Belästigungen 25/2016: Warum der Mensch an Fakten glauben muß (und was das mit der Post zu tun hat)

Kürzlich hat man mir hochöffiziös mitgeteilt, daß wir in postfaktischen Zeiten leben. Seit dieser ersten Mitteilung vergeht kaum noch ein Tag, an dem mir das nicht hochöffiziös und mit gespreiztem Zeigefinger mitgeteilt wird. Selbst Bundessalbentube J. Gauck, der ansonsten außer einem militärisch umflorten „Freiheit!“ kaum etwas aus seinem Sinnmachungsorgan herausquetschen kann, ohne sich im ärgsten Gestrüpp von Bullshit, Nonsens und Antigrammatik zu verheddern, trompete neulich in die Nachrichtensender hinein, es gehe nicht an, daß „Fakten eine immer geringere Rolle spielen“.

Freilich sind „postfaktische Zeiten“ an und in sich ein Schmarrn, schließlich können Zeiten auch nicht „faktisch“ sein. Ob überhaupt irgendwas „faktisch“ sein kann, ob es das Wort „faktisch“ sinnvollerweise überhaupt geben kann, darüber ließe sich diskutieren, aber mei. Wir wissen ja, was ungefähr gemeint ist: Die Leute, heißt es, glauben nicht mehr an Fakten, sondern nur noch an wirre Propaganda und gemütliche Meinungen, die ihnen aus „Echoräumen“ entgegenschallen, wo sie sie zuvor selbst hineingeplärrt haben.

Wir könnten uns fragen, wieso die hochoffiziösen Mahner „Fakten“ sagen und nicht „Tatsachen“, wo die doch wahrscheinlich eigentlich gemeint sind. Aber das ist klar: An Tatsachen muß man nicht glauben, die sind einfach da und tatsächeln unberührt von religiösen Belangen vor sich hin. An „Fakten“ hingegen muß man glauben, weil sie sonst – schwupps! – weg sind. So wie das Christkind, der Weihnachtsmann und der alternativlose Kapitalismus, an die ja auch viele Leute glauben. Jetzt aber halt dummerweise nicht mehr so viele, weil wir jetzt postfaktisch geworden sind und gar nichts mehr so richtig glauben wollen (höchstens Postfakten, aber von denen gibt es vermutlich noch zu wenige).

Apropos Post: Fakt ist zum Beispiel, daß die Privatisierung der deutschen Bundespost vor gut zwanzig Jahren eine „unglaubliche Erfolgsgeschichte“ war. Weil uns das von Anfang an so erzählt wurde und wird und weil es damit eben Fakt ist. Den wir – unglaublich oder nicht – nicht mehr so recht glauben, wenn wir uns (am besten in der Vorweihnachtszeit) die Schlangen vor den wenigen verbliebenen Filialen anschauen oder die Entwicklung der Preise für schriftliche und telephonische Kommunikation über die letzten Jahrzehnte mit dem Einkommen der Leute vergleichen, die Briefe verteilen, Leitungen einbuddeln und sich in Callcentern Infarkte und Depressionen anarbeiten (und mit dem Aufwand an gelb-roter Reklamepest, der uns auf Schritt und Tritt brüllend verfolgt). Wenn wir ganz frech sind, fragen wir sogar nach, was für ein sprachlicher Trick dahintersteckt, eine Enteignung, bei der etwas, das zuvor allen gehört hat, hinterher zu 92,5 Prozent internationalen Banken, Konzernen und Fondsgesellschaften gehört, als „Privatisierung“ zu bezeichnen. Aber dann wird man uns erklären, Banken, Konzerne und Fondsgesellschaften seien ja eben privat und wir sollten gefälligst aus unserem Echoraum herauskommen.

Ach, wie waren sie gemütlich, die faktischen Zeiten! Da war der Deutsche übrigens jahrhundertelang ein leuchtendes Vorbild: Der glaubte schon im Mittelalter an den Fakt, daß der jüdische Semit Brunnen vergiftet und die Pest verbreitet, und daran glaubte er im mittleren 20. Jahrhundert noch viel fester und tut es im Grunde bis heute. Der faktische Deutsche glaubte aber auch an die gelbe Gefahr und an den Unhold östlich der Memel, an den tapferen Ami, der zu unserem Wohle kommunistische Untermenschen in Vietnam niedermacht, an den wohltätigen Fürsten, der liebevoll sein Volk umsorgt – oder halt, wenn der Fürst nicht mehr da (oder nicht mehr sichtbar) ist, an die Segnungen der Parlamentsdemokratie, in der er allein als Souverän regiert und den neuen (Geld-)Adel jederzeit mit einem Kreuzchen überstimmen und mit gütigen Gesetzen an der Ausübung seiner Vernichtungslust hindern kann.

