(Vorbemerkung: Gestern vor 25 Jahren, am 23. Mai 1997, stellte die Band Radiohead in Barcelona ihr Album „OK Computer“ vor. Ich war dabei und schrieb darüber die folgende Reportage, die leider nur in einer gekürzten Version erhalten ist.)
Sketches from Spain
Barcelona im späten Frühling 1997: Die Sonne schmilzt über die Stadt wie eine Kugel Vanilleeis, ein milder Wind träumt vom nahen Meer, auf Antonio Gaudis architektonischen Kurven taumeln die Blicke der Touristen, die zu tausenden aus Flugzeugen, Schiffen, Zügen und Autos in die Schluchten des Hexenkessels quellen.
Dort irren sie dann herum. Italiener versuchen, nicht spanisch zu sprechen; Amerikaner verzweifeln, weil sie nichts Eßbares finden. Japaner photographieren alles, was nicht aus Antimaterie besteht; Deutsche, im Schlepptau ihres Rennfahrers angereist, stehen in Jogginganzügen schwitzend am Hafen und deuten in die Ferne: Da müßte Mallorca sein.
Und mittendrin fünf blasse Engländer, die in dem Rummel ein bißchen verloren wirken. Dabei sind sie unter den vielen Ausländern die einzigen, deren heutige Ankunft Plakate verkünden: „Presentación Mundial de su último album“ steht an jeder Litfaßsäule zu lesen.
Die Botschaft wird verstanden: Als die Sonne hinter den nahen Bergen versunken ist, scheint sich die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt in einem Punkt zu konzentrieren, und knapp 2.000 Menschen im für etwas weniger Leute gedachten „Zeleste“ legen jede katalanische Zurückhaltung ab, als die ersten Akkorde von „The Bends“ erklingen, dem Titelsong jenes Albums, das Radiohead fast unbemerkt zu „richtigen“ Stars werden ließ. Knapp zwei Jahre nach dem verspäteten Überraschungs-Erfolg der Single „Creep“ veröffentlicht, war es aus den englischen Charts einfach nicht wegzukriegen, warf fünf Hits ab und wurde zum Millionenseller. Grund genug für das Label Parlophone, die Vorgaben für den Nachfolger auf diese Formel zu reduzieren: „Nehmt auf, solange ihr wollt, wo ihr wollt, mit wem ihr wollt.“
Lähmender Erfolg
„Natürlich wußten wir, daß dahinter eine ganze Menge Erwartungen lauerten“, erzählt mir am nächsten Tag Jonny Greenwood und visiert mit seiner Kamera über Barcelonas Dächer in die Ferne, „aber wir wollten auf keinen Fall noch mal erleben, was wir mit ‚The Bends‘ erlebt hatten. Das waren zwei Monate in der Hölle.“ Die sich in den Songs hörbar niederschlug: Eine faszinierende, widersprüchliche Mischung aus epischer Melancholie und trotziger, wütender Verweigerung ließ Radiohead aus der gleichzeitig abrollenden Britpop- und Lad-Rock-Welle herausstechen wie ein dunkler Stern.
Personifiziert ist diese musikalische Zerissenheit in Sänger Thom Yorke, der auch ein knappes Drittel zu der ungewöhnlichen Drei-Gitarren-Wand der Band beiträgt. Nicht zufällig ist Yorke seit einer gemeinsamen Tournee vor zwei Jahren eng mit R.E.M.-Sänger Michael Stipe befreundet, mit dem er die Skepsis gegenüber Ruhm, Rampenlicht und großen Menschenmengen teilt: „Es ist ein schönes Gefühl, wenn Leute dir erzählen, daß deine Musik für sie wichtig ist“, beschreibt Thom, der sich als Kind mehreren Operationen an seinem ursprünglich geschlossenen linken Augenlid unterziehen mußte, in der tiefen Nacht nach der Show, als wir uns zufällig am Tresen einer Bar wiedertreffen, seine widersprüchlichen Empfindungen, „aber auf großen Bühnen bist du nicht mehr du selbst. Es ist ein anderer Zustand, den man nicht einfach herstellen und wieder ablegen kann. Du wirst zum Ereignis, und damit kann ich nicht umgehen. Es lähmt mich.“
Jonny erinnert sich an erste Begegnungen an der gemeinsamen Oxforder Schule, als die Band noch On A Friday hieß: „Mein Bruder“ (Bassist Colin Greenwood) „nahm mich manchmal mit zur Probe. Sie wollten mich aber nicht in der Band haben, weil ich eigentlich kein Instrument spielen konnte, sondern nur alles mögliche ausprobierte, um sie zu beeindrucken. Es war sehr experimentell, Thom brachte Bänder mit Drum-Loops mit und improvisierte dazu Texte, die genauso schizophren klangen wie die Musik.“
Zu schnell aufgetaucht
Obwohl sich die fünf nach dem Schulabschluß nur noch in den sommerlichen Semesterferien zum Proben treffen konnten, ging ab 1991 alles sehr schnell: Vier Jahre nach dem ersten Auftritt in der Oxforder „Jericho Tavern“ wimmelte der Club plötzlich von Talentsuchern, On A Friday unterschrieben bei Parlophone, benannten sich in Radiohead um und veröffentlichten im Mai 1992 die EP „Drill“, die es aber nur auf den fiktiven Platz 101 der UK-Charts schaffte.
