Belästigungen 19/2016: Ein paar grundlegende Fragen (und ein Ätschibätschi) für den goldenen Restsommer

Neulich war an dieser Stelle die Rede von den Ferien und ihrer Eignung, ja geradezu Prädestination zum Lernen – wobei es eben darauf ankomme, was man lerne und daß dies im Zweifelsfall zuallererst das Naturgesetz ist, daß Arbeit etwas Lästiges ist, dem man so weit wie nur möglich aus dem Weg gehen sollte.

Indes befürchte ich, daß vor allem ungeduldige Leser (d. h.: die jüngeren) über die Überschrift und ihre gerechte Empörung – „Bitte was? Lernen in den Ferien!? Blas mir den Schuh auf!“ – nicht hinausgekommen sind und grollend beschlossen haben, diese Seite hinkünftig zu überblättern, um nicht noch mehr solchen Schmarrn vorgesetzt zu kriegen.

Aber, liebe Kinder, gebt mir noch eine Chance, nun, da ihr sowieso der Ferien enthoben seid und wieder auf Tafeln, Overheadprojektionen und Bildschirme glotzen müßt, anstatt gelangweilte Erwachsene wie mich an Isar- und Seestränden mit sprachlich wie inhaltlich höchst reizvollen Einlassungen zu den Themenbereichen Sexualleben, alkoholische und andere Selbst- und Kollektivpflasterung, Grundverblödung der Elterngeneration und dem aktuellen Ausstoß an Hip-Hop-Novitäten zu infotainen. Nämlich ist Lernen an sich wirklich nicht von Übel, selbst wenn es einem im faden Klassenzimmerkarzer mit Ätschibätschi-Ausblick auf den goldenen Restsommer so erscheinen mag.

Ihr dürft euch nur nicht alles erzählen lassen, und gewisse Dinge schon überhaupt nicht, sondern die richtigen Fragen stellen. Wenn zum Beispiel die „Wirtschaftslehrer“ daherkommen und euch ihren Stuß vom heiligen Markt auftischen, der alles fein regelt und die Welt stetig verbessert und verschönert, dann dürft ihr ruhig mal zurückfragen, wieso die Welt dann immer schlimmer, schneller, häßlicher und kaputter wird und immer mehr Menschen hungern, krank werden, sich gegenseitig umbringen. Ob Wettbewerb wirklich ein Naturgesetz und Kooperation, Rücksicht, Bescheidenheit kuriose Ausnahmen sind. Fragt sie, wieso Wissenschaftler wissen, daß zunehmende Ungleichheit die Wurzel aller gesellschaftlichen und vieler medizinischer Übel ist, und wieso sie, wo sie das doch auch längst wissen könnten, das Gegenteil predigen, ohne den geringsten Beleg oder auch nur ein Indiz dafür zu haben, daß an ihren Behauptungen was dran sein könnte.

Fragt sie mal nach Begriffen wie Ausbeutung, Burnout, Umweltzerstörung, den Grenzen des Wachstums. Fragt sie, wieso ihr eure Lebenszeit, die doch das einzige ist, was ihr tatsächlich habt und was euch natürlicherweise zusteht, gegen Geld eintauschen sollt und ob ihr für dieses Geld vielleicht neue Zeit kaufen könnt. Laßt euch die psychologischen Strukturen freiwilliger Knechtschaft und die Unterschiede zur Sklaverei erklären. Oder fragt sie, weshalb ihr eure schulfreie Zeit damit zubringen sollt, in sogenannten „Praktika“ ganz normale Arbeit zu leisten, damit Geld zu erzeugen, von diesem Geld aber selbst nicht mal den üblichen kleinen Teil abzukriegen. Werft ihnen Namen wie Marx, Keynes und Adam Smith entgegen und fragt sie, ob sie schon mal eine Zeile von denen gelesen haben und wieso nicht.

