(Aus dem tiefen Archiv:) Ende einer Kraut-Kindheit oder: Wieso Tangerine Dream an Punk schuld waren

(Anmerkung: Dieser Text entstand Mitte September 2000 als Beitrag für das von Frank Schäfer herausgegebene Lesebuch »The Boys are back in Town – mein erstes Rockkonzert«, das Ende 2000 im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschien.)

Mein erstes Konzert war eigentlich nicht mein erstes Konzert; das will ich kurz erklären.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag während der Olympiade 1972, als ich mit meinen Eltern am übervölkerten Ufer des Olympischen Sees in München entlang ging. Da gibt es eine Steinbühne; auf der waren Leute mit Beschäftigungen beschäftigt, die mit Popmusik zu tun hatten. Ich wollte stehenbleiben, mein Vater fragte die Leute, wo sie herkommen, erfuhr etwas von Toronto oder Toledo, und dann weiß ich noch den bedauernden Gesichtsausdruck eines der Männer, dessen deutscher Wortschatz sich auf »kein Strom« beschränkte. Mein allererstes Konzert war also überhaupt keines.

Einige Zeit später nahm mich mein Vater eines Nachmittags auf eine Wiese mit, auf der eine wackelige Holzbühne stand. Die betrat ein Mann mit Gitarre, der schüchtern verkündete, er spiele nun ein Lied von Wolf Biermann, und er spiele heute überhaupt nur Lieder von Wolf Biermann, was sich so lustig anhörte, daß ich es nicht mehr vergaß. Was er dann wirklich sang, habe ich dagegen schon lange vergessen, ebenso wie das, was die Band nach ihm spielte, die Subject Esquire hieß und die ich vielleicht gar nicht mehr richtig zu hören bekam, weil es spät wurde.

Im Sommer 1976 begann ich mit meinem älteren Cousin Konzerte zu besuchen, die jeden Sonntagnachmittag auf jener Steinbühne am Olympiasee stattfanden. Da spielten die Größten der deutschen Rockszene: Rembremerdeng, Franz K., Fargo, Cry Freedom, Harlis, Ramses, Guru Guru, dünne Männer mit wallenden Matten in einer Mischung aus Glockenjeans, lila Batikspirale und indischen Teppich-Stoffen, deren Ansagen meistens mit »okay« begannen und die dermaßen selbsternannt unkommerziell waren, daß überhaupt niemand mehr zu sagen wußte, was eigentlich kommerziell war, von Udo Jürgens abgesehen. Und obwohl ich von den meisten davon so begeistert war, daß ich schon nach dem ersten Sonntagnachmittag am Theatron (so hieß die Steinbühne) endgültig beschloß, selbst Musiker zu werden, sind mir diese Konzerte nicht so richtig als Konzerte in Erinnerung geblieben. Ein Konzert: dazu gehörten Plakate an Litfaßsäulen, wochenlang vorher erworbene Karten, wissende Vorfreude und schulische Fachsimpeleien, dazu gehörte auch eine Halle und ein abendlicher Termin. Mein erstes echtes Konzert fand also erst am 27. Oktober 1976 statt.

Da wurde es aber auch Zeit. Alle anderen (so geht das, wenn man sich nur mit Älteren abgibt) hatten ihren ersten Konzertbesuch längst hinter sich – ich war weder damals bei Slade dabeigewesen (Protestgeheul) noch kürzlich bei Jethro Tull (was mir sehr wenig ausmachte). Offenbar war mein Vater derselben Meinung, denn ich hatte nur beiläufig erwähnt, daß mir nachmittags beim Spazierenradeln ein Plakat mit der Aufschrift »The Magic of Tangerine Dream« aufgefallen war, schon rückte er mit zwei Karten an – alleine durfte ich natürlich noch nicht in einen Konzertsaal; schließlich war ich erst kürzlich dreizehn geworden.

