(Aus dem tiefen Archiv:) Television – „Marquee Moon“ & „Adventure“

„Vier Rebellen, die ihren Aufschrei in Graffiti-Manier auf die bröckelnden Fassaden der Betongebirge malen.“ Schrieb 1978 der Musikexpreß über Television: vier dürre, relativ kurzhaarige Burschen aus New York mit sensibel-intellektueller Anti-Rock-Ausstrahlung, die 1974 gemeinsam zu musizieren begonnen hatten und nun so etwas wie das Aushängeschild der US-New-Wave geworden waren: Tom Verlaine (ein Straßenpoet aus dem Dunstkreis von Patti Smith), Richard Lloyd, Fred Smith (der Proto-Punk und Bandgründer Richard Hell ersetzte und gerne mit dem gleichnamigen Gitarristen der Detroiter Anarcho-Rocker MC5 verwechselt wird) und Bill Ficca.

Manchmal lohnt es sich beim Bemühen um Verständnis für Sätze und Bilder dieser Art, sich hineinzudenken in den Hörkosmos jener Zeit, in der (nur als Beispiel) ein Stranglers-Bassist (kurze Haare! gewaltbereits Ausstrahlung! Lederjacke!) auf dem Titelbild derselben Zeitschrift den Aufschrei „faschistische Arschlöcher“ auf der Leserbriefseite zur Folge hatte. In der das erste Television-Album von ratlosen Plattenverkäufern ins (noch recht schmale) Punk-Regal gestellt wurde und dort (neben der ersten Ultravox!-LP) der einzige Andockungspunkt für den „normalen“ Musikhörer war (für den es zwar außer ELP, Floyd, Yes, Genesis und, ähem, Rainbow auch noch etwas gab, aber eben vor allem „faschistische Arschlöcher“).

An dieser Rock-Canyons zwischen verfeindeten Lagern überschreitenden Wirkung war vielleicht „Old Shatterword“ Nick Kent schuld, Rezensent des Londoner New Musical Express, der im Februar 1977 anläßlich des Erscheinens von „Marquee Moon“ postulierte, die Platte habe mehr mit dem Westcoast-Sound der sechziger Jahre zu tun als mit Punk, damit zwar verhornte Old-Fart-Ohren öffnete (die „Ultravox!“ auch bloß gekauft hatten, weil es hieß, die Band sei „die Genesis der New Wave“), aber auch einem kleinen Nachwuchs-Punk wie diesem hier die Haare erst so richtig zum Stehen gebracht hat: Endlich, endlich, endlich kommt so eine Platte, und schon stellt jemand Jefferson Airplane, Grateful Dead, Neil Young daneben? Fucking hell!

Es war ja auch – im Gegensatz zu den übrigen gut 3.000 Wörtern (Herrgott, was für Zeiten!) von Kents Lobeshymne im NME – nicht wahr. Das einzige, was Television und die LSD-getränkten San-Francisco-Hippies gemeinsam hatten, war, daß sie Gitarrensoli spielten, was in der Londoner Punkszene (wo Television ihre größten, das heißt: überhaupt Erfolge feierten), angeblich verboten war (aber auch das ist nicht wahr). Da könnte man genauso gut behaupten, die Bay City Rollers hätten recht viel mit Velvet Underground zu tun.

Ich würde sagen: Television gelang als einziger Band überhaupt der Seiltanz zwischen dem „alten“ (z.B. im Prog-Rock verkörperten) Anspruch, „gute“ Kunst einer fürchterlichen Welt entgegenzusetzen und, und dem neuen (Punk), der fürchterlichen Welt mit „fürchterlicher“ Kunst einen Spiegel vorzuhalten, mitsamt, bei aller Coolness, dessen Dringlichkeit: Die ersten Worte auf „Marquee Moon“ lauten „What I want / I want NOW!“.

