(Aus dem tiefen Archiv:) Havana Affair (Manic Street Preachers in Kuba, Februar 2001)

Wenn eine Rockband wie die Manic Street Preachers alles erreicht hat, was man so erreichen kann, gibt es zwei Möglichkeiten: Ehrenvolle Frührente – oder die Suche nach neuen Zielen und Wegen. Man könnte zum Beispiel versuchen, im sechsten Anlauf doch noch den US-amerikanischen Markt zu knacken (was Sony Music sicher freuen würde). Oder man tut das genaue Gegenteil.

(Dieser Artikel erschien im Frühjahr 2001 im Musikexpress.)

Köln, Ende Januar 2001: Während sich im Domviertel die ersten noch schüchtern vermummten Narren in sporadischem Schneetreiben sammeln, sitzt in einem nagelneuen, warmen Sony-Zimmer ein etwas müder James Dean Bradfield, auf dem inzwischen recht üppigen Bauch eine akustische Gitarre, und blickt aus dem Fenster auf den frisch aus dem Boden gestampften „Mediapark“, der aussieht, als hätten fünf Architekten nach einem Besuch in Disneyland einen kollektiven Alptraum gehabt. James summt eine unbestimmte Melodie; als ich ins Zimmer marschiere, muß er aufs Klo. Dann lümmelt er im Sofa, grinst sein charakteristisch verschmitztes Bubengrinsen und fragt: „Na, was gibt’s Neues?“

Zunächst mal ihn: Wir kennen uns seit bald acht Jahren, aber als jovialen, rundlich-gemütlichen Menschen kannte ich ihn bisher nicht. Wenn James selbst an den James von 1993 zurückdenkt, sieht er „einen total aufgeregten, verschüchterten Jungen, umgeben von verwirrten Leuten, die ihn fassungslos anglotzen und nichts verstehen, weil er so schnell redet. Viel von unserer Wut und Energie hatte damit zu tun, daß manche Leute behaupteten, die Zeit für Rockbands sei vorbei, wir seien irgendwie eine archaische Erscheinung. Und wir wollten ihnen unbedingt beweisen, daß sie im Unrecht waren.“

In ihren frühen Jahren gab sich die Band alle Mühe, diesen Beweis anzutreten: Ihre T-Shirts zierten Sprüche wie ALL ROCK’N’ROLL IS HOMOSEXUAL”, SUICIDE BABES” und I HATE AMERICAN INDIE ROCK”, in Interviews schimpften sie mit erstaunlicher Eloquenz auf Kollegen, Politiker und alles, wonach man sie sonst noch fragte. In Zeiten, da es als chic galt, in farblosen Lumpenklamotten und Baggy-Kluft herumzulaufen, kleideten sie sich wie eine Barbie-Version der New York Dolls, und die Galerie ihrer Vorbilder war eine seltsame Mischung aus Guns N‘ Roses, Karl Marx, Sylvia Plath, Arthur Rimbaud, Public Enemy, Nietzsche, Orwell, Ibsen, Camus und Konfuzius, deren Zitaten ihre Platten zierten.

Der Preis für den Angriff auf die ganze Welt als solche war hoch: Statt von ihrem ersten Album wie angekündigt 16 Millionen Stück zu verkaufen und sich aufzulösen, durchkroch die Band alle Niederungen von Spott, Mißerfolg und Verachtung, verlor auf dem langen Weg nach unten ihren Texter und Gitarristen” Richey Edwards, der, alkohol- und magersüchtig, 1995 verschwand, und erntete erst 1996 mit dem Album EVERYTHING MUST GO den Preis für die Mühen.

Und dann schien das Ende nahe: Nunmehr in der obersten Etage der Rock-Prominenz angekommen, lieferte das verbliebene Trio 1998 ein ermüdendes Stadionrock-Album ab, absolvierte eine Dienst-nach-Vorschrift-Welttournee und zog sich nach dem Silvesterauftritt vor 65.000 Menschen in Cardiff zurück – wie mancher meinte: endgültig. Gerüchte über ein anstehendes Best-of-Album mit dem Titel Forever Delayed” als letztes Statement machten die Runde.

Doch wieder mal war alles ganz anders: Selbst enttäuscht, daß sie zu gewöhnlichen” Rockstars degeneriert waren, warfen die Manics alle Regeln des Business über Bord und stürzten sich ohne Vorbereitungen und Demoaufnahmen in ein Abenteuer, an dessen Ende das neue Album KNOW YOUR ENEMY steht – mit 17 Songs ebenso lang wie das schwellbrüstige Debüt. Der Titel war Programm: Der Feind, das war das, was aus uns geworden war”, verkündete Bassist Nicky Wire.

Wir hatten zwei Regeln”, sagt James. “Erstens: Nichts wird geprobt. Das ist irgendwie so eine Art Gesetz, das für alle Bands gilt: Bevor du ins Studio gehst, mußt du in ein Probestudio. Diesmal hatten wir nur vier Songs. Die anderen Sachen haben wir drei- oder viermal gespielt, und dann waren sie spätestens beim dritten Take fertig. Die andere Regel war: keine Streicher. Okay, auf ‚Miss Europa Disco Dancer‘ hörst du welche, aber das sind Keyboards. Als wir anfingen, die Songs zu spielen, war alles ein totales Desaster, Lärm und Durcheinander. Es klang wie Public Image Limited, aber wir waren so begeistert davon, daß wir beschlossen: Genau so machen wir’s!”