Tangerine Dream waren im Kanon der in meinem Freundeskreis anerkannten Bands ziemliche Paradiesvögel. Zwar hatten auch die meisten anderen einen Mann in ihren Reihen, der einen von diesen gigantischen Synthesizern bediente, an deren aufrecht stehender Vorderfront aus tausenden von Steckbuchsen jede Menge Kabel raushingen, die nach einem kryptischen System verbunden werden konnten, um »annähernd 28 Millionen Klangmöglichkeiten« zu erzeugen (wie man aus dem »Rocklexikon« erfuhr, das mangels vernünftiger Literatur zum Thema eine Art Bibel geworden war). Man schob sich wissend Begriffe wie »Sinuston«, »Cluster«, »white noise« und »pink noise« zu und erstarrte in Ehrfurcht, wenn es dem Yes-Keyboard-»Magier« Rick Wakeman (aus heutiger Sicht die Verkörperung einer Mischung aus immensem Talent, Größenwahn, bierseligem Trampelhumor und Allround-Neurose) wieder einmal gelang, seine zirpenden Improvisationen in der Simulation eines Bombenangriffs enden zu lassen. Aber Tangerine Dream gingen noch viel weiter, verzichteten ganz auf überkommenen Ballast wie Schlagzeug, Baß und Gesang und saßen vielmehr zu dritt an diesen musikalischen Raumschiffbrücken, mit gebeugtem Rücken und der festen Intention, »kosmische Kuriere« (POP) darzustellen. Ihre Musik war auch im weitesten Sinne kein Rock mehr, sondern bestand aus programmierten Grundsequenzen, über die die drei Männer einen improvisierten Asphaltbelag aus Melodien und Disharmonien legten. Albumtitel wie »Phaedra«, »Rubicon«, »Atem« oder »Ricochet« klangen erhaben und regten die Phantasie des Früh-Teenagers an, der mit Enterprise, Time Tunnel und Perry Rhodan sozialisiert worden war und auf einer Science-fiction-Grundstimmung durch die lästige schulische und heimische Realität einer strahlenden Zukunft entgegenrauschte. Deren Soundtrack würde wie Tangerine Dream klingen, das stand fest, und mit diesem Argument ließen sich auch die läppischsten Kirmesorgelmelodien zu großer, wichtiger Kunst aufbauschen.

Von den an Tangerine Dream beteiligten Musikern ist mir nur noch der Name Edgar Fröse in Erinnerung, weil er sich so zweielei anhörte, daß man ihn musikalischen Novizen gegenüber nicht gerne erwähnte. Dieser Mann sah sehr ernst und wie das Gegenteil eines Popstars aus – was er ja auch nicht war; seine Mission und Aufgabe war es vielmehr, das Weltall in den ultimativen Popstar zu verwandeln. Edgar Fröse betrat am 27. Oktober 1976 zusammen mit seinen zwei Kollegen die Bühne des Münchner Circus-Krone-Baus, auf der die drei weitgehend identischen Arbeitsplätze der Musiker aufgebaut worden waren; alle drei setzten sich mit dem Rücken zum Publikum an ihre Stationen (die sie andersrum vollständig verdeckt hätten) und begannen mit der Arbeit.

Haschisch war damals verboten, billig und überall zu haben und gehörte zu einem Konzert dazu wie der süßliche Gestank ranzigen Altöls zu den McDonald’s-Filialen, die zur selben Zeit auch gerade begannen, aus dem Boden deutscher Städte zu sprießen wie genmanipulierte Colani-Boviste. Das Licht im Saal erlosch, bunte Lampen flammten auf, um die Rücken und Geräte der Musiker zu illuminieren, und im selben Augenblick begann eine Armee von Joints, die Luft in eine Atmosphäre zu verwandeln. Es dauerte nicht lange, bis die Sanitäter – in der Masse graugrüner Gammelkleidung durch orangerote Uniformen leicht zu erkennen – durch die Menge wuselten, um Kreisläufe wiederherzustellen. Aus den Boxen erscholl derweil eine hysterisch übersteuerte elektronische Tonsequenz, der die Tangerine-Dream-Männer mit zwitschernden, heulenden und klimpernden Zwischengeräuschen erweiternd zu folgen suchten. Die Dunkelheit im Saal, der betäubende Rauch, die infernalische Lautstärke und das eklatante Mißlingen der Improvisationsversuche machten mir schlagartig klar, daß der Weltraum, nach dem ich mich so sehnte, nicht nur erschreckend dunkel, weit und tief, sondern auch mit namenlosen Monstren bevölkert war, denen zu begegnen mir ein weniger wünschenswerter Aspekt der kosmischen Zukunft schien.

