Belästigungen 17/2016: Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit)

In München steht ein Haufen Zeug herum, über das man viel zu selten nachdenkt. Zum Beispiel erfuhr ich heute von einer beleuchteten Werbetafel, die ich wahrscheinlich schon oft gesehen, aber noch nie wirklich bemerkt habe: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über (aufgrund von Gründen nicht genannter Name einer Internet-Datingseite)!“

Das erschien mir recht natürlich. Zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen gelingt es auch mir, mich alle elf Minuten zu verlieben. Aber das bringt halt nicht wirklich was, abgesehen von befremdeten bis empörten Blicken der Opfer solch hormoneller Überschießerei.

Aber apropos Opfer: In München steht auch ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf dem zu lesen ist, einige davon habe man zu jenen Zeiten „verfolgt wegen ihrer Behinderung“. Ein alter, leider verstorbener Freund, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war und sich deshalb selbst als „Krüppel“ bezeichnete (was er heute wahrscheinlich nicht mehr so ohne weiteres dürfte), kam sommers fast täglich auf dem Weg von seiner Wohnung zum Biergarten an diesem Denkmal vorbei und fühlte sich betroffen: „Was für ein Schmarrn!“ pflegte er nach der dritten Maß zu schimpfen. „Seit wann hätten die Nazis Krüppel verfolgt? Die haben sie systematisch vernichtet!“

Was, wenn man mal drüber nachdenkt, tatsächlich ein Unterschied ist. Man könnte darüber streiten, ob die damalige Belegschaft der Deutschland AG nicht auch die Millionen von Menschen, die aus rassistischen Motiven „verfolgt“ wurden, eher systematisch vernichtet als verfolgt hat, aber in diesem Fall ist die Sache ziemlich eindeutig: Man mußte Krüppel nicht verfolgen – man wußte, wo sie wohnen und was ihnen fehlt, und konnte sie einfach abholen.

„Verfolgt“ werden Krüppel heute nicht mehr, vernichten (zumindest systematisch) will sie Gott sei Dank ebenfalls kaum noch jemand; statt dessen bemühte man sich jahrzehntelang nach Kräften, sie zu „integrieren“. Das tat man auch mit anderen Menschen: Flüchtlinge, Ausländer, vom Unglück in dieser oder jener Weise Getroffene, Frauen, Kinder, Straftäter, sexuell oder sonstwie eigentümlich Fühlende, Denkende, Lebende, Drogenkonsumenten, Arbeitslose, Ostdeutsche, Obdachlose, jugendliche Rabauken, Landbewohner, Stadtstreicher – allesamt sollten sie „integriert“ werden.

Mittlerweile hat sich die Sprachregelung der neoliberalen „Eigeninitiative!“-Ideologie angepaßt, derzufolge „man“ niemanden „integrieren“ soll, sondern gefälligst der sich selbst. Drum soll jetzt also das ganze bunte Volk, das da kreucht und fleucht und seine eigentümlichen Ausrichtungen pflegt, sich einzeln und so schnell wie möglich „integrieren“ (insbesondere selbstverständlich der Migrant, schließlich kommt der auch noch von woanders her!). Und niemand denkt darüber nach, in was die sich denn eigentlich hineinintegrieren sollen.

In die „Gesellschaft“, klar. Aber was wäre das für eine Gesellschaft, der all diese Menschen angeblich nicht angehören? Man stellt sich unwillkürlich eine illustre Runde von Männern in mittlerem Alter vor, allesamt tarifgebunden berufstätig, von guter Gesundheit und durchschnittlichem Körperbau, die zuverlässig alle paar Jahre ihr Kreuzerl bei einer der vier „etablierten“ Parteien machen und am Sonntagnachmittag im Hinterzimmer eines traditionellen Vorstadtwirtshauses beisammen hocken und austüfteln, wen und wie sie am besten als nächstes zur „Integration“ auffordern und was der- oder diejenige dafür leisten muß.

Da findet man dann schon Kriterien. Zum Beispiel könnte man verlangen, daß so ein Integrierungskandidat sich zum deutschen Grundgesetz „bekennt“, gegen das die CSU dazumal im Parlamentarischen Rat stimmte, das der bayerische Landtag auf Vorschlag der Staatsregierung mehrheitlich ablehnte, das allein seit 1993 etwa dreißigmal geändert wurde und das kaum ein betroffener oder nicht betroffener Staatsbürger je gelesen hat (wie wär’s zum Beispiel mal mit der Frage, wer eigentlich „die Regierung“ ist und wer sie wählt?). Man könnte andererseits fordern, daß sich der Integrationswillige „in Deutschland zuhause“ fühlt. Dieses Kriterium betont die Organisation „Wissenschaft im Dialog (die Initiative der deutschen Wissenschaft)“, ohne zu fragen, wie „zuhause“ man sich wohl als Angehöriger irgendeiner prekären oder gefährdeten Minder- oder Mehrheit oder überhaupt als normaler Mensch zum Beispiel in einer ostdeutschen Nazigemeinde oder meinetwegen in Wuppertal fühlen kann.

Oder man nimmt die deutsche Sprache. Wer sich integrieren wolle, solle die gefälligst beherrschen, heißt es. So wie der Deutsche, der hat die schließlich auch gelernt, gelt, auch wenn er als Wissenschaftler nicht weiß, daß es das Wort „zuhause“ im Deutschen gar nicht gibt, auch wenn er als (zum Beispiel) oberbayerischer Integrierter in einer Kölner Bierwirtschaft ziemlich sprach-, verständnis- und fassungslos inmitten einer johlenden Masse offenbar irgendwie anderweitig Integrierter herumsteht und nicht weiß, was er soll. Ach ja, es gibt noch andere Kriterien: etwa arbeiten, das heißt zu einem Hungerlohn sich ausbeuten lassen, was der integrierte Deutsche total gerne täte, wenn er es mangels „Platz“ nicht darf, während bei jenen, die es dürfen, das Jammern, Stöhnen und Schimpfen naturgemäß überwiegt. Und: Man darf kein Kopftuch tragen, finden 38 Prozent der Integrierten. Adieu, süddeutsche Bäuerinnen!

Man könnte nun einwenden, es sei doch immerhin vor gar nicht langer Zeit einem deutschen Kaiser und seinen Beamten gelungen, diese groteske Mischpoke von schillernden, einander im Grundsatz fremden bis feindlichen Minderheiten, Stämmen und Individualidioterien zu einem Gesamtdeutschland zusammenzuintegrieren, das bald darauf imstande war, zwei richtig fette Kriege anzuzetteln und halb Europa auszurotten. Ja, freilich, aber selbst zu dieser enormen Kulturleistung wäre es nie gekommen, wenn man es der wimmelnden Masse von verbohrten Einzelholzköpfen und renitenten Kollektiven überlassen hätte, sich selbst in etwas hineinzuintegrieren, was es angeblich vorher schon gab.

Vielleicht wäre es am gescheitesten, beleuchtete Werbetafeln aufzustellen mit der Aufschrift: „Alle elf Minuten integriert sich jemand in die deutsche Normalgesellschaft!“ Und dem Zusatz: „Aber das bringt halt nicht wirklich was.“ (Und als Nachgedanke sei mangels Platz einfach mal so gefragt, wieso eigentlich niemand von den Nazis verlangt, sich zu integrieren.)

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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