Man hat ja leider immer was zu tun. Gerade im Winter, wo man beste Gelegenheit und nachgerade Lust hätte, mal so richtig ausgedehnt und -giebig überhaupt gar nichts zu tun als tagsüber im Bett herumzugammeln, Himmel und Bücherwand zu betrachten, sich abends in die Kneipe und morgens wieder ins Bett zu schleppen, – gerade zu dieser wundervollen Jahreszeit kommen die Leute daher und wollen, daß man Termine einhält, Schrift liefert, Sinn stiftet, Erklärungen bietet, zu Handlungen aufruft, Erinnerungen beschwört, Lächeln und Lachen aus Modernweltmasken lockt, insgesamt: Texte vorträgt, zu diesem Behuf in Eisenbahnen steigt, die seit langem zu Plastikbahnen umgebaut und folglich vollkommen unbewohn-, ja: -belebbar sind und daher ausschließlich mit Leblosen besetzt und von diesen bewimmelt sind und werden, deren leere Augen eine Weltsicht formen, indem ihr Blick an Kilometern und Aberkilometern von grauen Lärmschutzwänden entlangschleift.
Unterwegs rasseln Bing! Bing! Bing! die Elektrobriefe ins Telephon, randvoll mit Fragen: ob man nicht noch schnell „zwischendurch“, aber bitte dringendst „zeitnah“ diversen „Buch“-Produkten und/oder solchem Zeugs wie (zufälliges Beispiel) einer „Antilopen Gang“ (die Lupe darf in der Schublade bleiben: Da steht auch beim dritten Versuch kein Bindestrich) ein paar kritisch reflektierende Zeilen reinwürgen möchte, weshalb man eine Stunde damit zubringt, sich den gestreamten Rapsrappelmist peripher anzuhören, unter Aufwendung hirnlicher Muskelarbeit in der Gedanken-Cloud zusammenformuliert festzustellen, daß das Rapsrappelmist ist und sein muß, schon weil es aus dem verläßlichen Misthaus Tote Hosen kommt, das Ganze dann aber doch nicht aufzuschreiben, weil man sich nicht überwinden kann, womit die ganze Stunde zum Fenster hinaus in die Ewigkeit der Sinnlosigkeit geschmissen ist und man die nächste, ähnlich zweckfreie Beschäftigung angeht. Ach, es ist schlimm.
Dabei wäre doch oder ist im Winter das einzige, was der Mensch tun soll und darf: sich und sein Sein und Sinnen dem Himmel anzugleichen, der in einem endlos leeren Weißgrau vor sich hin himmelt und die Leuchtstoffröhren, die sich vergeblich mühen, es ihm gleich- oder wenigstens ähnlichzutun, vom ortlos weiten Obenüberall aus milde anzu-sozusagen-himmelt. Man säße also idealerweise in braun-gelb-gescheckten, dunkel beeckten Innenräumen wie der Leipziger Gosenschenke „Ohne Bedenken“ weniger herum als – eben – drinnen, tränke hin und wieder einen Schluck, ließe das belanglose Getröpel um Fremdtische herum plätschernder träger „Gespräche“, in denen es um nichts geht als um die Pausen zwischen den Lauten, ins eine Ohr hinein, beim anderen wieder hinauströpeln, kuschelte sich gemütlich „bebiert“ (F. Ani) in Laken und Kissen, um sich zu wärmen und nichts als diese Wärme zu empfinden. Und zwar monatelang, bis im Märzen Freundin Sonne das vereiste Universum zum Schmelzen brächte und lächelnde Rotlippen und Strahlaugen das ewig wiederkehrende Verheißungstheater einleiteten, das zuverlässig in Enttäuschung und Depression nicht endet, sondern zerläuft und zerbröselt, bis man endlich im Oktober das glühende Herz wieder löschte und verschlösse und alles von Neuem begänne.
Statt dessen: wringt man sich derartige Satzungetüme aus dem unterbiertrüben, zwischendurch vom frisch angezapften Freudenecker Fischerbräu zu sprotzigem Zwischengas angekurbelten Vormittagsresthirn, bloß weil einem mal wieder so ein Buch, in das die Nase nicht zu stecken man gleichfalls mal wieder nicht rechtzeitig sich befehlen hat können, eine „Anregung“ hineingepflanzt hat. Da reicht ja manchmal ein Satz, eine Mitteilung (die es übrigens längst vor der neuzeitlichen „Teilung“ auf Facebook gab, die aber auch nichts recht viel anderes war): „Der Verein zur Abschaffung der Übel der Welt ist gemeinnützig und setzt sich für die Ausrottung der Eselsgrippe, des Warmbiers, des Liebeskummers, von Sat 1 und Springer, von Magenweh und Mist, von Banken, Quatschberufen und kapitalistischem Bestreben ein.“ Diesen (Satz) findet man beim müßigen Blättern im gemeinsamen Büchlein der Freunde Roth und Metulczki, in einem dieser insolventen Depperlverlage erschienen und trotzdem im Grunde eine Freude, wäre nicht Winter, wo es keine Freuden braucht, weil die die Ruhe stören.
Andererseits ist doch gerade das ein Schönes: daß man nun, wo der durch diesen Satz und die Betrachtung der gülden-hölzern strahlenden „Trinkgedächtnisse“ von Meister Metulczki aufgewallte Dampf in Zeilenmaß geschüttet und das Hirn wieder leer ist, sich sozusagen unfalls und ohne Bedenken dem Freudenecker hingeben, zwischen Laken und Kissen verkuscheln und ausgedehnt und ausgiebig überhaupt gar nichts tun kann und darf. Weil: wenn die Elektropost daherbingt und dringende Ablieferung des seitenfüllenden Buchstabengewirrs verlangt, man ja ausnahmsweise ein solches quasi schon vorrätig hat, ohne Not geboren, ohne Drang geerntet und ohne Zutun abgehangen. Muß man nur noch servieren.
Und schon: hat man nichts zu tun, eine zeitlose Zeit nicht ent-, sondern einfach nur: lang. Da möchte man sich direkt und regelrecht auf den März freuen, der im klimaverwandelten Dezember immer mal wieder frech dahergrinst, und ihn schneller herbeiwünschen, aber ach: Eitelkeit menschlichen Wollens, vade retro und entfleuche!
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.