(periphere Notate): Keiniche falschen Fahnen!

Wenn von der eskalierenden Zensur im sogenannten Westen die Rede ist, fällt immer wieder der Name Orwell, manchmal auch als Adjektiv („orwellian“ oder „orwellsch“). Lustig daran ist, daß man instinktiv weiß, was gemeint ist, wenn etwa mal wieder Bibliotheken mal wieder von Kurt Vonneguts Roman „Slaughterhouse Five“ oder Toni Morrisons „The Bluest Eye“ gereinigt werden oder eine neue Welle von Massenlöschungen durch die Plattformen Facebook, Youtube und Twitter schwappt.

Instinktiv deshalb, weil ein genaueres Hinschauen oder Nachfragen meist ergibt, daß kaum noch jemand Orwell liest bzw. gelesen hat. Man erinnert sich undeutlich an „1984“ (mal durchgeblättert oder zu Prüfungszwecken im Englischunterricht entscheidende Stichwörter wie „Krieg ist Frieden“ mitnotiert) und den Zeichentrickfilm „Farm der Tiere“ und meint diffus, es gehe da so im allgemeinen um Überwachung und Gedankenkontrolle und das sei schlimm. Aber wer weiß noch etwas über „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“? oder hält das nicht für einen Begriff aus dem Geflecht der „Verschwörungstheorien“ um das World Economic Forum?

„Das Hauptziel der modernen Kriegführung (…) besteht in dem Verbrauch der maschinellen Erzeugnisse, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu heben. (…) Von dem Augenblick an, als die Maschine zum erstenmal in Erscheinung trat, war es für alle denkenden Menschen klar, daß die Notwendigkeit der Mühsal, und damit zum großen Teil auch die Ungleichheit der Menschen, erledigt war. (…) Aber es war auch klar, daß ein allgemein wachsender Wohlstand das Bestehen einer hierarchisch geordneten Gesellschaft bedrohte, ja tatsächlich in gewisser Weise ihre Auflösung bedeutete. (…) Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von persönlichem Besitz und Luxusartikeln gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis würde eine solche Gesellschaftsordnung nicht lange Bestand haben. Denn sobald alle gleicherweise Muße und Sicherheit genossen, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut abgestumpft war, sich heranbilden und selbständig denken lernen. Und war es erst einmal soweit, so würden sie früher oder später dahinterkommen, daß die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und würden sie beseitigen.“ (George Orwell, „1984“)

„Es spielt keine Rolle, ob wirklich Krieg geführt wird, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, kommt es nicht darauf an, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist weiter nichts nötig, als daß Kriegszustand herrscht.“ (George Orwell, „1984“)

„Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindhaß am stärksten vertreten. In seiner Eigenschaft als Administrator muß ein Mitglied der Inneren Partei oft wissen, daß dieser oder jener Punkt der Kriegsmeldungen unwahr ist, und er mag sich häufig bewußt sein, daß der ganze Krieg Spiegelfechterei ist und entweder nicht stattfindet oder aus ganz anderen als den angeblichen Gründen ausgefochten wird: Aber dieses Wissen wird leicht durch die Anwendung des Zwiedenkens neutralisiert. Mittlerweile schwankt kein Inneres Parteimitglied einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, daß der Krieg echt ist und mit einem Sieg enden muß (…).“ (George Orwell, „1984“)

Daß Orwell von einem „Krieg gegen das Virus“ nichts ahnen konnte, ist angesichts seiner Menschenfreundlichkeit und des galoppierenden Irrwitzes einer solchen Wahnkonstruktion verzeihlich. Dennoch sprechen diese und andere Passagen eine so deutliche Sprache, daß man sich höchstens in Unkenntnis der Tatsache, daß es darin nicht um Kommunismus oder Kapitalismus, sondern um Totalitarismus geht – und speziell um den oligarchischen Kollektivismus, den wir eskalierend erleben –, jemand wundern kann, wenn „1984“ in den USA (wo es sich seit 2017 exponentiell zunehmender Beliebtheit erfreut, was die europäische und speziell deutsche Propaganda geradezu manisch auf Donald Trump zu schieben versuchte) mal wieder aus Bibliotheken und Klassenzimmern verschwinden soll.