Das Ergebnis ist so vielseitig, daß sich beim ersten Hören Verwirrung einstellt: Zwischen Lärm und Ballade ist so ziemlich alles zu finden, was passieren kann, wenn drei Leute einfach drauflos spielen, von denen zumindest einer ein geniales Gespür für Melodien hat – und einer seine Schnauze wiederentdeckt, die ihn einst berühmt und berüchtigt machte. Nick Wire singt nicht nur seinen Wattsville Blues” selbst, er ist auch auf der kuriosen Disco-Nummer Miss Europa Disco Dancer” zu hören: Braindead motherfuckers!” lautet sein Text. In Spanien hatten wir Sky TV im Studio und sahen ‚Ibiza Uncovered‘, dieses ‚Big Brother‘-Zeug, wo sie zehn doofe, geile Leute in eine Villa tun und zusehen, wie sie sich besaufen, Drogen nehmen, ficken, sich verlieben und entlieben”, erzählt James. Dann gab es eine andere Sendung, ‚Jamaica Uncovered‘, genau das gleiche. Es war wie eine Verschwörung der TV-Produzenten: Wie können wir aufhören, so viel Geld auszugeben, aber noch mehr Geld verdienen, mehr Quote kriegen? Die Idee in ihren Köpfen war offensichtlich: Bring den Abschaum dazu, den Abschaum zu unterhalten. Schmeiß die ganzen Schauspieler raus, schmeiß die Drehbuchschreiber raus – und das hat funktioniert! Das Fernsehen spiegelt immer die schlimmsten Aspekte unserer Kultur wider, und was das widerspiegelt, war: Die Leute fahren gern in Urlaub, um sich zuzudröhnen. Und wir dachten: Wenn wir das noch länger anschauen, werden wir hirntote Arschlöcher.”

Lockerer wurde auch James‘ Herangehensweise an Nicks Texte, die ihm schon früher bisweilen Rätsel aufgaben: Es war oft schwer, als Sänger Identitäten zu übernehmen, die er als Texter übernommen hatte. Das ist heute nicht mehr oft so, aber bei einigen Songs, ‚His Last Painting‘ zum Beispiel, hab ich ihn gar nicht erst gefragt, um was es geht, sondern versucht, selbst herauszufinden, was ich daraus machen kann.”

Richtig ernst war es James aber mit seinem ersten (vollendeten) Versuch als Texter. Die anrührende Semi-Ballade Ocean Spray” ist seiner Mutter gewidmet, die am 27. Juli 1999 an Krebs starb. Sie war in einem dieser richtig alten Krankenhäuser, die es wahrscheinlich nur noch in Großbritannien gibt. Die haben da große Angst vor Infektionen und so was, deshalb empfehlen sie den Leuten, viel Cranberry-Saft zu trinken, weil das Infektionen abtötet. Also schickte mich meine Mutter dreimal am Tag los, ihr ‚Ocean Spray‘-Cranberry-Saft zu holen. Das hat mich beeindruckt: daß jemand, der dem Sterben so nahe ist, sein ganzes Vertrauen in eine Tüte ‚Ocean Spray‘ setzt. Es sagt was über den menschlichen Geist, daß man immer glaubt, es könne noch eine Chance geben, gesund zu werden.”

Der Tod von James‘ Mutter fiel in eine Zeit, als sich manches änderte – zum Beispiel die erste Ziffer in den Altersangaben der drei Musiker, und damit auch die Einstellung zum eigenen Leben: Beschleicht nicht jeden um die 30 gelegentlich das Gefühl, mehr hinter als vor sich zu haben, mehr Erinnerungen als Erwartungen? Lieber alte Sachen wiederzuentdecken als neue zu finden? Ja, stimmt. Letztes Jahr an Weihnachten war ich drei Wochen im Haus meines Vaters und hab meine alten Platten durchgewühlt. Wenn du 31 bist und seit 13 Platten kaufst … zum Beispiel hab ich das erste Album von den Saints gefunden, ‚I’m Stranded‘, das hatte ich total vergessen. Das ist unglaublich, diese Stelle, wo der Typ ‚Alright!‘ schreit. Aber es stimmt, viele Leute verändern sich mit Anfang 30. Was du grade gesagt hast, klingt ziemlich traurig, aber ich denke, es fängt auch etwas Neues an, wenn Sachen zurückkommen, auf die du nicht geachtet hast. Viele davon kommen dir jetzt viel besser und wichtiger vor als damals.”

