religiösen, moralischen oder sonstigen Vorwänden seine Individualität abzulegen und sich in Mönchskutte, Nonnengewand, Wiesntracht oder Fußballfan-Stadionwäsche wickeln zu lassen. Und schon gar nicht würde er je die entwürdigende Kasperluniform von Fastfood-, Supermarkt- und Baumarktketten anziehen oder zulassen, daß jemand anderer gezwungen wird, das zu tun, oder sich zum Fasching mit einem der sieben Normkostüme samt Gesichtsvermummung maskieren.

Daß vermummte Gesichter eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlen können, ist bekannt. Wem angesichts der gepanzerten Kampfroboter, die uns heutzutage bei Demonstrationen und Fußballspielen als „Freund und Helfer“ entgegentreten, nicht mulmig wird, der hält wahrscheinlich faschistische Stoßtrupps für fröhliche Kirmesbrüder. Andererseits ist die Trägerin eines salafistisch korrekten Badeanzugs in den allermeisten Fällen nicht bewaffnet und sichtlich nicht darauf aus, irgendwen niederzuknüppeln oder anzuzünden.

Und seltsam ist zudem, daß die Forderung, der Mensch möge gefälligst sein Gesicht herzeigen, damit man sieht, was er im Schilde führt, auch von denen vertreten wird, die vor nicht allzu langer Zeit selber noch gar nicht so gern an jeder Ecke in eine Überwachungskamera glotzen wollten und sich bisweilen sogar unwohl fühlen, weil die NSA ihre Schuhgröße und der BND ihre Pornosammlung auf der Festplatte kennt.

Man sehe mir meine Verstocktheit nach; als Angehöriger der ersten (noch nicht genormten) Punkrockgeneration weiß ich sehr gut, daß Individualität etwas Schönes ist, jedweder Zwang zum Ein- und Auswickeln hingegen nicht. Es könnte aber auch sein, daß wir über die vermeintliche „Individualität“ nur deswegen so viel schwätzen, weil dahinter ein viel größeres Problem oder ein ganzes Gebirge von Problemen lauert, über das wir nicht reden und am besten nicht mal nachdenken sollen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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