Im September erschien „Creep“, das in England zunächst dasselbe Schicksal ereilte: Platz 78. Ohne große Illusionen fuhren Radiohead auf ihre erste US-Tour und erlebten dort eine gehörige Überraschung: „Im Radio lief ‚Creep‘, auf MTV lief ‚Creep‘, auf jeder Party lief ‚Creep‘. Es war unglaublich.“
Auf dem Umweg über Amerika gelangte der Song schließlich im Herbst 1993 auch in die britischen Top ten und schaffte so das Kunststück, von NME und Melody Maker zum zweiten Mal in die Liste der Songs des Jahres aufgenommen zu werden. Der Gefahr, als „one hit wonder“ schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden, begegnete die Band mit den intensiven Arbeiten an „The Bends“, treffend benannt nach der „Taucherkrankheit“, die durch mangelnden Druckausgleich bei zu schnellem Auftauchen aus der Tiefe entsteht.
Rückzug nach vorne
Von dem Wunsch, mit dem dritten Album, das ursprünglich nach einem Buch der Cyberpunk-Philosophin Sadie Plant „Ones And Zeros“ heißen sollte, aus den Schemata des Rock-Business auszubrechen, zeugt die Wahl des Aufnahmeorts: Auf St. Catherine Court, dem ländlichen Anwesen der Schauspielerin Jane Seymour bei Bath, schliff das Quintett mit Toningenieur Nigel Godrich an den Ideen, die im eigenen Übungsstudio Canned Applause (einem ehemaligen Lagerschuppen für Obst, dessen Lage im ländlichen Oxfordshire geheimgehalten wird) seit Januar ’96 entstanden.
„Wir wollten weg von der sterilen Klinikatmoshäre heutiger Studios, wo zwischen Cola-Automaten und Goldenen Schallplatten alles immer gleich abläuft“, erklärt Jonny den Versuch, der sich auf das Bandgefühl positiv auswirkte: „Das meiste, was du auf dem Album hörst, ist live gespielt – im Ballsaal, in der Bibliothek, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Ein paar Sachen haben wir weggelassen, weil die Improvisationen manchmal zu abgehoben wurden, aber es gibt jede Menge Stellen, wo du hörst, wie frei wir herumexperimentiert haben.“
Daß die Erfahrung ein Grenzgang war, entnehmen wir den Worten von Thom Yorke: „Das Haus lag mitten im Nichts, deshalb blieb, wenn wir zu spielen aufhörten, nur absolute Stille. Du machst das Fenster auf: kein Geräusch, eine ganz und gar unnatürliche Stille, nicht mal Vogelzwitschern. Fürchterlich!“
Ein gewagter Grenzgang ist in der Tat auch die erste Single „Paranoid Android“: Sechseinhalb Minuten lang, ist sie im Grunde ein Triptychon ohne sofort erkennbaren Zusammenhang zwischen den drei Teilen – sicherlich kein ideales Format für Radioeinsätze. Ein anderer Song, „Fitter, Happier“, besteht aus den elektronisch unterlegten Überlegungen des Physikers Stephen Hawking über Gott und den Sinn des Universums.
„Es hat den Effekt einer Achterbahn“, beschrieb Colin Greenwood die Wirkung des Albums schon vor seinem Erscheinen. „Man wünscht sich einen Sicherheitsgurt.“ Viele der Psycho-Dramen, die Thom Yorke aus ungeordneten Gedanken in Notizbüchern kombiniert und die diesmal eher Rollenspiele als Selbstbetrachtungen sind, gehen auf die Bücher zurück, die er zuletzt gelesen hat – etwa Will Huttons apokalyptische Analyse des Neoliberalismus „The State We’re In“ – und erinnern an die Atmosphäre von „The Holy Bible“, dem düsteren dritten Album der Manic Street Preachers.