Orwell hat ja nicht nur „1984“ und „Animal Farm“ geschrieben, sondern vieles mehr, was noch weitaus weniger gelesen wird. Zum Beispiel den Reportageessay „Rache ist sauer“ über seinen Besuch in einem Kriegsgefangenenlager in Süddeutschland im Herbst 1945 und einen belgischen Journalisten, der bei der Eroberung von Stuttgart seine erste Leiche sieht. Ich bin mit manchem, was Orwell darin meint, nicht unbedingt einverstanden, was keine Rolle spielt, weil ich nicht dabei war und daher so wenig vom „Geist der Zeit“ verstehe wie die derzeitige deutsche Regierung von den Folgen ihrer Herrschaft. Lesen sollte den Text jeder, auch im Hinblick auf das, was ansteht, wenn das „Corona“-Regime und seine Narrative endgültig zusammenbrechen: „Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.“

Daran mag man sich erinnern, sowohl was die Unscheinbarkeit von „Ungeheuern“ betrifft, sobald sie „hinter Schloß und Riegel“ sind, als auch die potentiell unmenschlichen Konsequenzen von institutionalisierter oder ritualisierter Vergeltung.

„Inzwischen betrachtete ich den Mann eingehend. Ganz abgesehen von dem abgerissenen, hungrigen und stoppelbärtigen Aussehen, das ein vor kurzem gefangengenommener Mann gewöhnlich hat, war er ein besonders abstoßendes Exemplar. Dabei sah er jedoch nicht etwa brutal oder in irgendeiner Weise furchterregend aus: lediglich neurotisch und auf niedrige Art intelligent. Seine blassen, unsteten Augen waren von starken Brillengläsern entstellt. Er konnte genausogut ein aus dem Amt entlassener Priester sein, ein von Trunksucht ruinierter Schauspieler oder ein spiritistisches Medium. (…) Ganz offensichtlich war er geistesgestört – auf jeden Fall nur bedingt zurechnungsfähig, auch wenn er in diesem Moment genügend beieinander zu sein schien, um sich vor einem weiteren Fußtritt zu fürchten. Und dennoch konnte alles, was der Jude mir über ihn erzählte, wahr sein und war es sicherlich auch!“ (George Orwell, „Rache ist sauer“)

Nein, an ihn mag ich heute nicht denken.

An den auch nicht.

Heute gibt es „angeblich“ „US-Geheimdiensthinweise“ auf einen von Rußland inszenierten False-Flag-Angriff der Ukraine auf russisches Gebiet. Das dazu nötige „Video“ gebe es zwar „noch“ nicht, die Russen hätten aber schon „Leichen und Schauspieler ausgesucht“. Eine Propagandameldung, die der bayerische Rundfunk lang und breit und wiederholt verbreitet, in der jeder Satz „soll“ zum Prädikat hat und die so intensiv nach „Sender Gleiwitz“, „Tonkin“, „Brutkasten“ und „Saddams Massenvernichtungswaffen“ riecht, daß man auf den Tschingderassa-Faschingstusch hinterher wartet (vergeblich).

Die Meldung ist so peinlich dumm, daß man sich (wieder mal) fragt, ob das Ausmaß an Blödheit und Servilität, das dieser Sender an den Tag legt, außerhalb des Genres völlig überdrehter satirischer Parodie noch gesteigert werden kann. Kaum, meint man, aber der zweite Gedanke sagt, daß vielleicht ängstliche Vorsicht hinzukommt: Wer weiß, ob die NATO nicht doch noch einen glaubwürdigen Vorwand findet? Wenn man sich vorher über die Zumutungen der westlichen Propaganda echauffiert hat, könnte man dann dumm dastehen. Schließlich hat der Irakkrieg ja auch trotzdem stattgefunden – die nachträgliche Offenlegung der idiotischen Vorwände für den Überfall und Colin Powells viertelherzige Zerknirschung über seine Teilnahme an dem gewaltigen Spektakel von dreisten Lügen, Fälschungen und Desinformation machten keinen der Toten wieder lebendig. (Daß Powell die Schuld an dem „schmerzhaften“ „Fleck auf seinem Lebenslauf“ wahlweise den Vereinten Nationen bzw. einer Verschwörung böser Juden zuschieben wollte, sei nur am Rande erwähnt. Noch weiter am Rand seine maßgebliche Rolle bei der Vertuschung des Massakers von My Lai 1968; er war halt folgsam.)

Dieser mediale Mechanismus – lieber mal mitblöken, um sich hinterher nicht schämen zu müssen – funktioniert ja irgendwie so gut wie immer, obwohl die Täter sich regelmäßig danach in Grund und Boden schämen müßten. Was sie aber so gut wie nie tun, weil man ja nichts gewußt hat, nichts wissen konnte und falsch informiert worden sei. Was sogenannten „Journalisten“ beruflich bedingt nun mal häufiger und gründlicher passiert als normalen Menschen, die ein bißchen recherchieren und denken können.

