Gewohnheiten sind tückisch. Sie schleichen sich ein, und ehe man irgendwas davon bemerkt, sind sie da und man bemerkt sie nicht mehr.
Zum Beispiel beschlossen wir neulich, weil wochenendbedingt unsere bevorzugten Isarbadeplätze sämtlich total übervölkert waren, mal eine andere Stelle am ferneren Flußufer auszuprobieren. Und stellten fest: Da ist es ganz nett, aber liegen kann man nicht gescheit, ins Wasser kommt man auch nicht gescheit hinein, und wenn man drin ist, kann man nicht recht was damit anfangen. Den Leuten um uns herum wäre es an unseren Lieblingsstellen wahrscheinlich ähnlich gegangen: Lauter Steine! und saugefährliche Wasserfälle! Urg!
Oder anderes Beispiel: Viele Jahre lang führte mein alter Kühlschrank ein bescheidenes, beschaulich und hoffentlich recht zufriedenes Leben, dann wurde er unheilbar krank und mußte durch einen Nachfolger ersetzt werden. Der erwies sich als rechtes Gelumpe, das außer Eis produzieren und dabei bedrohlich lärmen wenig konnte, und blieb daher nur eineinhalb Jahre. Der nächste kam schon unbrauchbar an, mit Dellen, verzogener Tür und Schaumstoffwarzen. Nun steht er seit zehn Tagen verpackt im Hausgang und wartet zwecks Umtausch auf seine Abholung, die vom Transportunternehmen bereits zweimal angekündigt wurde, aber aus unbekannten Gründen nicht stattgefunden hat.
Keine Sorge, ich will weder auf die Post schimpfen noch tiefgründige Gedanken zum Thema „Nachhaltigkeit“ spinnen. Aber seit wir keinen Kühlschrank mehr haben, ertappe ich mich dabei, wie ich morgens und abends und zwischendurch immer wieder instinktiv dort hingreife, wo einst die Kühlschranktür war. Und zwar ohne zu wissen, was ich überhaupt rausholen wollte. Reine Gewohnheit!
Ähnliches geschieht, wenn man sich mit modernen Menschen über den verwüsteten Zustand unserer Umwelt unterhält: Ja ja, sagen sie, da müßte schon was getan werden, einschränken und sparen, wiederverwenden und recyceln, bewußter leben, verzichten, weniger verbrauchen und so weiter. Dann stellen sie fest, daß sie nach dem Grillfest an der Isar den Plastikmüll und das Leergut, die sie zuvor hoch und heilig wieder einzusammeln sich vorgenommen haben, im Dunkeln gar nicht mehr sehen, lassen alles liegen, steigen in den SUV-Panzer, bestellen bei Amazon ein neues Elektroradl und fliegen am nächsten Tag nach Bali oder San Francisco.
Einem typischen Vertreter der bayrischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts wäre nichts davon je in den Sinn gekommen. Denen, die heute so leben, kommt es auch nicht in den Sinn. Weil sie es gewöhnt sind.
Nun sind sie und wir allerdings an einem Punkt der Weltgeschichte angekommen, wo die grausigen Folgen all dieser und vieler anderer Gewohnheiten nicht mehr zu übersehen sind und außerdem klar ist, daß es so nicht mehr lange weitergehen kann. Oder sagen wir so: Wir haben den Punkt erreicht, an dem im Prinzip jeder das weiß. Jeder weiß, daß in den nächsten hundert Millionen Jahren nie mehr so viel Öl verbrannt werden wird wie in den letzten fünfzig Jahren. Jeder weiß, daß der ganze Müll und Dreck, das Gift und der sonstige Schlamassel, den der Mensch durch seine Ölverbrennerei in die Welt gepestet hat, in den nächsten hunderttausend Jahren (und vieles davon noch weitaus länger) nicht mehr weggehen wird. Und jeder weiß, daß in (welthistorisch betrachtet) wenigen Jahren die ganze Ölzivilisation zusammengebrochen sein und von den dann lebenden Menschen kaum einer erklären oder verstehen wird, was das für ein Wahnsinn war, der ungefähr von 1850 bis 2030 auf dem Planeten Erde tobte.
Man wird rat- und schimmerlos vor den unfertigen Ruinen wahnwitziger Bauprojekte wie Großflughäfen und Bahnhöfen stehen, von denen im Prinzip jetzt schon jeder weiß, daß sie niemals fertig werden – ungefähr so wie der Turm von Babel oder der Kölner Dom, der auch 300 Jahre lang unfertig in der Gegend herumstand, bis ein Haufen Romantiker auf die Idee kam, das Ding doch noch weiterzubauen. Daß im Jahr 2340 jemand zur Schaufel greift, weil er romantische Gefühle für eine längst vergessene S-Bahn-Stammstrecke hegt, ist indes unwahrscheinlich. Und mit einem Großflughafen kann dann sowieso niemand mehr was anfangen.
Es ist aber halt so, daß Gewohnheiten nicht einfach so weggehen und Vernunft kein kollektives Phänomen ist, sondern nur hier und da individuell aufscheint, um gleich wieder zu verglimmen. Drum predigt der Mensch Verzicht und Einsicht, denkt dabei aber im Hinterkopf schon mit, daß es doch im Grunde egal ist, ob das restliche Kerosin in einem oder in zehn Jahren verpufft wird, ob zu den drei Billiarden Tonnen Plastikmüll noch ein paar tausend Tonnen dazukommen. Drum auch erfreut er sich bester Stimmung, wenn er die Titel- und Schlagzeilen der deutschen Einheitspresse der letzten Wochen liest: „Ich mag Fleisch. Ich fliege gern. Ich fahre Auto. 40 Ideen, wie Sie trotzdem klimafreundlicher leben können!“ (Focus, 8. Juni), „Richtig und gut leben. Die Welt retten, ohne sich einzuschränken – geht das?“ (Spiegel, 13. Juli), „Der Mythos vom Verzicht. Kein Fleisch, kein Flug, kein Auto – der Mensch soll auf immer mehr verzichten. Doch die Enthaltsamkeit des Einzelnen hilft nicht weiter!“ (Die Zeit, 11. Juli).
Selbstverständlich tut sie das nicht. Es gibt keinen Einzelnen, und es gibt nur Einzelne. Der Einzelne merkt nichts von seinen Gewohnheiten, und wenn in seinem Hinterkopf die Gesamtheit der Einzelnen ein zaghaft alarmierendes Stimmchen erhebt, dann ist das schon ganz okay.
Aber auch egal, eben. Es geht ja nur um ein paar Jahre.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.