Zurück in die Zukunft. Die Live-Aktivitäten zu KNOW YOUR ENEMY beginnen an einem Ort, wo noch nie eine Rockband aus der kapitalistischen Welt aufgetreten ist: in Kubas Hauptstadt Havanna. Wie kam das zustande? Als wir das Album durchhörten, fragte jemand: Wieso spielt ihr so oft auf Kuba an? Tatsächlich sind drei oder vier Referenzen an Kuba drauf: eine Stelle in ‚The Convalescent‘, dann ‚Baby Elian‘ natürlich, ‚Let Robeson Sing‘, und ‚Freedom Of Speech Won’t Feed My Children‘ kann man auch darauf beziehen. Da sagte Nick: Es wäre Wahnsinn, wenn wir den ersten Gig in Kuba spielen würden. Unser Manager Martin saß dabei und meinte ganz ernsthaft: Ich schau mal, was sich machen läßt. Er fuhr hin, und dann sagte er: Es wird ein harter Brocken, aber ich denke, es klappt. Das war’s. Ich denke aber auch, daß die Geschichte eine Bedeutung hat. Viele Leute halten uns für ein bißchen überholt und altmodisch, politisch und musikalisch, glorreich gescheitert. Und viele Leute in Amerika und anderswo sehen Kuba genauso. Das ist ein guter Hintergrund. Kuba ist kein perfektes Modell für einen sozialistischen Staat, aber so Sachen wie das Gesundheitswesen sind ein echter Erfolg. Daß es nicht mehr solche Erfolge gibt, ist die Schuld der USA. Wenn Kuba ein Erziehungs- und Bildungssystem hinkriegt, wie es in ganz Amerika keines gibt, das in keinem Verhältnis zur Wirtschaftskraft und Größe des Landes steht, wieviel mehr könnten sie ohne das Embargo erreichen? Es nervt die Amerikaner einfach, daß die so was hinkriegen, mit einer anderen Ideologie.”

Hat der Kuba-Plan nicht auch damit zu tun, daß die Manics seit Beginn ihrer Karriere in den USA kein Bein auf den Boden bekommen haben? Nein, aber nachdem es so aussah, als könnte die ganze Sache klappen, haben wir uns überlegt: Wenn wir Arbeitsvisa brauchen, um nach Kuba einzureisen, können wir danach nie wieder auf USA-Tournee gehen. Das wäre die perfekte Entschuldigung!”

Und wieder grinst James, wie ein kleiner Junge, der sich für einen gelungenen Streich nicht so recht schämen mag.

Und dann, am 14. Februar, bin ich in Havanna. Genauer gesagt: Ein Taxifahrer fährt mich dort hin, vom Flughafen, und bittet mich, auf der Rückbank nach links zu rücken. Das Taxi hat nämlich nur drei Räder und könnte kippen.

Havanna: Wenn es diese Stadt nicht gäbe, könnte sie keiner erfinden, und der außergewöhnliche Anlaß sorgt in mancherlei Hinsicht noch für eine Steigerung: Betrunkene Waliser filmen inmitten grollender und grinsender Cuba-Carabinieri die Ankunft ihrer noch betrunkeneren Kumpels, das Taxi brettert mit 120 Sachen auf drei Rädern vom Flughafen durch Schwaden von historischen Abgasen, vorbei an grotesken Chevy-Fossilien, dreireifigen Truck-Ruinen, ostereiförmigen Kabinenrollern, buntscheckig wäscheverhängten Wohnklötzen und leicht verblichenen Schildern mit der Aufschrift Ins neue Jahrtausend mit Fidel und der glorreichen Revolution” in die Innenstadt – überholt wird rechts, die Hupe ist ans Gaspedal angeschlossen. Es ist Dia de los Enamorados” – der Tag der Verliebten, und die kilometerlange Mauer an der Strandpromenade Malecon ist vollbesetzt mit solchen; ob die große Party irgendwann endet, bleibt dem müden Europäer schlafbedingt verborgen.

Man kennt das Klischee: Auf Kuba werde gearbeitet, wenn der Bus fährt; der fährt, wenn es Benzin gibt; das gibt es nicht, also wird gefeiert. Die pompösen Ruinen von imperialistischer Okkupation und Diktatur rotten vor sich hin, man wohne und feiere sie herunter. Die Wirklichkeit sieht (etwas) anders aus: Überall in Havanna sind Restaurierungsarbeiten an den Häuserpalästen im Gange. Die laufen zwar meist so ab, daß einer pinselt, der zweite auf den Mörtel für seine Steine wartet und der dritte in der Schubkarre schläft, aber man spürt: Hier bewegt sich was. Durch die sonnengewärmten Straßen dröhnt eine wilde Mischung aus Rap, Salsa, Kindergeschrei und Motorenlärm; überall wird etwas getan, auch wenn manchmal nicht ersichtlich ist, was. Vom Standpunkt der globalisierungswütigen US- und Euro-Wirtschaftsmaschine betrachtet ist all das nicht gut. Der Kapitalismus steht mit gespreizten Krallen bereit, um die Insel in ein Paradies von Arbeit, Konsum und Werbung zu verwandeln – aber er darf nicht. Kuba kennt seinen Feind. KNOW YOUR ENEMY – wer könnte besser geeignet sein für den Auftritt der ersten westlichen” Rockband auf der karibischen Insel als jene drei Waliser, die ihre Karriere Ende der Achtziger mit zynischen Tiraden gegen Großkonzerne und ökonomische Verblödungsdiktatur begannen? Noch allerdings kann keiner der Passanten, die ich danach frage, mit dem Namen der Band auch nur das geringste anfangen.