Er glaubt an seine Pflicht (vor allem wenn sie eine „verdammte“ ist), an einen Arbeitsmarkt und Börsen, an denen zum Wohle aller hübsche Waren zu gerechten Preisen gehandelt werden und deren „Höhenflüge“ so segensreich sind wie der erste Föhn im Frühling. Er glaubt an eine unsichtbare Hand, die jedem sein Scherflein und seinen gerechten Lohn zukommen läßt. Er glaubt an einen Wettbewerb, der vom Naturschutz bis zur Erschwinglichkeit und Ungiftigkeit von Essen und Trinken alles sehr viel besser regelt, als das eine strenge Behörde jemals könnte. Er glaubt daran, daß der einzige Weg, die grauenhaften Folgen des Wachstums zu mildern, noch mehr Wachstum und die einzige Möglichkeit, bewaffnete „Konflikte“ zu beenden, die Lieferung von noch mehr Waffen und zur Not auch deren Trägern ist.

Gerade wo es um Krieg geht, haben für den Deutschen immer schon Fakten eine herausragende Rolle gespielt: Er glaubte, daß an dreißig Jahren Kontinentverwüstung der Sturz von ein paar Männlein aus einem Prager Fenster schuld war; er glaubte, daß es keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche, die aus allen Richtungen bedroht wurden, weshalb er den Finsterlingen mit Hurra und „Jeder Stoß ein Franzos! Jeder Schuß ein Ruß!“ entgegenstürmte. (Er glaubte übrigens bis vor kurzem auch noch, daß er damals tatsächlich gesamtbegeistert in die Schützengräben sprang, und neuerdings glaubt er wieder besonders gerne, daß er daran gar nicht schuld war.)

Er glaubte an die Fakten um den Dolchstoß, den Sender Gleiwitz, die kriegsentscheidende Geheimwaffe, den Golf von Tonkin, diverse „friedliche Revolutionen“ in Osteuropa, den serbischen Hufeisenplan und die ethnischen Säuberungen im Kosovo, die irakischen Massenvernichtungswaffen, die russischen Panzer in der Ostukraine, die tapferen Rebellen in Libyen und Syrien (und zwischendurch, lang ist’s her, auch mal Afghanistan), und er glaubt jederzeit und gerne, daß sich „humanitäre“ (wörtlich: menschenfreundliche) Katastrophen am besten mit Bomben lösen lassen.

Das alles glaubt er wahrscheinlich vor allem deshalb, weil ihm ohne diesen Glauben die Schuppen von den Augen fallen und er eine Welt erblicken könnte, in der wenige viele ausbeuten (und zwar immer unverschämter und radikaler) und er einer der vielen ist, die sich dagegen wehren könnten, ja müßten. Das mag er aber nicht, weil das ungemütlich werden könnte, und deshalb sehnt er sich neuerdings mal wieder wohltätige Fürsten und heroische Präsidenten herbei und glaubt notfalls auch wieder daran, daß der Semit die Brunnen vergiftet und die Krätze verbreitet.

Ach, der Mensch und sein Glaube! Sollen wir ihm noch kurz erklären, daß der Begriff „postfaktisch“ (als „post-truth“) 2004 von einem Schriftsteller zur Bezeichnung der Lügen, Verdrehungen und propagandistischen Hirngespinste (Verzeihung: Fakten) geprägt wurde, mit denen damals eine „Koalition der Willigen“ und ein Massenchor von Medien den Irakkrieg herbeibeteten? Daß diesen Begriff also heute genau die, auf die er damals gemünzt war, jenen entgegenschmeißen, die ihnen nicht mehr so recht hinterhermarschieren mögen?

Er wird es uns nicht glauben, denn das wäre ausnahmsweise kein Fakt, sondern: eine Tatsache.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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