Aber gut: Richard Lloyd, eine der beiden Gitarrenkammern, aus denen das Herz von Television bestand (und deren jeweilige Soli auf den Plattenhüllen genauestens vermerkt wurden!), hat kürzlich erklärt, wie sehr er von Quicksilver Messenger Service beeinflußt war, und die Gitarrenmelodie von „Days“ ist die Byrds-Version von „Mr. Tambourine Man“, rückwärts gespielt. Also meinetwegen. Vielleicht war in diesem Fall mal wieder Attitüde und Optik der Punkt auf dem i: (relativ) kurze Haare, ein körniges Coverphoto in schmutzigen Rinnsteinfarben (und ganz ohne gebatikte Sonnenuntergänge und Blubberblumen!), hohe Backenknochen, tiefe Augenringe, der Bandname (zuvor, mit Richard Hell, hießen sie übrigens The Neon Boys) – hier sprach die Großstadt, der technoide, futuristisch-verwahrloste, seelenlose, lebensgefährliche Beton-Moloch, der erst 1977 so richtig zum Thema und Sujet von Rockmusik wurde (im Gegensatz zu damals konsenten Versatzstücken und Denkleinwänden wie Landkommune, Blumenwiese, Hobbit-Dorf und fremdplanetarischen Tempeln). Die: Realität. Heißt natürlich auch: die Romantik der Schrottplätze, die Tom Verlaine so liebte; die Romantik eines Mannes, den seine High-School-Mitabsolventen zum „Most Unknown“ wählten.

Aber all dies ist Geschichte, eine relativ randständige dazu; denn Television gab es nur zwei Platten lang: auf „Marquee Moon“ folgte ein Jahr später „Adventure“, denn war die Band kaputt, und die Hitstatistiken führen Television bloß als winzige Fußnote. 1990 erschien zur ersten Reunion das dritte Album „Television“, das nun wirklich fast gar niemand mehr kaufen wollte; trotzdem wird der Kreis derer, die bei der Erwähnung des Bandnamens leuchtende Augen bekommen und ganze Kontinente durchqueren, um die Schauplätze der sporadischen Auftritte zu erreichen, nicht kleiner. Der 2001 ausgebrochene Hype um die neue Generation New Yorker Bands (The Strokes et al.), die sich nach Kräften bemühten, wie Television zu klingen und auszusehen, tut nun endlich Wirkung: Das Liebhaber-Label Rhino Records veröffentlicht die ersten beiden Television-Alben neu, samt Bonus-Tracks und Textabdruck, angemessen karg, aber hübsch verpackt und, ebenso angemessen, ohne großes Reklamegetrommel und „Essentiell! Ultimativ!“-Gebrüll.

Und der Wiederhörer stellt fest: Image hin, Bilder her – es ist die Musik, die „Marquee Moon“ noch heute nagelneu, einzig, umwerfend, perfekt und gültig macht und Television von, sagen wir mal: Slaughter & The Dogs unterscheidet (die ähnlich aussahen). Es sind die verzwickten, vertrackten und verschobenen, dabei so simpel wirkenden Rhythmen von Billy Ficca (den Patti Smith schon 1974 mit Charlie Watts verglichen hat, was wir aber gar nicht wissen wollen), die hierzu kongenialen Baßläufe, die Fred Smith als fragile Streben in ein grellblaues Gerüst schraubte. Die jammernde, trotzig-verzweifelte Stimme von Tom Verlaine. Und vor allem die Gitarren: monotone, ultraprimitive Riffs (die Velvet-Underground-Anbindung, wenn man mag), die nichts mit Blues, Led Zeppelin und sonst was zu tun hatten, sondern plötzlich aus dem Nichts einfach da waren, und bis ins feinste Mikrodetail ausgefeilte Perlenketten von Melodiesoli (ohne Vorverstärker, Verzerrer und ähnliches Gelumpe, was Toningenieur Andy Johns zu der entgeisterten Frage veranlaßte: „What kind of trip is this?“), nicht selten zweistimmig und ebenfalls von Pop- und Rock-Mustern Welten entfernt, noch nicht einmal dem Jazz entlehnt, wie manch verzweifelter Schubladensucher postulierte; scheinbar verspielt, doch eisern durchkomponiert (die als Bonustracks enthaltenen „Alternate Versions“ verdeutlichen den Prozess), üppig, doch extrem reduziert, verschnörkelt, doch absolut schnörkellos. Und eben kein Improvisationsgedudel, Herr Kent.