Freitag, der 16.Februar: Am frühen Morgen ist Havanna ein langsam erwachendes Monster mit rosa Wangen; wer jetzt schon eilig auf den Beinen ist, ist fremd und braucht diverse Dinge: ein Arbeitsvisum, eine Konzertkarte, einen Interviewtermin. Der Weg zum internationalen Pressezentrum führt direkt am legendären Hotel Nacional vorbei, einem 1930 mit Geldern der (heute in Miami exilierten) Mafia erbauten Prunkpalast. Von hier ist es für die Manic Street Preachers nur ein kurzer Fußmarsch zur Pressekonferenz mit 120 entweder einheimischen oder bereits deutlich sonnenverbrannten Reportern, deren Fragewut sich in Grenzen hält. Nicky Wire, ganz in weiß, führt das (für die Dolmetscherin nicht immer rätselfreie) Wort; James und Drummer Sean Moore (die optisch auch als Parteifunktionäre durchgehen würden) halten sich zurück.

Das größte Interesse gilt den Punkten, wo sich Manics und Kuba berühren. Zum Beispiel dem neuen Song Baby Elian”. Der sei jedoch nicht bloß auf den Fall des Jungen Elian Gonzalez gezogen, um den zwischen Kuba und den USA ein heftiger Streit entbrannte, sondern laut Nick ein Kommentar dazu, wie sehr die US-Medien die Meinung der ganzen Welt beherrschen”. Kuba (dessen Flagge eine Single und den Bühnenhintergrund der Band ziert, weil sie rein ästhetisch so unglaublich schön ist”), lobt er, wehre sich tapfer gegen die Kulturhegemonie der USA: So was wie Limp Bizkit gibt es hier immerhin nicht, diese widerliche Band, die wir in Großbritannien jeden Tag hören müssen.” Und weil wir schon bei den Amis sind, zitiert ein Journalist Noel Gallagher: Britische Bands wie wir haben in den USA keinen Erfolg, weil die Amerikaner einen schlechten Geschmack haben.” Nick, entwaffnend grinsend: Da hat er recht.” Ob die Chancen der Band in den Staaten durch die Kuba-Geschichte nicht zusätzlich gemindert werden? Das hoffe ich!”

Freundliches Lachen; James stellt den kubanischen Gitarristen Dago vor, den er am Abend zuvor kennengelernt und zu einer Session beim Soundcheck eingeladen hat. Dann werden die Fragen schärfer: Steckt hinter der ganzen Aktion nicht ein PR-Trick? Da platzt Sean der Kragen: Die kubanischen Medien sind viel offener, interessierter und freundlicher zu uns, als es die britischen Medien je zu kubanischen Musikern waren”, schimpft er, stellt das Mikrophon wieder weg, läßt sich aber noch zu einer minutenlangen Tirade hinreißen, die nur der neben der Dolmetscherin sitzende Mann vom Kulturministerium mitbekommt. Man versöhnt sich wieder: Es wäre die größte Ehre”, wenn Fidel Castro persönlich zum Konzert erschiene, grinst Nick in die allgemeine Belustigung hinein.

Nachdem noch einmal klar gesagt wurde, daß es hier neben anderen Überlegungen (Unsere letzte Tournee haben wir in der langweiligsten Stadt der Welt begonnen, diesmal wollten wir das Gegenteil tun!”) auch um eine Geste der Solidarität” geht, trennen sich die Wege: die Manics zurück ins Hotel, der Rest muß Visa, Filme, Zigarren, Rum und anderes besorgen oder sich einfach noch ein bißchen im Schatten ausruhen.

Um halb sieben versinkt die Sonne in einem Meer aus Quecksilber. Das Teatro Karl Marx steht eine gute halbe Fußstunde vom Hotel Nacional ziemlich allein zwischen Ufer und dem großzügig angelegten Stadtteil Miramar, wo die Alleen zu Tunnels und die Vorgärten zu kleinen Dschungeln verwachsen sind. Direkt vor der Halle ein weitgehend leerer Taxiparkplatz, über den in der milden Abendluft die brachialen Akkorde von Found That Soul” hallen. Die Ohren der Kubaner, die an der nächsten Ecke auf Bänken sitzen, plaudern, trinken und lachen, erreichen sie nicht mehr. Seltsame Vorstellung, daß, während die ganze Stadt ausruht, feiert und sich von der Hitze des Tages erholt, eine Handvoll Waliser die einzigen Menschen sind, die noch arbeiten. Zu sehen ist von außen durch die mit einigen photokopierten Manics-Zetteln behängte Glasfront nur Lizzie vom Manics-Management Hall or Nothing; sie steht in der neonhellen Eingangshalle und telephoniert verstreuten Journalisten hinterher, die sich noch nicht akkreditiert haben.

Spaziergang/Heimweg: vorbei an prächtigen Villen, in denen und in deren Gärten lautstark gefeiert wird. Auf der Straße ein etwa achtzigjähriger Mann mit qualmender Zigarre, der mich freundlich begrüßt und fragt, woher ich komme. München. Da wird er lebendig: Das hat er befreit, damals, als Soldat der US-amerikanischen Armee! Jetzt sei ihm die kubanische Jugend etwas zu hedonistisch (er sagt das anders). Jedenfalls sitze diese Jugend nun  in seinem Garten und sei besoffen. Sein Garten sei das, weil er sich vor Jahrzehnten amtlich bereiterklärt habe, die fürstliche Villa zu renovieren. Er sei dazu noch nicht wirklich gekommen, aber immerhin sei das jetzt seine Villa, und wenn die besoffenen Jugendlichen weiterzögen, dann habe er auch wieder seine Ruhe.

