Belästigungen 02/2017: Ich will dieses Gespräch nicht mehr führen müssen! (und hören auch nicht)

Ein guter Freund hat mal einen schlauen Satz gesagt, den ich seither bei Anlaß und Gelegenheit gerne zitiere. Wir standen in einem vom Zufall der Nikotinvorliebe zusammengewürfelten Pulk vor der Kneipe, zogen am Stengel und lauschten notgedrungen irgendeinem Small-talk-Geplänkel, gespickt mit den üblichen Vokabeln des zeitgenössischen Diskurses von „im Grunde“ bis „tolerant“, von „ambivalent“ bis „zu Gemüte führen“, von „zeitgleich“ bis „nichtsdestotrotz“ und „zweifelsohne“, bis dem Freund der Kragen platzte und er zu niemand bestimmtem sagte: „Könnt ihr mal aufhören mit eurem Scheißgespräch?“

Seitdem werde ich diesen Satz nicht mehr los. Immer wenn jemand in sein öffentliches Telephon einen Satz hineinplärrt, der in Fernsehserien längst verboten sein sollte, und in Wirklichkeit bloß „Leck mich doch am Arsch“ sagen möchte. Wenn Journalisten mit gespitzten Mündern von „Stücken“ labern und lediglich Artikel meinen. Wenn eine „Radlhauptstadt München“ daherkommt und behauptet, „Winterradfahrer“ seien „auf dem Vormarsch“ (wie heutzutage überhaupt alles „auf dem Vormarsch“ oder in ähnliche militärische Tätigkeiten verwickelt sein muß, ohne daß jemand fragt, warum und ob ein Radlfahrer beim Marschieren überhaupt noch ein Radlfahrer sein kann). Wenn Verfasser derartiger Verlautbarungen auch noch ihre „dichterische Ader“ anstechen und ohne Maß, Stil, Komma und sonstige Bedenken derartiges ins Internet wuchten: „Aus aktuellem Anlass wenn draußen alles ganz sanft gedämpft zugedeckt wird, die frostigen Kristalle unter den Reifen knirschen und die Schuhe von stiebenden Flocken bedeckt werden, ist besondere Vorsicht wichtig für den frischen Genuss auf dem Radl.“

Wenn überhaupt das gesamte Internet nur so rasselt und flirrt vor falschen, dummen, falsch und dumm nachgeplapperten, leeren, hohlen Imitationen von Sätzen, die nur eines sagen: „Ich habe nichts zu sagen, keine Idee und keinen Gedanken, möchte aber auch etwas zur Debatte beitragen, egal zu welcher und ob es überhaupt eine gibt oder geben sollte!“

Immer dann: möchte ich, um meinen geschätzten Deutschlehrer zu zitieren, „hineinhauen in den Sauhaufen“ mit der ehrlichen Frage, ob man bitte endlich aufhören könne mit dem Scheißgespräch.

Freilich könnte ich dem ja auskommen. Ich könnte (und tue das tatsächlich sehr weitgehend) sämtliche Apparate abschalten und in den Ofen schüren, aus denen zum Beispiel das genormte Dauergefasel von Terror, Europa, Freiheit und Menschenrechten herausquillt. Dann säße ich aber in einem stillen Zimmer und fragte mich, ob diese Apparate nicht mal einen anderen Zweck hatten als uns das Hirn mit Leersprech zu verkitten. Und wer diesen anderen Zweck – und sei es nur die Mitteilung wichtiger Meldungen, Ideen und Gedanken – denn nun erfüllt und wieso das niemand mehr tut und ob die evolutionäre Verblödung des Homo sapiens vielleicht darauf zurückgeht, daß das niemand mehr tut.

Außerdem bin ich mit dem Ausschalten immer zu langsam. Irgendeinen Fetzen kriege ich mit, und der setzt sofort meinen eigenen Apparat in Gang, der dann einen halben Tag lang rotiert, bis er den Bullshit bis ins kleinste Nano-Unsinnsteilchen seziert und zerfasert und (meinetwegen) hinterfragt und (logischerweise) hinterantwortet hat. Dann sehe ich ein, daß der halbe Tag verschwendet war, weil ich das vorher schon wußte und nun den Kopf voller Müll habe, stapfe hinaus in die verschneite Stadt, um ihn vom Wintersturm durchlüften zu lassen, und stelle verblüfft fest, daß ganz Schwabing mittlerweile zumindest tagsüber von menschlichen Radios und wandelnden Zeitungen bewohnt ist, aus denen exakt der gleiche Schmarrn herausquillt, vor dem ich grad geflüchtet bin.

Das kann ich nicht abschalten. Da muß ich dann fragen: Wieso sollte (zum Beispiel) Angela Merkel, wenn sie als Grußaugustine einer „Wirtschaftsdelegation“ in irgendein Land reist, damit die dort ihr neokoloniales Programm durchziehen kann, „schon auch die Menschenrechte ansprechen“? Wem gegenüber? Ihren eigenen Wirtschaftsbossen? Und welche Menschenrechte?

Die, mit denen der „Westen“ seine sämtlichen Angriffskriege der letzten 25 Jahre begründete? Die, von denen niemand weiß, wie sie eigentlich lauten? Bei denen niemand darüber nachdenkt, was sie bedeuten? Das Recht auf Arbeit etwa, das bei uns gerne zur Arbeitspflicht mutiert und von dem der 1-Euro-Jobber besser nicht erfährt, daß es mit einem „Recht auf angemessene Entlohnung“ verknüpft ist? Oder die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Bildung, auf Teilnahme am kulturellen Leben und einen angemessenen Lebensstandard? Diese Rechte, die weltweit nirgendwo gelten, weil sie aufgrund ihrer Unteilbarkeit nur insgesamt oder gar nicht gültig sein können?

Wäre es nicht besser, frage ich dann, irgendwelche diffusen individuellen Rechte, die ihr Inhaber im vereisten Schlamm eines Flüchtlingscamps mit drei Durchschlägen beantragen und gegen einen übermächtigen Gegner durchsetzen muß (aber nicht kann), – wäre es nicht besser, solche „Rechte“ einfach abzuschaffen? Wäre dem solcherart zwangsindividualisierten Opfer von Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Vertreibung nicht mehr geholfen, wenn es nicht erst um die halbe Welt ziehen müßte, um (wenn es nicht zuvor umgebracht wird oder im Meer ersäuft) vor einer kafkaesken EU-Molochbehörde irgendwelche angeblichen Menschenrechte einzuklagen, sondern wenn man generell verbieten würde, daß Völker und Staaten von Wirtschaft und Militär anderer Staaten angegriffen, bombardiert, verwüstet, ausgebeutet und mittels „Entwicklung“ unbewohnbar gemacht werden?

Spätestens wenn ich dann frage, ob nicht mit der plakativen Zusicherung von Individualrechten der ganze Schlamassel überhaupt erst angefangen hat, ob das nicht schon Hannah Arendt irgendwie so gesagt hat, ob es nicht eigentlich nur ein einziges Menschenrecht gibt, das nicht individuell, sondern für alle gemeinsam gilt und das, wenn die Verdammten dieser Erde aufwachen und die Völker die Signale hören, im letzten Gefecht erkämpft wird, wenn ich mich anschließend in meinen eigenen Schachtel- und Schlangensätzen verheddere und hilflos herumzucke, um mich daraus wieder zu befreien, – dann bleibt mir nur noch, mir selbst zuzurufen: „Kannst du mal aufhören mit deinem Scheißgespräch?“

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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