Das erste »Stück« dauerte ein paar Stunden oder vielleicht auch nur fünfzehn Minuten. Als es vollbracht war, verließen die Musiker mit derselben lässigen Grußbewegung eines gestreckten Arms (ohne das Gesicht nach hinten, also ins Auditorium zu wenden) die Bühne und kehrten nach einer Pause zurück, um weiterzumachen. Diesmal erhob sich Edgar Fröse nach einiger Zeit von seinem Gerät, schnallte sich eine Gitarre um und erzeugte in angestrengter Versenkung eine nicht endenwollende Flut unappetitlicher Rückkoppelungs- und Kreischgeräusche. Ich rutschte in meine Sitzschale wie ein Schluck Wasser und wünschte mir, er möge lauter lärmen, damit ich nicht zum Ohrenzeugen längst erwarteter Magenentleerungen werden müsse. Er tat es, allein meine Angst vor einem plötzlichen Rülpsplätschern in unmittelbarer Nähe blieb.

Es folgte eine weitere Pause, und – wenn mir da meine Erinnerung keinen Streich spielt – noch eine, was jedoch nicht folgte, waren jene scheinbar federleichten, faszinierend utopischen Melodiegewebe, die ich von Tangerine-Dream-Platten kannte. Was hier stattfand, erinnerte an Konkretes: zum Beispiel daran, wie es sich anhören könnte, wenn man aus Versehen in eine Müllverwertungsanlage gerät oder von der Turbine eines Jumbo-Jet eingesaugt und während einer Transatlantikfluges einem vollständigen Verwertungsprozeß unterzogen wird.

Doch – es waren noch (mindestens) zwei Pausen, aber einige Zeit nach der zweiten befand mein Vater, es werde nun langsam spät und Zeit. Die Blöße des sofortigen erfreuten Aufbruchs konnte ich mir nicht geben, zumal er die Karten bezahlt hatte, also schickte ich ihn zum Warten an den Eingang vor und ertrug noch ein paar Minuten lang die eiserne Flut brachialer Dröhnung, ehe ich ihm folgte.

Danach habe ich mir sehr lange Zeit, fast ein Drittel Leben, keine Tangerine-Dream-Platte mehr angehört, weil der Klang ihrer Synthesizer-Burgen in meiner Gegenwart durch einen nun wahrlich utopischen synästhetischen Effekt automatisch eine Geruchsmischung von Magensäure, wochenlang verschwitzten Jeans und Oregano (das Haschisch war – wie gesagt – billig) erstehen ließ. Ihre Zeit war aber ohnehin reif. Durch die Beteiligung an Film- und Fernsehsoundtracks zu irdischen Beschallungsarbeitern banalisiert, verlor die Band ihre Faszination und zieht heute als nostalgischer Wandercircus in Sachen »Die Zukunft von gestern« immer noch durch die Lande – inzwischen angemessen dynastisch ergänzt durch Edgar Fröses Sohn – und veröffentlicht in immer kürzer werdenden Abständen neue Platten, die niemand mehr hören will, seit sich herausgestellt hat, daß einerseits Tangerine Dream weniger mit der kosmischen Zukunft zu tun hat als man dachte, und andererseits ohnehin die Zukunft sich als Tummelplatz verblödeter BWL-Jünger erwies, dem man besser fernbleibt. So landete Perry Rhodan im Keller, Enterprise im Quotenloch, die Batikspirale im Putzeimer, und am musikalischen Horizont erschienen wesentlich sympathischere Gestalten, die für Kiffer und Althippies nichts übrig hatten, deren folgerichtiges Schlagwort »No Future« einen blankliegenden Nerv traf und mit deren noch weitaus lauterem Lärm man immerhin etwas anfangen konnte, die Welt aus den Angeln heben zum Beispiel, oder wenigstens die Eltern dermaßen erschrecken, daß ihnen der Glaube, sie seien ebenfalls noch recht jung, so schnell verging wie Hören und Sehen. Welche Erkenntnis ich ebenso wie die glückliche Landung in einem späteren Konzertsaal, wo The Clash meinem Leben einen Sinn gaben, einer verqueren biographischen Logik zufolge letztlich Tangerine Dream verdanke. Und dafür bin ich ihnen nun doch sehr dankbar.

Ach so, und eigentlich war mein erstes Konzert damit natürlich doch wieder nicht mein erstes Konzert, irgendwie.

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