Belästigungen 16/2016: Was man so erlebt, wenn man nichts erlebt

Es passiert ja so viel in einer großen Stadt.
Menschen fahren sich mit Kisten über den Haufen, springen aus Fenstern, ertrinken in Flüssen und Gullis, sterben an eingeschleppten Seuchen und in Stanzmaschinen, und dazwischen saufen, tanzen und schreien sie, als wär‘ das Leben ein ewiges und irgendwann würd’s schon besser; und wenn einmal gar nichts oder wenigstens zuwenig für die allgegenwärtigen Meldestellen passiert, dann schreit die Zeitung an jeder Ecke „München brodelt!“, und schon hat sich’s wieder mit der gemütlichen Idylle.

Da läuft man auch Amok, bisweilen, in so einer Stadt. Vor nicht langer Zeit wurde ich erstaunt Zeuge, wie aus der Hauptstraße um die Ecke eine soeben hineingefahrene Trambahn rückwärts wieder herausfuhr (Trambahnen tun so etwas für gewöhnlich nicht) und daraufhin die Straße von drei Polizisten gesperrt wurde. Um was es da ging, durften sie nicht sagen, indes stellte sich am anderen Ende der weiträumig zu umfahrenden Sperrzone einer der dort Postierten als Beamter heraus, der mich schon mal verhaftet hatte, und der verriet mir „unter uns“, da sitze in dem grausligen Betonsilo über dem Supermarkt ein Amokläufer am Fenster und schieße in der Gegend herum.

Diese Gegend hatte damals einen gewissen Ruf. Nicht lange zuvor hatte gegenüber ein Enttäuschter die Wohnung seiner Exgeliebten und sich selbst aus einem Block förmlich herausgesprengt. Nicht zu reden vom pensionierten Hausmeister meines Nachbaranwesens, der etwas länger zuvor eine Schußwaffe aus seinem Bademantel zog und sie gegen einen verwenden wollte, der in der freizuhaltenden Einfahrt geparkt hatte, um sich Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen, und auf die Aufforderung, sich umgehendst zu entfernen, etwas patzig reagierte.

Vermutlich landeten die zwei Schießenden in der Psychiatrie; presseamtlich vermeldet wurde nur die Tat des ungeschickten Sprengmeisters, weil man damals besorgt war, keine Nachahmer auf den Plan zu rufen. Aber da gab es ja „den Terror“ noch nicht; da stritt man fröhlich über „Killerspiele“ am Computer, ohne sich auch nur darüber einig zu werden, daß ein Mensch, dem man oder der sich den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit damit vollstopft, wie man Probleme mit ballernder Gewalt aus dem Weg räumt, irgendwann anfangen könnte, Probleme mit ballernder Gewalt aus dem Weg zu räumen. Kein großes „Thema“, der FC Bayern und die Wiesn waren nachrichtenmäßig allemal verkaufsträchtiger, und wenn’s einmal ein Mord sein durfte, dann schon Promi an Halbweltsalat (Sedlmayr/Moshammer) oder richtig exotisch.

Aber jedenfalls: tut sich einiges in einer großen Stadt, da muß man an ermüdend lauen Sommertagen wie diesen mal hinaus und es abstellen, das Getue, in der Hängematte unter dem Kirschbaum zum Beispiel und abends in der Holzhütte, bei der außenrum nichts ist als Gekreuch und Gefleuch und das Rascheln der Blätter und kein menschliches Wesen und Gewese. Hie und da ein Hubschrauber, an den ist man gewöhnt, auch die paar Polizeisirenen und das Röhren der Rocker auf ihren schweren Maschinen die ferne Seestraße entlang.

Heute ist’s nicht ein Hubschrauber, sondern viele, auch Sirenen, und die Rocker schweigen; was mag da sein? fragt man sich kurz, vergißt’s gleich wieder und bemerkt’s nur nebenbei, weil die Aufmerksamkeit der seit Jahrzehnten nicht gelesenen Geschichte von Dagobert, Gundel Gaukeley und den Bombastik-Buff-Bomben gilt.

Als indes die Abenddämmerung dämmert, ruft eine gute Freundin an und ist einigermaßen aufgewühlt, weil sie, mit sozialen Medien nur halbwegs verbunden, alles mögliche trotzdem erfahren hat. Ich solle, schärft sie mir ein, auf jeden Fall in der Hütte bleiben, sonst sei ich meines Lebens nicht mehr sicher. Nämlich werde in der Stadt wild herumgeschossen, gebe es Tote und Panik im Olympiaeinkaufszentrum, auf dem Tollwood-Festival, am Stachus, Marienplatz, Isartor, eigentlich überall, man erfahre ständig neues und wisse nichts. Die Polizei rate, das Haus nicht zu verlassen, Spezialeinsatzkräfte, GSG9 und Bundeswehr seien im Einsatz, Grenztruppen und Armeen in Österreich und Tschechien alarmiert.

Unser Gespräch verläuft, im Gegensatz zu sonst, stockend, wie von Bunker zu Bunker. Sie baut auf die Notration; man weiß nicht, ob man sich wiedersieht. Dann: große Stille, zerfurcht von mehr Hubschraubern und Sirenen, als ein Himmel tragen kann, der Lärm schwappt wie ein unwirklicher Ozean heran und wieder hinweg. Kurz nach neun Uhr höre ich vom See her zwei Schüsse, denen keine weiteren folgen. Sind dort alle schon tot?

