Belästigungen 1/2017: Vom Plastikmeer zur Plastikstadt (Plädoyer für ein Jahr ohne Ideen)

Wenn ein beliebiges Lebewesen – sagen wir: eine Katze, ein Fink oder eine Weinrebe – zwischendurch mal nichts zu tun hat, tut es das, was ihm als Wesen naturgemäß zukommt: Es west. Das heißt: Es sitzt oder liegt oder steht oder hängt müßig herum, kontempliert mit einem wohligen inneren Brummen das Gewese außenrum, als dessen Teil es sich weiß, und genießt den meditativen Zustand des Aufgelöstseins in einer Welt, in der sich alles irgendwie fügt, bis sie eines Tages zu Ende geht.

Anders der Mensch: Der kriegt dann Ideen, weil ihm das selbsttätige Fügen nicht so recht behagt und er ständig meint, irgendwas verbessern zu müssen, was hinterher im Normalfall schlimmer ist als zuvor. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser seltsame Instinkt von der Konstruktion einer strahlenden Science-fiction-Zukunft zunehmend auf ein Gebiet verlagert, auf dem es nicht ganz so utopisch zugeht wie bei Perry Rhodan: Es geht dem Menschen nun bloß noch darum, möglichst viel von dem zu retten, was er mit seinen Zukunftskonstruktionen früherer Jahrhunderte (und insbesondere der letzten zwei) weitestgehend kaputtgemacht hat.

Ein ganz zufälliges Beispiel ist die Plastikindustrie. Die nehmen wir Unbeteiligten für gewöhnlich als grau-monströsen Moloch wahr, dessen Ziel und selbstgewählte Aufgabe es ist, Megatonnen von ihrem giftigen, häßlichen, unverdaulichen Zeug in die Welt hineinzupumpen, damit diese daran zugrundegehe. Früher sah man das anders: Da empfand man den Dauerhagel von Plastik, mit dem Holz, Metall, Stoff und andere Werkstoffe ersetzt und zugleich tausend neue Verwendungszwecke erfunden wurden, als epochalen Segen und Fanfare zum Aufbruch in ein neues, glückliches Zeitalter.

Es ist ja auch ein schöner Gedanke, daß man keine Bäume mehr fällen, Minen ausbeuten, Felder bestellen und sonst was muß, weil man deren Erzeugnisse wesentlich billiger aus Plastik herstellen kann, was auch noch den Vorteil hatte, daß Plastik nicht so schnell kaputtgeht. Keine bröseligen Einkaufskörbe aus Weidengeflecht mehr, die im ungünstigsten Moment zu einem Haufen nutzloser Spreißeln zerfallen! jubelte man und versprach, als plötzlich der Naturschutzgedanke aufblühte, glühenden Herzens, die innovative Plastiktüte mindestens zwanzigmal zu verwenden und anschließend einer geregelten Entsorgung zuzuführen.

Dummerweise kam irgendwann jemand auf die Idee, mal ein bisserl über dem Meer herumzufliegen, und entdeckte dabei das possierliche Schauspiel eines bunt schillernden Konfettistrudels von Plastikmüllteilchen, doppelt so groß wie die Landfläche der USA. Da machte es puff!, und die Idee einer „geregelten Entsorgung“ löste sich so ruckzuck und effektiv in ein Rauchwölkchen auf wie die Phantasiewelt am Ende der Enterprise-Folge „Das Spukschloß im Weltall“.

Danach öffnete der Mensch erst mal seine Augen und stellte fest: Es gibt kein Gewässer und schon gar kein Ufer, keine Küste, keine Insel auf Erden, das oder die nicht komplett vollgemüllt wäre mit Plastikstücken und -teilchen, ganz zu schweigen vom Grund von Ozeanen und Seen. Man schätzte den marinen Erfolg der jahrzehntelangen Plastikproduktion unterschiedlich ein: fünf Tüten voller Müll pro 30 cm Küste, acht Millionen Tonnen mehr pro Jahr, fünf Billionen Teilchen – wie auch immer, jedenfalls mußte jedem denkenden Lebewesen schlagartig klar sein: Da ist nichts mehr zu machen. Milliarden Tonnen Plastikmüll einzusammeln und in Container zu stopfen, ist ausgeschlossen. Da können wir nur noch augenblicklich aufhören, dieses Zeug herzustellen, und hoffen, daß der Dreck im Meer wirklich – wie die Wissenschaft verspricht – in tausend Jahren zerfallen ist. Zu was er zerfällt? Nun ja, reden wir von was anderem.

Allerdings ist die Plastikindustrie nun mal eine Industrie, und das heißt: Wenn die erst mal läuft, kann sie niemand mehr stoppen, schon gar nicht der Mensch, zumal der einen Arbeitsplatz braucht, damit er … hm, nicht zur Katze oder Weinrebe degeneriert? Egal, er braucht ihn jedenfalls, und wenn die Plastikindustrie die Ozeane nicht mehr vollmüllen darf, sind Ideen gefragt!
So kam ein findiger Ideenhaber auf einen Gedanken: Schaut euch mal die Städte an! Da liegt überall tonnenweise häßliche Hundescheiße herum! Die könnten wir doch in hübsche Plastiksäckchen packen, dann sieht sie gleich viel hübscher aus!

Gesagt, getan: Seit ein paar Jahren hüllen Hundebesitzer die circa vier Millionen Tonnen Scheiße, die ihre Ersatzlebensgefährten jährlich in Deutschlands Städte wursten, zunehmend in Plastikbeutel, die es mittlerweile in allen Farben und mit Herzchenaufdruck gibt, und werfen diese ins Gebüsch, auf den Bürgersteig oder in Abfallkübel. Dann kommen die Krähen, reißen die vermeintlichen Geschenkpackungen auf, stellen fest, daß die enthaltenen Viktualien bereits verdaut sind, rufen „Bäh!“ und fliegen empört davon. Zurück bleibt: Scheiße, günstig verteilt zum besseren Hineinstapfen und Weiterverschmieren, und: zerfetzte Plastikbeutel, eine halbe Milliarde pro Jahr, nach zehn Jahren also etwa 15.000 Stück pro Quadratkilometer, die – das läßt sich leicht berechnen – in wenigen Jahren ganz Deutschland komplett bedecken werden.

Da wünscht man sich doch, wo gerade ein neues beginnt, mal ein Jahr ganz ohne Ideen. Ein Jahr, in dem vielleicht sogar die alten Ideen verschwinden. In dem die Menschen verwundert vor den Plastikfabriken stehen und sich fragen, wozu diese übelriechenden Anlagen gut gewesen sein mögen. In dem sie dann aber drauf pfeifen, sich zu Katze, Fink und Weinrebe gesellen und das tun, was ihnen als Wesen natürlicherweise zukommt: wesen. Und damit ganz nebenbei den Rest von dem retten, was die Zukunftsherbeiführungsideen der letzten zwei Jahrhunderte weitestgehend kaputtgemacht haben.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen