Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück

Das Wort „Single“ gab es schon, als ich ein Kind war und ansonsten kaum Anglizismen im Alltagssprech herumschwirrten. Damals bezeichnete es kleine, grellbunt verpackte Vinylscheiben, Zauberwerke der Popkultur, die alle paar Wochen einen neuen Wahnsinnshit meiner Glamrock-Helden Slade, T. Rex, Bowie, Sweet, Roxy und Alice Cooper ins Haus dröhnten und den Aspirinkonsum unter Eltern ankurbelten. Ein paar Jahre später, als die Springerpresse den Deutschen endlich ihr Solidaritätsgedusel ausgetrieben und die Lambsdorf-Kamarilla den Wirtschaftsfaschismus als neue Staats- und Gesellschaftsraison durchgepeitscht hatte, war „Single“ keine Platte mehr, sondern ein Mensch, der sich aus freien Stücken entschlossen haben wollte, ohne lästige Anhängsel wie Ehepartner und Bamsenbagage durch ein Leben der sensationellen Berufserfolge und Freizeitbelustigungen zu flanieren – ein Heros der neoliberalen Ära, frei und selbstbestimmt im globalen Supermarkt der Achtziger. „Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück“ weiterlesen

Belästigungen #414: „Terror“! „Terror“! (und Nasenhaare für die NSA)

Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden einst zu ehrenwerten Zwecken gegründet – „pursuit of happiness“ bla; zudem postuliert die Unabhängigkeitserklärung ein „Recht auf Revolution“, womit was ganz anderes gemeint ist als das Geplärr, mit dem zerzauste Punkhippies heutzutage ihre Biertischbewunderer beeindrucken möchten.

Lange her. Heute sind die USA eine gigantische Maschinerie zur Verhinderung von „Terror“, worunter sämtliche Versuche zu verstehen sind, dem Anschwellen der gesellschaftlichen Aknepickel, in denen sich Blut, Schweiß und Tränen von Milliarden Ausgebeuteten als geldiger Talg sammeln, Hemmnisse in den Weg zu räumen. Zu diesem Zweck ist der Riesenapparat Tag und Nacht damit beschäftigt, „Daten“ zu sammeln und alles zu überwachen, was auf Erden an Menschlichem kreucht, fleucht, schnauft, kauft, rauft, rudert, pudert, ömmelt und bömmelt. „Belästigungen #414: „Terror“! „Terror“! (und Nasenhaare für die NSA)“ weiterlesen

Belästigungen #413: We will burn it and dance in the smoke (ein Sommeridyll)

Am heißesten Tag des Jahres, dem 19. Juni 2013, sitze ich in der Abenddämmerung bei 34 Grad mit lieben Menschen am nördlichen Rand der Münchner Stadt um eine Feuerstelle, die niemand entzünden will, weil es dafür viel zu heiß ist. Am Horizont schmilzt die Sonne wie eine Kugel Vanilleeis in grell orangeroter Rhabarber-Pfirsichsauce.

Unser Gespräch dreht sich im wesentlichen um Pläne für den Sommer: noch mehr lustige, spannende, schöne, hin-, mit- und umreißende Sachen erleben, Bier trinken, Sex haben, Drogen nehmen, geile Musik hören, in kristallperlenden Seen und Flüssen schwimmen, den blauen Himmel überstrahlen und in Gewitterschauern nackt auf der Straße tanzen.

„Ab morgen“, sagt J, dreht ihre Flasche um und läßt den Rest Bier bedeutungsvoll in einem Ameisenloch versickern, „ab morgen werden die Tage wieder kürzer.“ „Belästigungen #413: We will burn it and dance in the smoke (ein Sommeridyll)“ weiterlesen

Belästigungen #412: Vermischte Neuigkeiten zum Dilemma der Körperöffnungen

Daß der menschliche Körper Öffnungen hat, ist an sich eine segensreiche Fügung, das muß man nicht extra betonen: es wäre ein Elend, wenn eine ganze Biergartenbesatzung hungertriefend und durstzerknittert vor Schenke und Auslage stünde und die Schweinshaxen nicht mal riechen könnte, geschweige denn hinunterspülen, weil sich die Evolution den Jux gemacht hätte, Nase, Mund und Restkörper als in sich geschlossenes System zu konzipieren.

Indes will es gelernt sein, mit der Semipermeabilität des eigenen Echtwelt-Avatars umzugehen. Das klassische Beispiel für sozusagen intuitive Souveränität wäre die legendäre Zeitungsmeldung, derzufolge ein blinder Inder (der vielleicht ein Chinese oder Alabamer war, aus poetischen Gründen aber ein Inder sein sollte) sich einst in den Kopf schoß, um seiner elenden Existenz ein Ende mit Hoffnung auf Wiedergeburt als Pandabär oder Milliardär zu bereiten. Leider oder zum Glück führte der Schuß nicht zum Exitus, sondern quasi eine hirnchirurgische Operation durch: Nach kurzer Bewußtlosigkeit erwachte der vormals blinde Suizidant, konnte plötzlich sehen und wurde vollends irrsinnig angesichts einer Welt, die seine schlimmsten Vorstellungen exponentiell übertraf. „Belästigungen #412: Vermischte Neuigkeiten zum Dilemma der Körperöffnungen“ weiterlesen

Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen

Eine Freundin, der ich neulich einen großen Berg der hier veröffentlichten Kolumnen übergab, damit sie sie vor der Neuauflage als Sammelbuch auf Relevanz und Zumutbarkeit prüfe, meinte hinterher, ich sei ja ein ganz schöner Choleriker, wenn ich mich immer so aufrege, und so kenne sie mich gar nicht.