Am Samstagabend sieht der Platz vor dem Teatro ganz anders aus: Die Straße ist weiträumig abgesperrt, je zwei Ordner an den Barrikaden lassen nur Fußgänger passieren. Vor der Halle bilden sich lange, ungeordnete Schlangen aus größtenteils minderjährigen Kubanern, unter die sich einige grinsende Erwachsene und auffällig bleiche Briten mischen. Aufgeregte Erwartung liegt in der Luft, in einem kleinen Haus neben der Halle werden die Kameras der angereisten Journalisten einer mysteriösen Prüfung unterzogen.

Dann füllen sich langsam und stetig die rot gepolsterten Sitzreihen vor der Bühne und auf den beiden Logenbalkonen. Eine Handvoll Ordner an den drei Glastüren verteilt rote Fähnchen mit der Aufschrift Manic Street Preachers Cuba 17-02-01”, und einer der eifrigen und dauergrinsenden Kulturbeamten, die sich um uns auswärtige Berichterstatter kümmern, flüstert mir in höchster Erregung ins Ohr: Es besteht vielleicht eine Möglichkeit, Fidel Castro zu photographieren!” Ich: Wann? Wo? Hier. Er kommt wahrscheinlich gleich.”

Tatsächlich: Als die meisten der 4.900 Plätze besetzt sind, stehen plötzlich alle wieder auf, drehen sich um und wedeln wie die Irren mit ihren Fähnchen. Da leuchtet ein grauer Bart in der Mitte des unteren Balkons, der Mann dazu lächelt freundlich, winkt und setzt sich in die erste Reihe, mitten in eine Masse offensichtlicher Grundschüler. Kurz darauf gilt der entfesselte Jubel dem anderen Ende des Saals: Vor einer überdimensionalen Kuba-Flagge betreten die Manics die Bühne und entfesseln nach schüchterner Begrüßung mit Found That Soul” ein Lärmgewitter, das den ehrwürdigen Schauplatz manch historischen Kongresses bis in die Grundmauern erschüttert.

Das Programm ist eine gut ausgewogene Mischung aus alt und neu, wobei die Alben Gold Against The Soul” und The Holy Bible” leider ausgespart werden. Auf Found That Soul” folgt das längst ewig gewordene Motorcycle Emptiness”, für Kevin Carter” und Ocean Spray” verstärkt ein kubanischer Trompeter die Band und sorgt mit ekstatischen Soli für Begeisterungsstürme. Spätestens nach The Masses Against The Classes” erinnert die Atmosphäre im Saal an die ersten Auftritte der Rolling Stones vor entfesselten Horden deutscher Teenager Anfang der sechziger Jahre.

Aber immer wieder schaltet die Band einen Gang zurück und nützt die räumlichen Ausmaße des Saals für ihre melodischen Qualitäten. If You Tolerate This Your Children Will Be Next” und Let Robeson Sing” sorgen – obwohl niemand ein Wort versteht – für magische Momente, und als James ganz allein zur Akustikgitarre Baby Elian” singt, erhebt sich der Maximo Lider (und alle mit ihm) und applaudiert minutenlang.

Für Verwirrung sorgt Nick mit seinem für kubanische Ohren etwas arg schrägen Wattsville Blues”, und endlich steigern die ohrenbetäubenden Powerakkorde von You Love Us” und Motown Junk” die Begeisterung zur Raserei. Die Textzeile I laughed when Lennon got shot” verkürzt James allerdings auf I laughed” – in Havanna steht seit einiger Zeit ein Denkmal für den Ex-Beatle. Dann, nach einer monumentalen Version von A Design For Life”, ist Schluß. Die Band winkt und geht von dannen, Castro desgleichen – und versäumt so das für die Manic Street Preachers höchst ungewöhnliche Ereignis von gleich zwei Zugaben. Nunmehr ohne Aufpasser”, löst sich die Sitzordnung bei Australia” endgültig auf, das Mobiliar teilweise ebenfalls, und dann bittet James (allerdings vergeblich) das Publikum, die Strophen von Chuck Berrys Rock ’n’ Roll Music” zu singen, die er leider vergessen hat – der Ur-Oldie wird zum Halb-Instrumental und unterstreicht so noch einmal die neue Experimentierlust einer Band, die ich in den letzten Jahren selten so ausgelassen und gut gelaunt gesehen habe wie an diesem Abend.

Draußen auf dem Platz, wo sich danach alle versammeln, sieht es für einen kurzen Moment so aus, als wollte sich die seit Tagen anhaltende Hitzewelle in einem Gewitter entladen, um das Ereignis gebührend zu krönen; aber die Wolken verfliegen schnell wieder. Schnell sind auch die Medien. Schon eine halbe Stunde nach dem Konzert meldet die Sprecherin der Nachrichtensendung En tres minutos”, Commandante Fidel Castro habe einem Konzert der grupo musicale británico de rock Manik Estret Bretschers” beigewohnt. Eine Geste der Solidarität mit der Unabhängigkeit unserer Insel.” Freie Medien wissen, was berichtenswert ist (könnte man sagen).