Da bin ich ungewollt bei dem Theater um die „Staatssender“ Russia Today (RT) und Deutsche Welle (DW) gelandet. Ich habe aber weder Lust, mir Claudia Roths wirres Geschwätz genauer anzuhören, noch mich noch mal eingehend mit dem seit vielen Jahren notorischen Propagandawirken der DW in Rußland zu beschäftigen. Die sogenannte Außenministerin hat sich dazu am 18. Januar ja denkbar deutlich selbstentlarvend geäußert:

„Ich kann noma unterstreichen, daß bei uns die Fresse Pressefreiheit bedeutet, daß es keiniche staatliche Einmischung in dem Bereiche gibt. Wir haben eine klare Verfassung, die in Deutschland verbietet, daß es ein staatlichen Rundfunk gibt, ob der Staat Deutschland, USA oder Rußland heißt, und auf dieser Grundlage wird bei uns in Deutschland auch im Blick auf die zuständigen Behörden dann verfahren.“ (A. Baerbock, 18. Januar 2022)

Denkt eigentlich jemand darüber nach, daß man ein erwünschtes Ereignis dadurch verhindern kann, daß man vorab über dessen angebliche Planung berichtet? Und daß die Absicht in diesem Falle eine andere sein könnte?

Die AfD könnte übrigens – wenn sie wollte – die Einführung der Zwangsspritzung in Deutschland ganz einfach verhindern: Sie bräuchte nur einen Antrag zur Einführung einer Covid-„Impf“-Pflicht in den Bundestag einbringen.

„Wer es wagt, auf meiner Beerdigung zu weinen, mit dem rede ich kein Wort mehr!“ (Stan Laurel)


6 Antworten auf „(periphere Notate): Keiniche falschen Fahnen!“

  1. Ich kann mich bis heute an den Moment in dem Film erinnern, in dem das Pferd Boxer zum Abdecker gebracht wird. Die Szene hinerließ einen unauslöschlichen Eindruck in meiner Kinderseele. Wussten Sie, dass der Film von der CIA in Auftrag gegeben wurde? E. Howard Hunt, von Guatemala über die Schweinebucht bis hin zu Watergate an allerlei Verschwörungen beteiligt (ja, in Dallas war er wohl auch an jenem Tage) und nebenbei Autor so einiger Agentenromane, betreute das Projekt.

    Im Hinblick auf die „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ ist das folgende Zitat aus Orwells Essay „James Burnham and the Managerial Revolution“ hochinteressant:

    „As shortly as I can summarise it, the thesis is this:

    Capitalism is disappearing, but Socialism is not replacing it. What is
    now arising is a new kind of planned, centralised society which will be
    neither capitalist nor, in any accepted sense of the word, democratic.
    The rulers of this new society will be the people who effectively control
    the means of production: that is, business executives, technicians,
    bureaucrats and soldiers, lumped together by Burnham, under the name of
    „managers“. These people will eliminate the old capitalist class, crush
    the working class, and so organise society that all power and economic
    privilege remain in their own hands. Private property rights will be
    abolished, but common ownership will not be established. The new
    „managerial“ societies will not consist of a patchwork of small,
    independent states, but of great super-states grouped round the main
    industrial centres in Europe, Asia, and America. These super-states will
    fight among themselves for possession of the remaining uncaptured
    portions of the earth, but will probably be unable to conquer one another
    completely. Internally, each society will be hierarchical, with an
    aristocracy of talent at the top and a mass of semi-slaves at the bottom.“

    http://george-orwell.org/James_Burnham_and_the_Managerial_Revolution/0.html

    Das klingt in meinen Ohren in der Tat sehr nach dem Slogan des WEF „You will own nothing and be happy.“

    Wie immer herzlichen Dank und beste Grüße in den Süden
    Ralf Anders

    1. „You will own nothing and be happy.“

      Und immer daran denken: was mir und Dir nicht mehr gehört, gehört damit jemandem anderen. Natürlich beim WEF nicht offensichtlich sondern verdeckt: wer über die Benutzung, Verfügung, Verwendung, Zugang und Zugangsasuschluss eines Gutes oder einer Dienstleistung gebietet, dem gehört das letztlich auch. Alles ander sind vernebelnde Nuancen.