„Das ist eine gute Einordnung“, meint Jonny. „Besser als die Vergleiche mit Pink Floyd, obwohl mich der Film ‚Pink Floyd in Pompeij‘ sehr beeindruckt hat. Ich habe seitdem versucht, Progressive Rock zu verstehen, aber das meiste, was ich gehört habe, ist ekelhaft. Die Manics sind die einzige heutige Band, die uns etwas bedeutet.“
Allen experimentellen Risiken zum Trotz trägt „OK Computer“ doch die typischen Merkmale des Radiohead-Sounds: Die Spannung zwischen Ed O’Briens „höflicher“ und Jonnys „mißbrauchter“ Gitarre schafft Bögen, auf denen Thoms Stimme durch alle Lagen balanciert, immer an der Grenze zwischen Melancholie und Irrsinn. Etwas schwerer zugänglich als der Vorgänger, bietet das Album Stoff für Phantasie und emotionelle Abenteuer und dennoch schon beim zweiten Hören eine ganze Reihe von Angeln für das Gedächtnis: Melodien, die die Atmosphäre des Augenblicks so gut auf den Punkt bringen, daß man sich ihrer immer wieder erinnert.
So wird es möglicherweise auch diesmal vielen Hörern so gehen wie mit „Creep“ und „The Bends“: Irgendwann stellt man fest, daß man Radiohead-Fan ist, ohne zu wissen, seit wann.
„Ich muß noch ein Photo von dir machen“, sagt Jonny, als ich alles für gesagt halte, und zieht mich zur Terrasse vor seinem Hotelzimmer. „Ich sammle nämlich Bilder von den Journalisten, die ich treffe.“ Seine neue Liebe zur Photographie hilft ihm über eine angeborene Behinderung hinweg: „Ich bin farbenblind. Mein Bruder hat mich früher geärgert, indem er zum Beispiel die Minen in meinen Buntstiften vertauscht hat. Auf Schwarzweißbildern hingegen sieht jeder die Welt so wie ich.“
Eine Kerze im Regen (Nachtrag 2007)
Zum englischen Sommer 1997 schien „OK Computer“ auf geradezu unheimliche Weise zu passen: Im Gegensatz zu Spanien erlebte das Königreich den verregnetsten Juni seit 118 Jahren; Flüsse traten über die Ufer, scheinbar bis zum Boden hängende Wolkengebirge verdunkelten wochenlang das Land, Festivals fielen in gigantische Wasserpfützen, sogar das Tennisturnier in Wimbledon mußte mehrmals abgebrochen und schließlich erstmals in seiner Geschichte verlängert werden.
Aber trotz dieser Koinzidenz und obwohl sich die Platte millionenweise verkaufte, war sie doch alles andere als das bestimmende popkulturelle Statement, Wegweiser und Verkörperung der vorherrschenden Stimmung des Jahres. Das lieferten wahlweise Oasis mit ihrem überkandidelten Koks-Luftballon „Be Here Now“ oder The Prodigy mit „The Fat Of The Land“. Anderswo diskutierte man über die Brisanz von Rammstein, ernannte Garth Brooks zum Nationalhelden, schlenkerte zu Hansons „Mmmbop“ die Ärmchen, feierte Boygroups wie N’Sync und 5ive und fand die Wiedervereinigung von Black Sabbath, den Monkees und Fleetwood Mac toll oder peinlich oder beides. Die Bereitschaft, sich mit sinistren Metaphern über den Untergang der Welt zu befassen, erreichte den Tiefpunkt, als am 6. September Diana Spencer zu Grabe getragen wurde und Elton John seine weltverschwisternde Trauerschnulze „Candle In The Wind“ trällerte.
Zehn Jahre später ist die Welt eine komplett andere: Nicht nur in Großbritannien ist die besinnungslose Euphorie um den vermeintlichen „Aufbruch“, die optimistischen Hoffnungen auf eine „Erneuerung“ allgemeiner Ernüchterung gewichen, weil nach dem historischen Wahlsieg von Tony Blair und seiner im Auftrag des „World Economic Forum“ umfirmierten neoliberalen Etikettenschwindelpartei „New Labour“ nicht etwa alles so weiterging wie zuvor, sondern noch schlimmer wurde: Die Reichen sind reicher, die Armen ärmer als je zuvor, und spätestens seit dem 11. September 2001 ist es höchstens noch eine diffuse, von Regierung und Medien geschürte Angst vor vermeintlichem und realem Terrorismus, die die Nation (und nicht nur diese eine) zusammenhält.