Auf der spätabendlichen After-Show-Party im kolossalen Salon 1930” des Hotel Nacional wimmelt und tummelt sich zu einheimischer Livemusik ein schräg-buntes Völkchen: Sean Moore (nun ähnelt er Al Capone) fachsimpelt mit seinem neuen Freund vom Kulturministerium über Mobiltelephone und einiges Ernsthaftere, James schüttelt Hände und Cristal”-Bierflaschen, der legendäre Boxer Félix Savón (dreifacher Olympiasieger und Faust der Revolution”) ist einfach er selbst, Lauf-Veteran Alberto Juanterino lächelt, Manics-Biograph Simon Price trägt seine Teufelshörner spazieren. Die Barmänner sind nicht nur von ihrer ungewöhnlichen Kundschaft sichtlich überfordert, eine neue Form der Devisenknappheit tritt ein: Das Bier muß verbilligt werden, weil keine Pesos mehr als Wechselgeld da sind.

Auf meine Frage, ob Fidel vor dem Konzert die Texte der Manics gelesen habe, schüttet sich der Kulturmann schier aus vor Lachen: Was meinst du? Ich kann’s mir schon vorstellen!” James, immer breiter grinsend, erzählt von der Backstage-Begegnung mit Castro: Wahnsinn! Irrwitz! Da kommt so ein Typ zu uns und sagt, wenn wir Lust hätten, könnten wir in der Garderobe ‚somebody‘ treffen. Wir machen die Tür auf, und da sitzt er! Wir haben rumgezappelt wie die Blöden und am ganzen Körper gezittert!” Und Nick hat in Sachen eigenartiger Humor in dem bärtigen Revolutionär seinen Meister gefunden – auf den Hinweis, es sei ihm hoffentlich klar, daß es ein ziemlich lauter und lärmiger Abend werde, antwortete Castro: Bestimmt nicht so laut wie ein Krieg!”

Und dann, irgendwann kurz vor Sonnenaufgang, geht Havanna schlafen, wie ein Traum. Auf dem Weg durch einsame Nebenstraßen macht sich bereits ein Gefühl nostalgischer Sehnsucht bemerkbar: So etwas wird es nicht mehr geben. Aber wenn man den Ankündigungen der Band glaubt, ist Havanna nur die erste einer ganzen Reihe spektakulärer Aktionen im Jahr 2001 gewesen. Es gibt noch soviel zu beweisen!” hat James in Köln gesagt. Wer die Manic Street Preachers immer noch für eine archaische” Erscheinung hält, dem könnte demnächst Hören und Sehen vergehen. Sagen wir’s mit Tom Robinson: It’s gonna be a long hot summer from now on.

Diskografie: alle Alben und wichtige EPs/Singles

“Suicide Alley/Tennessee (I Get Low)” (August 1989) – Erste Single, Auflage 300 Stück, davon ein kleiner Teil in (von Richey Edwards) handgemachtem Cover mit aufgeklebten Presseschnipseln. Ein Fall für wohlhabende Sammler.

“New Art Riot EP” (22. Juni 1990, UK-Charts Platz 136) – Jeweils 1.000 Stück mit sechs verschiedenfarbigen Labels, vier nie auf LP erschienene Songs (“New Art Riot”, “Strip It Down”, Last Exit On Yesterday” und “Teenage 20/20”); später in rosa Vinyl und als CD nachgepreßt (je 3.000 Stück).

“Motown Junk” (21. Januar 1991, Platz 92) – Für manch “altgedienten” Manics-Fan immer noch der größte Moment der Band, von der “Revolution!”-Einleitung bis zum Schlußzitat “We live in urban hell, we destroy Rock’n’Roll!”

GENERATION TERRORISTS (10. Februar 1992, Platz 13) – Das Debüt-(Doppel-)album, Arbeitstitel: “Culture, Alienation, Boredom, Despair”. 17 Songs sollten die Welt mit einem Schlag verändern; heute würde die Band manches anders machen (oder weglassen): “Ich war damals Slash-Fan, und Richey sagte, ich solle so viele Töne in so kurzer Zeit wie möglich spielen. Wenn ich mir ein paar von den Solos heute anhöre, könnte ich in die Hose pinkeln vor Lachen.” (James) – Besonders schlimm ist die Stadionrock-Version von “Spectators Of Suicide”, bemerkenswert der Gastauftritt von Porno-Queen Traci Lords, die in “Little Baby Nothingness” den ursprünglich für Kylie Minogue geplanten Part übernahm. “Motorcycle Emptiness” und “You Love Us” sind nach wie vor im Live-Programm.

GOLD AGAINST THE SOUL (20. Juni 1993, Platz 8) – Der unterschätzte Nachfolger, an dem weder die Band selbst noch die Kritiker ein gutes Haar lassen. Ein paar sind trotzdem dran: die Hymne “La Tristesse Durera”, Richeys grandioses (und prophetisches?) “From Despair To Where” und “Life Becoming A Landslide”. Leidet insgesamt aber an dem Anspruch, so amerikanisch wie möglich zu klingen und das Autoradio zu erobern.

THE HOLY BIBLE (30. August 1994, Platz 6) – Mit Texten über KZs, Rassismus, Prostitution, Magersucht, Diktatur und Selbstmord erlebte Richey Edwards seine Sternstunde(n). In einem winzigen Kellerstudio absichtlich anti-kommerziell, roh und lärmig produziert, ist das dritte Album der erste gelungene Versuch der Band, sich gegen den Mainstream neu zu definieren – und ihr erstes Meisterwerk.