Fragt sie dann am besten auch gleich, was der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung ist, zwischen Bildung und Zertifizierung und zwischen Wissen, Können, „Qualifikation“ und Abrichtung zur Brauchbarkeit. Und warum ihr so dermaßen darauf versessen sein sollt, euch immer mehr und immer schneller eine „Bildung“ zertifizieren zu lassen, wo doch diese „Bildung“ seit dreißig Jahren einen regelrechten Boom erlebt und immer mehr Leute immer „gebildeter“ und „qualifizierter“ sind, während gleichzeitig die Dummheit galaktische Ausmaße annimmt und der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen der deutschen Bevölkerung unablässig schrumpft. Und wieso dieser Anteil schrumpft. Und wieso man unter „Bildung“ immer nur spezifisch spezialisierte Arbeitsvorgänge und Techniken versteht, die jeder Computer ohne weiteres genauso gut kann oder bald können wird, während es in tausend Jahren noch keinen Computer geben wird, der „unqualifizierte“ Tätigkeiten wie Poesie, Musik, Schneiderei und Landwirtschaft auch nur passabel nachäffen kann. Wieso Konzerne früher ihr Menschenmaterial selbst ausbilden mußten und das heute unter dem Etikett „Studium“ auf Staatskosten erledigen lassen. Und weshalb man ein Milliardenvermögen erben kann, ohne die geringste „Qualifikation“ vorzuweisen, und dafür nicht mal Steuern bezahlen muß – laßt euch da aber nicht den Bullshit verzapfen, das Milliardenvermögen sei schon mal versteuert worden und dürfe deswegen nicht noch mal besteuert werden. Schließlich habt ihr (bzw. eure Eltern) das Geld, mit dem ihr zum Beispiel Zigaretten kauft, ja auch schon mal versteuert, und trotzdem beschwert sich kein Lobbyist dieser Welt über Tabak-, Mehrwert- und andere Nochmalsteuern.

Ihr könntet dann auch noch fragen, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen kann, Geld oder Grund und Boden sein Eigentum zu nennen, wo das eine doch ein Tauschmittel und das andere Teil eines Planeten ist, der grundsätzlich niemandem gehören kann und auch noch nie gehört hat. Und wieso sich irgend jemand das Recht herausnimmt, anderen etwas wegzunehmen oder vorzuenthalten, das diese anderen dringend brauchen. Und so weiter und so fort – der folgerichtigen Logik des menschlichen Denkens sind kaum Grenzen gesetzt, wenn man sich den metareligiösen Kleister erst mal aus den Augen gewischt hat.

Wenn ihr euch dann die ratlosen Gesichter, die verqueren Windungen und peinlichen Drucksereien eurer „Wirtschaftslehrer“ lange genug angeschaut habt, dann spendet ihnen Trost. Erzählt ihnen, daß sie nicht die ersten sind, die von der real existierenden Wirtschaft nicht die geringste Ahnung haben, hat doch schon die vor ziemlich genau 223 Jahren guillotinierte österreichische Franzosenkönigin Marie Antoinette auf die Klage, das Volk habe nicht genug Brot, geantwortet: „Dann sollen sie halt Kuchen essen.“

Und wenn ihr das säuerlich versöhnte Grinsen ebenfalls lange genug betrachtet habt, dann trumpft ihr mit eurer Bildung auf: Nix Kuchen! „Brioche“ hat sie gesagt, und das ist auch nichts recht viel anderes als Brot! Und außerdem hat sie das überhaupt nie gesagt! Sondern kolportiert hat das Zitat der „Zurück zur Natur!“-Philosoph Rousseau, als Marie Antoinette gerade mal neun Jahre alt war. Und dann fragt ihr den Herrn Lehrer ganz zum Schluß, ob er eigentlich an den Weihnachtsmann glaubt (der übrigens keine Erfindung von Coca-Cola ist).

Und während er darüber nachsinnt, schleicht ihr euch hinaus in den goldenen Restsommer und kümmert euch um wichtigere Sachen. Ätschibätschi!

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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