Alles zusammen ergab und ergibt die wirksamste Hypnosepackung, die die Pop-Musik vielleicht je hervorgebracht hat – Ekstase ohne Schweiß, Hitze ohne Glut, Perfektion ohne Fundament. Ein gänzlich unverzichtbares, makelloses, vom Zahn der Trendzeit nicht anzukratzendes Meisterwerk. Und nicht zu überbieten, Punkt.

Dazu gibt es neben drei „Alternate Versions“ die 75er Single „Little Johnny Jewel“, die Television (noch mit Hell am Bass) in jener Form zeigt, in der sie bei ihrem ersten Auftritt in der Punk-Brutstätte CBGB hochkant durchfielen: wackelig, unsouverän; bereit, alle Brücken zur zeitgenössischen Musik abzubrennen, aber nur momentweise genialisch. Und das oft live gespielte, aber im Studio nie fertiggestellte Instrumental „A Mi Amore“. Hier stößt die Bescheidenheit der Aufmachung doch an ihre Grenzen: Es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, die Zugaben auf einer Extra-CD unterzubringen, damit „Marquee Moon“ bleibt, wie es ist? Man klebt doch klassischen Gemälden auch keine Vorstudien an den Rahmen.

Darf ich nun noch eine Lanze für „Adventure“ brechen, „eine der enttäuschendsten Platten, die je veröffentlicht wurden“ (Mark Paytress)? Es ist ja wahr: Das zweite Album kam ein bißchen schnell, die Song-Decke war ein wenig dünn (als Bonustracks gibt es hier den glücklicherweise ursprünglich nicht enthaltenen, arg ruppig-zackigen Titelsong, ein frühes „Glory“ und die knallige Singlefassung von „Ain’t That Nothin’“ – plus selbiges auch noch mal als lange instrumentale Urversion, die mit einem nicht zu überhörenden Rolling-Stones-Zitat für Gänsehaut sorgt). Man konnte damals auch (zumal die Gitarren scheinbar kaum mehr etwas voneinander wissen wollten) eine gewisse Überkandidelung und Ermüdung heraushören, wenn man wollte.

Das wollten viele, die Zeiten waren so: Der glitzernde New-Wave-Wirbelsturm beschleunigte sich exponentiell, da konnte man nicht dulden, daß die Pioniere sich nicht ebenfalls beschleunigten, extremer, radikaler und rasender wurden. So was trübt den kritischen Blick. Stimmt ja auch, daß der „Foxhole“-Refrain („Foxhole! Foxhole!“, wie eine Kasperltruppe) höchstens, ähem, erheiternd wirkt, wenn man sich gerade eine UK-Subs-Single ins Hirn genagelt hat. Und natürlich klang „I Don’t Care“ (fürs Album in „Careful“ umbenannt, weil die Ramones einen Song gleichen Titels hatten) bei Sex Pistols und Ramones ein Stück dringlicher.

Aber man kann das auch andersherum sehen: „Adventure“ ist (zumal in klanglich deutlich verbesserter Version!) entspannter, gelassener, ein bißchen spätsommerabendlicher , verträumter, auch melancholischer als das Debüt, und das ist, wenn man gerade mal nicht vorhat rauszugehen und die Welt zu ändern oder zu zerschmettern, bisweilen die schönere Variante. Im Vergleich der Opener „See No Evil“ und „Glory“ sieht zweiterer doof aus, aber ein unwiderstehlicher Ohrwurm mit einem mordscharmanten Gitarrenthema ist er halt doch. Wenn das dritte Strokes-Album nur annähernd so gut geworden wäre wie „Adventure“, hätten die Buben ausgesorgt gehabt, künstlerisch; und falls jemand wissen möchte, wo R.E.M. herkommen: hier. Oder: „Wer die Ohren aufsperrt, kommt bald dahinter, daß sich auch hier ein gänzlich neuer Klangkosmos auftut.“ Stand 1978 im Musikexpreß. Und manchmal stimmt so was ja auch.

(geschrieben im Spätherbst 2003 für den Musikexpreß, dort gekürzt erschienen)

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