      „You will own nothing and be happy.“ „And we will control all this. Sincerely your WEF“

  2. Und dann wäre da noch das hier:

    „As one of the greatest works in Britain’s literary canon, Nineteen Eighty-Four sounds a chilling warning about the dangers of censorship.

    Now staff at the University of Northampton have issued a trigger warning for George Orwell’s novel on the grounds that it contains ‘explicit material’ which some students may find ‘offensive and upsetting’.“

    https://www.dailymail.co.uk/news/article-10430597/University-slaps-trigger-warning-George-Orwells-Nineteen-Eighty-Four.html

  3. Die Bildauswahl ist Klasse (natürlich nicht nur die), aber ein Lauterkrach der auf jeder Querulanten/ähoderso-Demo damit sofort von der Presse als Nazi erkannt worden wäre und in allen Zeitungen gestanden hätte (hier bei uns war so ein Fall wo ein fixer Zeitungsreporter genau so ein Bild von einer zur Bühen winkenden Frau eingefangen hatte. Was für ein „Hallo, wir wussten es doch“ in der Presse!) und das wirklich entlarvende Bild des Kretschmaomanns (Bildaussage: „Wie kann man es wagen. Hier wird gefälligst 200%ig mir gehorcht.“). Göttlich!

    Frage an den Orwell-Kenner: hat der Orwell auch irgendwo Zitate gebracht, die erkennen liesen, dass Kriege immmer im gemeinsamen Interesse ALLER kriegsführenden Herrscher sind? Also dass Kriege wohl allzuoft tatsächlich eine verschärfte Verschwörung der Mächtigen gegen das in gezielt verursachten Notwehrsituation sich gegenseitig totschießende Volk sind?

    Ich glaube nämlich nicht, dass Putin allzu grämlich ist über die NAhTOd-Provokationen. Umso enger schließt sich auch das russische Volk unter Putin zusammen. Und auch Xi muss sich nicht darüber ärgern, dass die Bedrohungsrhetorik des Westens seine Chinesen noch besser kontrollierbar macht, weil der äußere Feind immer drohend sichtbar ist.

    Umgekehrt machen auch Putin und Xi gerne mal ein paar Spielchen zugunsten des Westens: ein paar Kriegsschiffre hier, ein paar Manöver dort, ein paar neue Waffenentwicklungen, ein paar Drohgebärden – das Übliche eben um die Stimmung im gemeinsamen Interesse am Kochen zu halten.

  4. @Albrecht Storz: Ich denke, das Wesen des Krieges ist in diesem Sinne in dem „Goldstein-Buch“ in der Mitte von „1984“ ziemlich deutlich dargelegt, wenn auch nicht so explizit und kondensiert.
    @Ralf Anders: Vielen Dank für die Erinnerung an den Burnham-Essay. Es mag aus heutiger Sicht müßig sein, zu streiten, ob Burnham oder Orwell „mehr recht“ hatte; das ist das Schicksal der Interpretation. Interessanter ist Burnhams Rolle beim „Kongreß für kulturelle Freiheit“ (CCF) und dessen Verwicklung in die Adaptionsgeschichte von Orwells Werken – ebenso wie die gesamte, bei weitem noch nicht ausgiebig erforschte Geschichte des CCF. Frances Stonor Saunders‘ Buch „The Cultural Cold War“ ist nach mehr als zwanzig Jahren nach wie vor lesenswert, was die CIA-Verwicklungen betrifft. Und zu der „1984“-Verfilmung von 1956 empfehle ich gerne den Essay „Keeping It All In The (Nuclear) Family“ von Nigel Morris (http://framescinemajournal.com/article/keeping-it-all-in-the-nuclear-family-big-brother-auntie-bbc-uncle-sam-and-george-orwells-nineteen-eighty-four/), der einige Feststellungen von Saunders kritisiert und relativiert, vor allem aber den Film sehr eingehend analysiert.
    E. Howard Hunt wiederum wird wohl immer ein Rätsel bleiben, was seine Verwicklungen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts angeht. Speziell zu Dallas (und Kennedy allgemein) gibt es unterschiedlichste Aussagen und Theorien, bis hin zu Hunts angeblichen Geständnissen auf dem Sterbebett …
    Ach so, und zum WEF: „Nichts gehörte einem außer den paar Kubikzentimetern im eigenen Schädel.“ (In meiner Büchergilde-Ausgabe von „1984“ auf Seite 30, im Original: „Nothing was your own except the few cubic centimetres inside your skull.“

  5. Sehr interessant ist in jedem Fall, dass Orwell sich nicht nur auf die beiden großen totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts bezog, mit dem „großen Bruder“ nicht nur auf Hitler und Stalin und Samjatins „großen Wohltäter“, sondern eben auch auf Burnhams „Managerial Revolution“ , wie man an der geopolitischen Aufteilung der Welt von „1984“ und dem Hinweis auf den „oligarchischen Kollektivismus“ sehen kann. Dem Einfluss von Burnham werde ich bei meiner nächsten Lektüre des Romans einmal genauer nachgehen. Beim letzten Mal kannte ich die Verbindung noch nicht.