Damals, 1997, rügten nicht wenige Kritiker Thom Yorkes düstere Vorahnungen, seinen Defätismus; heute ziehen sie den Hut vor dem Mut, sich der modischen Feierlaune, von der sie selbst sich hatten ergreifen lassen, zu entziehen. Hört man „OK Computer“ nach zehn (oder weniger) Jahren wieder an, hat sich der Eindruck souveräner Modernität und Perfektion bis ins chaotischste Detail kaum verändert. Als „historischen Moment“ erlebte es etwa Neil Hannon (The Divine Comedy), als er zum erstenmal „Paranoid Android“ im Autoradio hörte: „Der Song ging weiter … und weiter … und immer weiter. Ich dachte: Das ist phantastisch! Das ist anders als alles, was ich je gehört habe!“
Ahnten Radiohead im Juni 1997 in Barcelona, daß sie mit ihrem dritten Album Musikgeschichte geschrieben und sich selbst weit über alles hinauskatapultiert hatten, was damals wie heute „angesagt“ war und ist? Wenn, dann gaben sie es nicht zu, flüchteten sich statt dessen in eine geradezu manische Bescheidenheit und wollten auch nichts wissen von einem angeblichen neuen Trend zu komplizierter, künstlerischer, experimenteller, im besten Sinne „progressiver“ Rockmusik, den sie eingeleitet haben sollten.
Das, immerhin, läßt sich feststellen: Gefolgt ist ihnen auf ihrem Weg bis heute niemand (genaugenommen: nicht mal sie selbst). Wenn es einen solchen Trend je gab, dann war „OK Computer“ sein Anfang – und zugleich das Ende.
(Nachbemerkungen 2022)
Ich muß gestehen, daß ich mir das Album „OK Computer“ seit 1997 nicht mehr angehört habe, weil ich schon das Konzert und dann auch die Platte als äußerst anstrengend empfand. Bei den Interviews in Barcelona durfte nicht photographiert werden. Als ich Thom Yorke zufällig spätnachts in einer menschenleeren Bar wiedertraf, unterhielten wir uns sehr betrunken sehr lange über Fußball und andere Nebensachen und machten dann mit meiner Kamera viele Bilder von uns. Leider wurde der Film im Labor falsch entwickelt und dabei zerstört. Nach Barcelona war ich mit dem Zug gefahren, weil ich damals gerade an meiner Magisterarbeit schrieb, in der es um Ödön Horváth ging, dessen Romanfiguren Kobler und Schmitz (in „Der ewige Spießer“) 1929 mit der Eisenbahn zur Weltausstellung in Barcelona fahren.
Die Photos auf dieser Seite entstanden in Barcelona, wo meine Kamera zum Glück erst am dritten Tag kaputtging.
Die Reportage erschien (wohl im Juli 1997) im WOM-Journal und zehn Jahre später um den Nachtrag ergänzt in einem anderen Magazin; ich weiß leider nicht mehr, in welchem.
Lieber Michael Sailer,
„Dort irren sie dann herum“ – was für ein schöner Moment, der auf 2022 vorverweist, auf das, was Dich in diesen Zeiten so unverwechselbar macht: Grausige Geschichten, entsetzlich viel Bildung, die mich jedes Mal schwach macht, weil ich dann nachschauen muß ihn meinem eigenen Leben, warum ich das nicht auch alles weiß und vor allem: Wiedergeben kann (was ja nach Montaigne immer so sein soll „was man nicht selbst sagen kann, sollte man auch nicht zitieren“), aber dann so ein Satz:
„Dort irren sie dann herum“.
Cees Noteboom hat in einem seiner frühen Bücher eine Marokko-Reise literarisch „seriös“ verwerten wollen und ist dafür in eine royale niederländische Bibltiothek in Amsterdam gegangen: Dort findet er eine ganze Wand mit Bildbänden, Reiseberichten, Romanen, Architektur und Islamkunde vor, dreht auf dem Absatz um und sagt sich:
Ich bin genauso gut wie irgendwer. Ich brauche das alles nicht.
Mitten im szenekundigen Jargon schon damals eine sailersche Vollbremsung und die WOM-Redaktion wird es noch nichtmal bemerkt haben, genauso wie die IN München nicht bemerkt hat, daß sie mit diesen sailerschen Vollbremsungen ihre Seele verloren hat. Und dort irren sie jetzt auch herum. LG Josi