“She Is Suffering” (3. Oktober 1994, Platz 25) – Der schwächste Song von THE HOLY BIBLE, aber hochinteressante (und kuriose) B-Seiten: “Love Torn Us Under” sowie Live-Versionen von Suedes “The Drowners” (mit Bernard Butler!) und der Faces-Nummer “Stay With Me” (aufgenommen beim Gedenkkonzert für Philip Hall am 2.3.94).

EVERYTHING MUST GO (20. Mai 1996, Platz 2) – Das zweite Meisterwerk, diesmal berstend vor Zorn, Trauer, Sehnsucht und Melancholie. Die Arbeit begann mit Richey – und endete ohne ihn mit Songs, die (angeblich nicht) von ihm handeln. Mit Awards überhäuft; “A Design For Life” wurde zum Evergreen, “Enola : Alone” und “Interiors” wären klassische Singles geworden, wenn nicht schon vier ausgekoppelt gewesen wären. Und mit “Further Away” brach die Band das erste ihrer ehernen Gesetze (keine Lovesongs!)

THIS IS MY TRUTH, TELL ME YOURS (14. September 1998, Platz 1) – “Das erste echte walisische Volksmusik-Album aller Zeiten” (Nick), ein Spitzenreiter auf Ansage, der wiederum ein Regal von Preisen und Auszeichnungen abräumte, aber nicht wirklich überzeugen konnte. Vieles klang müde, manches nach B-Seite, und die Feuerzeug-Hymne “The Everlasting” bezeichnen die Manics heute als “größten Fehler unserer ganzen Karriere”. In den USA zunächst nicht erschienen, weil manche Songs zu “düster” klingen und der Titel “zu lang” war.

“The Masses Against The Classes” (Dezember1999, Platz 1) – Die zweite Nr.1-Single (nach “If You Tolerate This Your Children Will Be Next”) war vor allem ein wütender Versuch, sich selbst wiederzufinden. Limitierte Auflage: Gepreßt wurden nur die Bestellungen eines Tages. An der Hauruck-Version von Chuck Berrys “Rock’n’Roll Music” scheiden sich die Geister.

Die Manics und die Welt – eine Karriere im Schnelldurchlauf

22.12.1967 – Richard James Edwards kommt in Blackwood, Wales, zur Welt. Seine Eltern wollen ihn zunächst auf den Namen “Christmas” taufen, später heißt einer seiner Cousins so. Kumpels nennen ihn Richey, sein bester Freund Nick Jones nennt ihn Teddy (“weil er so knuddelig war”).

20.1.1969 – Nick Jones wird geboren. Weil er so dürr und lang ist, werden ihn Freunde später The Wire nennen.

21.2.1969 – Malcolm X wird ermordet, James Dean Bradfield geboren. Sein Vater will ihn Clint Eastwood taufen, die Mutter wählt einen anderen Schauspieler. Freunde nennen ihn Bradders, Beaker, Prof, Crossfire, Terence McCann oder Radar (weil er stark schielt).

  1. Juli 1970 – Sean Moore kommt zur Welt. Als sich seine Eltern 1980 scheiden lassen, zieht er zu seinem Cousin James, mit dem er ein Stockbett teilt, das erst 1996 im Sperrmüll landet.

1984 – Als Protest gegen die Politik der Thatcher-Regierung beginnen britische Minenarbeiter einen Streik, der über ein Jahr dauert. In Blackwood, dessen männliche Bevölkerung größtenteils im Bergbau arbeitet, sammeln Richey, Nick, James und Sean Geld für die Streikenden und lesen Marx und Lenin. Nach dem Streik steigt die Arbeitslosigkeit in der Region auf 80 Prozent. Die vier späteren Manics verbringen ihre Zeit in einem ihrer Zimmer damit, Bücher zu lesen, Platten zu hören, Filme zu sehen und zu diskutieren. “Wir langweilen uns so schnell, daß wir in drei Jahren alles durchhatten, wofür die Rolling Stones 20 brauchten”, sagt Nick später. Er schreibt seinen ersten Text: “Aftermath 84”. Richey verfaßt das 24seitige Gedicht “Another Dead 11 O’Clock” und arbeitet mit Sean an einem Theaterstück. Gründung des “Kunstkollektivs” The Blue Generation.

1986 – Nach einer TV-Dokumentation über “Zehn Jahre Punk” entstehen in der Besetzung James (Gitarre, Gesang), Nick (Gitarre), Miles “Flicker” Woodward (Baß), Sean (Drums) erste Demo-Aufnahmen, u.a. “England Is A Bitch”, “Whiskey Psychosis”, “Anti-Love”, “Eating Myself From Inside” und “Go Buzz Baby Go”. Einige Teile davon tauchen in späteren Songs wieder auf (etwa “Behave Yourself Baby” in “Motorcycle Emptiness”). Richey geht nach Swansea, um politische Geschichte zu studieren, und trinkt seinen ersten Wodka.

22.12.1988 – Nach der Feier von Richeys 21.Geburtstag gerät James in eine Schlägerei mit 15 Halbstarken, bricht sich den Unterkiefer und kann ein halbes Jahr lang nicht singen.

Frühjahr 1989 – Erster Auftritt: Im Crumlin Railway Hotel in Newbridge werden die Manics im Vorprogramm einer lokalen Gruft-Band mit Bier- und Johannisbeersaft-Flaschen beworfen. Flicker steigt aus, Nick wird Bassist.