    Der Roman ist also wie sein Verfasser politisch komplexer als man zunächst einmal anzunehmen geneigt ist. Dabei kann man, wo Sie schon vom CCF reden, nicht außen vor lassen, dass Orwell eine Liste mit den Namen von 38 Personen, die ihm kommunistischer Sympathien verdächtig erschienen, an das äußerst sinistre Information Research Department (siehe englischsprachiger Wikipedia-Eintrag) geliefert hat (heutige Entsprechung: Integrity Initiative). Und natürlich spielt die BBC ebenfalls eine Rolle.

    Das IRD arbeitete mit der CIA unter anderem in dem riesigen Projekt zusammen, für das der Name CCF steht, mit dem die anti-kommunistische Linke gegen die Sowjetunion instrumentalisiert wurden. Es war ein meisterliches Konzept, weil es an authentische und zum guten Teil wohlbegründete politische Haltungen ankoppelte, und diese (meist ohne dass die Betroffenen davon wussten) für die Zwecke des Kalten Krieges einspannte.

    Unter anderen Vorzeichen trägt dieses Projekt bis heute Früchte. Womöglich sogar heutzutage mehr denn je, da die CIA seit Trump unter Linksliberalen zu den Guten gehört – weil die CIA Trump nicht mochte und einen „soft coup“ namens Russiagate gegen ihn durchführte, und zwar nicht etwa weil Trump ein rechtspopulistischer, misogyner, krypto-rassistischer und proto-faschistischer Schlangenölverkäufer war, sondern weil er das Verhältnis zu Russland normalisieren wollte. Woran alle interessiert sein sollten.

    „Motormouth“ Ken Jebsen ist zwar anstrengend, liegt aber richtig, wenn er in dem heute gesehenen Rubikon-Gespräch von der „CIA-Linken“ spricht. Ich rechne Lars Quadfasel dazu, der in der „konkret“ leider Gottes lange Artikel schreiben darf, in denen er dem ehrenwerten Jeremy Corbyn, der allenfalls mal für die Rechte der Palästinenser eingetreten ist, „tiefsitzenden Judenhass“ bescheinigt und die Great Barrington Declaration abtut (Pompeo und Fauci sind ganz seiner völlig unbegründeten Meinung). Die Haltung der Zeitschrift zu Assange spricht ebenfalls Bände. Würden Kronauer und Sokolowsky und wenige andere nicht mehr für das Blat schreiben, hätte ich mein Abonnement längst gekündigt (obwohl es Sokolowsky mit Houllebecq ähnlich geht wie Ihnen mit Neil Young…).

    Aber ich schweife ab…..

    Der CCF beziehungsweise das Projekt der CIA, die Linke für sich zu gewinnen (und selbst einige der Protagonisten bei der CIA, etwa Tom Braden, waren ja auch wirklich links im Sinne von linksliberal; nicht umsonst verdächtigte McCarthy die CIA linker Umtriebe), ist ein weites Feld. Hier ist noch ein wenig Material:

    Literaturtipp: Joel Whitney, „Finks“. Der CCF im Bereich der Literatur.

    https://www.joelwhitney.net/finks.html

    Ian MacEwans Roman „Sweet Tooth“ handelt von dem „Encounter“-Skandal. Ich finde ihn nicht sonderlich gelungen, da hätte man sich einen John Le Carré gewünscht, aber interessant ist er allemal.

    In Deutschland übernahm bezeichnenderweise die ZEIT die von der CIA kofinanzierte Zeitschrift „Der Monat“. Josef Joffe rezensierte Frances Stonor Saunders‘ „The Cultural Cold War“ für die NYT:

    https://www.nytimes.com/2000/04/23/books/america-s-secret-weapon.html

    Den Artikel von Nigel Morris lese ich mir gleich durch. Danke für den Hinweis!

    Das ist ein interessantes Thema, und ich freue mich, dass Sie es in Ihrem schönen Blog angesprochen haben.

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