Das, meinte ich, mich höchstens milde aufregend, könne überhaupt nicht sein, schließlich werde der Choleriker im allgemeinen als willensstark und entschlossen beschrieben – vgl. etwa einen durchschnittlichen BWL-Börsennazi –, was auf mich nur in den seltensten Fällen halbwegs zutreffe. Dann, sagte sie nach einigem Wälzen im inneren Lexikon der Küchenpsychologie, handle es sich wohl um hyperaktive Melancholie mit einem Zug ins Depressive; andererseits kenne sie mich auch als notorisch exzessiven Sanguiniker an der Grenze zum pathologisch-hysterischem Übermut mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und mein Phlegma sei durch den Zustand meines Schreibtischs und den mangelnden Schnitt meiner Rosenstöcke und Obstbäume ausreichend belegt. „Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen“ weiterlesen

Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?

Tolle Frage: Da steht der 14jährige, sprachlos, weil er gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Aber das Problem ist bekannt: Wer als Bams zum ersten Mal in einen Kaugummi beißt, hat für den plötzlich aufquellenden Süßrausch aus Aromasensationen zum Vergleich nur Milch, Brei, vielleicht noch Breze und schlimmstenfalls Gelbwurst. Da ringelt er sich vor Entzücken und manscht in dem zähen Kautschukknödel herum, nicht achtend der Welt, die sich recht übersichtlich gestaltet: hier Mama, da Papa, dort ein undurchsichtiges Wallen, aus dem bisweilen ein Phänomen hervorspitzt, das man sich in den Mund schieben und feststellen kann, daß es meistens nicht schmeckt (Regenwurm, Batterie, Badeente, Gelbwurst).

Wer sich den tausendsten Kaugummi in den Mund schiebt, tut das aus anderen Gründen. Weil er sich gerade einen Döner hineingepreßt hat und in zehn Minuten im großen Meeting mit seiner World-Advance-Strategy überzeugen oder andernfalls Hartz IV beantragen muß. Weil die angeheiratete Immobilienbesitzerstochter die der zeitweise aufgehobenen Sinnlosigkeit des Rödelns entsprungene Mittagsbierfahne nicht bemerken soll. „Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?“ weiterlesen

Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?

Moralapostel mag niemand gerne (und keine Angst, ich werde in den folgenden Zeilen ganz bestimmt keinen solchen geben). Denen ruft man ein gehässiges „Mäh! Mäh! Mäh!“ entgegen und schaut vergnügt zu, wie sie geteert und gefedert auf einer Eisenbahnschiene aus dem Dorf getragen werden. Mit einer Ausnahme: Wenn die Zeigefingerburschen einer Gesellschaftsschicht, oder sagen wir ruhig: Klasse entstammen, die man von Haus aus für eine schmierig schillernde Bande von Schwerverbrechern hält und für ihre maßlose Gier, Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit insgeheim bewundert („Hund’ sans scho!“), dann zieht man den Hut, wenn sie mal was annähernd Vernünftiges sagen.

So brachte es der Wurstfabrikant, Börsenspekulant und Vereinspräsident Ulrich Hoeneß zu einigem Ansehen, weil er neben einem Haufen Blödsinn immer mal wieder Sachen sagte, von denen wir alle wissen, daß sie richtig sind, die sich aber sonst keiner sagen traut, weil es sonst schlagartig aus ist mit der Medienkarriere und den Talkshowhonoraren. Deutsche Medien brauchen Durchhalteparolen, neoliberale Propaganda, Unterschichtbeschimpfung und Leistungsgefasel; etwas anderes wird weder gedruckt noch gesendet, und wenn doch, dann nur umgeben von solchem, das dann immer in der Mehrheit sein, hochamtlich tönen und die jeweilige Frau Wagenknecht niederbrüllen muß. „Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?“ weiterlesen

Belästigungen #408: Wer zu spät klopft, den bestraft der Müllstrudel

Der moderne Nomadenmensch wird nicht nur von den sogenannten „Arbeitgebern“ und ihren staatlichen Knechtungsknechten in der Gegend herum mobilisiert, sondern kriegt, wenn er mal einige Zeit in einem Nest sitzt und nichts besonderes zu tun hat, sofort den Rappel und will woanders hin. Weil alte Witze witziger wirken, wenn sie aus neuen Hälsen dringen, und weil heutzutage jeder unablässig auf der Suche nach einem „Selbst“ ist, das darin besteht, von anderen bespaßt zu werden, bis ihnen nichts mehr einfällt und man sie ersetzen muß.