Die anfängliche, auch wegen eines noch nicht identifizierten Darmgrippeinfekts wallende Panik imaginiert eine faschistische Machtübernahme: Marodierende Horden in der ganzen Stadt, bewaffnet aus den Stay-Behind-Arsenalen von Gladio, Wehrsportgruppe Hoffmann und Konsorten, die ja überall in Bayerns Wäldern verteilt liegen und von denen immer mal wieder eines auffliegt? Aber der Realismus kehrt bald zurück: Der nächste Anrufer weiß nur noch von mehreren Männern mit Gewehren, die um das Olympiaeinkaufszentrum herum dutzende Menschen erschossen haben und auf der Flucht sind.

Und plötzlich kriegen die Hubschrauber eine andere Bedeutung, besonders wenn ihr Geknatter sich bis zur Fastnichtmehrhörbarkeit entfernt. Inzwischen ist es stockdunkel, und das heißt hier: In einem Umkreis von gut hundert Metern, die ohne Anhaltspunkt sehr weit sein können, nur noch schwarzes Dickicht und sonst nichts. Da wird es wirklich duster, zumal der inzwischen polternd rumorende Darm den tröstlichen Genuß von Bier ausschließt.
Da kann man also nur noch: warten. Und: sich vorstellen, daß.

Daß zum Beispiel aus dem Dunkel ein paar Gestalten mit Gewehren tauchen, in gespenstischer Eile durch den Garten zur Hütte, die Tür auftreten, das Fenster einschlagen … was dann?

Da stellt man sich vor, wie man zum Beispiel: den zum zersplitterten Fenster hereinragenden Gewehrlauf packt und an sich reißt und die Bande mit diesem Gleichgewicht der Kräfte zum Abzug zwingt. Wie man sie zur Vermeidung einer Eskalation hereinbittet und bewirtet, servil schwitzend und schlotternd, bis sie sich im Morgengrauen wieder davonmachen. Wie sich die Dunkelmänner als Polizisten erweisen, durch deren Barrikade aus fernsehbekanntem Gebrüll und gepanzerter Vermummung kein Unschuldsbeteuern dringt. Und noch dies und das.

Aber das Fieber ist gnädig und bringt Schlaf, wirre Träume, und dann graut wirklich ein Morgen, gelblich und verhangen, und beim Heimradeln liegt die Stadt in sommerlicher Stille, und die Zeitungskästen plärren so hysterisch, daß einem ganz schwummerig wird: „Terror! Eine Stadt in Angst“ (AZ), „Angriff auf München!“ (tz), „Blutbad in München“ (Bild), „Tote bei Anschlag in München“ (SZ). Und während man diesen blödsinnigen Quatsch über sich ergehen läßt – man kommt ihm ja nicht aus –, ahnt man schon, daß keine drei Stunden vergehen werden, bis aus dem ersten Verlautbarungshydranten der CSU der übliche Bullshit heraussprudelt und irgendein geifernder Mops „Sicherheitspakete schnüren“ und „alles auf den Prüfstand“ bringen wird. Und es ist einem so egal, weil der Wahnsinn, da mögen sie noch so laut zetern, ja jetzt zum Glück wieder mal vorbei ist.

Ist er das? Auf dringendes Einreden, man könne sich der Welt nicht entziehen und so weiter, öffne ich trotz ebenso dringendem Sonnenschein wenigstens kurz den Höllenpfuhl der Bombastik-Buff-Bomben, der Kreisch!s, Schluck!s, Aargl!s und Klickeradoms!e, dem offensichtlich vollkommen Irrgewordene das Schild „soziale Medien“ angeschraubt haben und der heute das einst als jugendverderbend gebrandmarkte gemütliche Idyll der gegenseitigen Aufreibungen von Dagobert, Gundel Gaukeley und Konsorten so wirksam ersetzt wie die Atombombe das Erbsenblasrohr. Man kann dem nicht folgen, was sich da tut oder zu tun scheint oder dräut, kriegt nur, ehe man es ungesehen weiterwallen läßt, kurz mit: Erstens, die vermeintlichen Schüsse am See waren Teil eines unwissentlich im Rahmen eines Grillfestes gezündeten Feuerwerks (hier folgt eine Verschwörungstheorie); und zweitens dies als typische Einschätzung der aktuellen wie der Weltlage:
„nicht die inteligenten sind das problem, sondern die dummen wie dich sind das problem, durch dummheit und ignoranz sind mehr kriege und konflikte entstanden als durch irgend was anderen, übrigens auch dieser konflikt, 87% sind analphabehten tolle atomforscher, alles wirtschaftsflüchlinge sonst nichts!! mit keinem gesetz der welt gedeckt!!kollega, keinem auch nicht flüchtlingskonfention §19. wenn du hier auf die kacke hauhen willst,dann must du dich schon besser als google belesen, gefährlichs halbwissen ist wie kanacke sein , also dumm!!!“

Von da weg führt nur noch ein Weg: ins Leben, in den Biergarten, in den Frieden, der immer dann eintritt, wenn der Mensch schweigt, wenn er nichts mehr tut, nichts mehr will, meint, weiß, besser weiß, am besten weiß, wo er keine Möglichkeit hat, sich zu verbreiten als durch ein Lächeln oder notfalls ein dahingebrummeltes „Leck mich doch am Arsch!“, dem das Schweigen und das Lächeln folgen.

Ja, es passiert wirklich so viel in einer großen Stadt. Und was davon erlebt man selbst? Für gewöhnlich und Gott oder wem auch immer sei’s gedankt: nichts.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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