Meistens bleibt dabei irgendwas zurück – ein Haufen Gerümpel, alte Socken und kurzzeitig verschnupfte Ex-Existenzabschnittsbespaßer, die, damit sie sich ebenfalls „neu orientieren“ können (Geschlechtsorgan ist Geschlechtsorgan, sagt der Biologe; neu ist Chance, sagt der Betriebswirt), den Krempel loswerden müssen, damit er endet, wo alles endet: im „Großen Pazifischen Müllstrudel“ oder einem seiner kleineren Gefährten. „Belästigungen #408: Wer zu spät klopft, den bestraft der Müllstrudel“ weiterlesen

Belästigungen #407: Wenn das Fragezeichen bös vibriert, gibt die Antwort die Faust

Wenn der Mensch spinnt, gibt er ein Zeichen, pflegte meine Oma zu sagen. Ich füge hinzu: Wenn es ihm das Hirn komplett verdröselt und er gar keinen Weg hinaus mehr sieht aus dem Wirr, dann gibt er ein Fragezeichen. Weil das Fragen (scheinbar) weniger peinlich ist als sich hinzustellen und zu plärren: „Kann bitte jemand die Zukunft wieder in Gang setzen, damit ich vorankomme und diese peinliche Gegenwart verlassen und vergessen kann?“ Was im Grunde auch eine Frage wäre, aber eine sogenannte rhetorische, auf die man keine Antwort, sondern ein „Handeln“ (A. Merkel) erwartet; egal, es wird sowieso nicht geäußert, eben.

Statt dessen: „Nichts wissen, aber fragen!“, wie man dem nervtötenden Zufallsgast am Tresen zu attestieren pflegt, wenn er nicht mehr aufhört, das gesamte „Bist du öfter hier?“-Repertoire herunterzukurbeln und zwischendurch ein paar Deklarationen aus dem „Nämlich!“-Genre hineinzuwürzen. „Belästigungen #407: Wenn das Fragezeichen bös vibriert, gibt die Antwort die Faust“ weiterlesen

Belästigungen #406: Holdrio, wer rettet die Welt? (eher der Nichtstuer als der Held)

Ich solle, sagte mir ein aufmerksamer Leser, nicht mit Marginalien meine Zeit verschwenden, sondern mich den Dingen widmen, die wirklich zählen. Gemeint war nicht der zählende Papagei aus einer meiner liebsten Donald-Duck-Geschichten (die ist wahrscheinlich eine Marginalie), sondern das, was von „Bildzeitung“ und taz gerne zu „Helden“ ausgerufene Menschen hauptberufungsmäßig tun: die Welt retten!

Oho. Da stellen sich ein paar Fragen. Wenn 99% der Menschheit hauptberuflich damit beschäftigt sind, die Welt so schnell wie möglich zu zerstören, ist es dann vernünftig, von der Menschheit zu erwarten, daß sie die Welt rettet? Auf mich wirkt das so, wie wenn jemand in eine Hühnerbraterei hineinstürmt, sich ein Hendl einpacken läßt, mit dem Taxi in die Tierklinik fährt und dort einen idealistischen Veterinär sucht, der das Tier heilt. Zweitens: Wenn die Menschheit alles daran setzt, die Welt zu zerstören, wer wäre dann für jemanden, der die Welt retten möchte, der logische Hauptgegner? „Belästigungen #406: Holdrio, wer rettet die Welt? (eher der Nichtstuer als der Held)“ weiterlesen

Belästigungen #405: Hilfe, ich habe einen digitalen Kinderwunsch!

Eine Bekannte von mir erlebte erstaunliche Abenteuer mit Internet-Dating-Seiten. Jedes Wochenende traf ein mittelalter Bursche mit Koffer oder Tasche bei ihr ein, aus Dinslaken, Grevenbroich, Visselhövede oder Stuttgart. Mit dem ging sie essen, in Konzerte und Museen und lotete zwischendurch die Möglichkeiten einer Lebenspartnerschaft aus. Zwei von den Burschen kamen mehrmals. Bei dem einen stellte sich heraus, daß er bereits verheiratet war: Seine Frau rief die Bekannte an, ob sie die Kinder am Hauptbahnhof abholen wolle. Der zweite kam eines Tages nicht, weil er wegen Kreditbetrug inhaftiert worden war. Die optimistische Freundin konnte das nicht verdrießen; sie präsentierte mir auf ihrem Laptopbildschirm freudig immer neue Optionen: Männer mit Haarausfall in unterschiedlichen Stadien und Gesichtern, die bei Ikea als Eierbecher erhältlich sind. Egal, sagte sie, sie habe nun mal einen Kinderwunsch, und ein solcher Eierbechermann laufe ihr wenigstens nicht bei der nächsten Gelegenheit davon. „Belästigungen #405: Hilfe, ich habe einen digitalen Kinderwunsch!“ weiterlesen