Juni 1989 – Erste Studioaufnahmen (Sound Bank, Cwmfelinfach). In 40 Minuten entstehen zwei Songs: “Suicide Alley” und “Tennessee”, die von einer Kassettenkopie auf Platte gepreßt werden. Der NME ernennt sie zur “Single of the Week”. Richey, bis dahin Fahrer, Photograph und “Propagandaminister”, wird Texter und “Gitarrist”.

20.9.1989 – Erster Auftritt in London auf einem Festival im Horse & Groom

24.1.1990 – Handschlag-“Vertrag” mit Damaged Goods Records.

7.4.1990 – Erstes Interview mit Bob Stanley (Melody Maker). Die Band bedankt sich mit einem Brief und einem handbemalten T-Shirt.

22.6.1990 – Erste “echte” Platte: die 4-Song-EP “New Art Riot”.

Juli 1990 – Bekanntschaft mit Philip Hall, früher bei Stiff Records, jetzt mit seinem Bruder Martin als Manager tätig.

August 1990 – Vertrag mit Hall or Nothing und Heavenly Records. Innerhalb von sechs Monaten steckt Philip Hall privat 45.000 Pfund in die Band.

13.12.1990 – Heavenly-Christmas-festival in London mit Saint Etienne, Flowered Up und East Village. Nick: “Der einzige Grund, wieso wir als erste spielen, ist, daß wir die Besten sind.” Danach wird Richey in einer Toilette von einer Musikjournalistin “entjungfert”.

1.1.1991 – Die Band zieht in Philip und Terri Halls Wohnung in Shepherd’s Bush. Beim abendlichen Fernsehen fängt Richey an, sich in die Arme zu schneiden und mit Zigaretten zu brennen.

21.1.1991 – “Motown Junk” erscheint, “die kolossalste und skandalöseste Platte des Jahres” (THE FACE). Textzitat: “I laughed when Lennon got shot.” Erstes Fernsehinterview: “Wir pfeifen auf den Respekt der Kritiker, wir wollen auf die Titelseiten der Boulevardpresse! Wir werden ein Doppelalbum machen, 16 Millionen Stück verkaufen, drei Tage im Wembley-Stadion spielen und uns auflösen!”

Januar 1991 – “Alles, was unsere Songs zu bieten haben, ist NEGATIVITÄT, CHAOS, VERZWEIFLUNG. Wir wollen soviel Haß erzeugen, daß wir hinweggefegt und vernichtet werden.” (Richey in einem Brief)

21.3.1991 – Erster Auftritt im Ausland (Locomotive Club, Paris)

29.4.1991 – “Unser größtes Verbrechen ist, schön zu sein!” (Nick)

Herbst 1991 – Nick landet mit Hepatitis im Krankenhaus und schränkt seinen Getränkekonsum drastisch ein. “Ich war sowieso nie ein Pub-Typ.”

7.5.1991 – “You Love Us” erscheint als zweite und letzte Heavenly-Single.

15.5.1991 – Steve Lamacq (NME) wirft der Band in einem Interview vor, ein Haufen von Posern zu sein. Danach zieht ihn Richey hinter die Bühne (“Ich muß dir noch eine Sache sagen”) und schneidet sich vor Lamacqs Augen mit einer Rasierklinge “4 REAL” in den Arm. Eines der aufsehenerregendsten und meistgedruckten Photos der Popgeschichte entsteht.

21.5.1991 – Zehn-Alben-Vertrag mit Columbia für 250.000 Pfund, mit denen die Band u.a. die Schulden von Heavenly Records bezahlt. “Sony haben uns angeblich gekauft, weil sie unsere ‚Kunst‘ schätzen, aber nicht einer ihrer Angestellten mit 20.000 Pfund im Jahr hat eine Ahnung, wie der erste Song auf unserem Album heißt!” (Richey)

Juni 1991 – England-Tournee. Kosten für zerschlagene Instrumente: 26.000 Pfund.

10.8.1991 – “Applaus ist das schlimmste auf der Welt für uns!” (James, Bühnenansage)

September 1991 – “Ich verachte jeden Musiker, den ich je getroffen habe.” (Nick)

13.12.1991 – Traci Lords kommt aus Los Angeles, um die Manics live im Londoner Diorama zu sehen und erklärt sich bereit, auf “Little Baby Nothing” mitzusingen. “Sie ist einer der intelligentesten Amerikaner, die wir je getroffen haben.” (Nick)

April 1992 – “Jeder sollte sich umbringen, bevor er 14 wird.” (Richey)

Frühjahr 1992 – Erste AUftritte in Deutschland. In München rammt ein weiblicher Fan den Tourbus der Band, um ein Autogramm von Richey zu ergattern.

Mai 1992 – “Ein Land, das auf einem Ozean von Scheiße und Pisse dahintreibt.” (Nick über die USA)

19.6.1992 – “Alle Männer sollten kastriert werden!” (Nick, Bühnenansage) “An Prinzessin Diana: Wenn du dich schon umbringen willst, dann tu es anständig und versuch es nicht fünfmal!” (Nick, Bühnenansage) “Ich kann nicht damit umgehen, daß uns all diese Leute mögen.” (Nick nach dem Konzert)

11.12.1992 – Vor 2.500 Zuschauern im Londoner Kilburn National verkündet Nick: “Laßt uns in dieser Zeit frommer Wünsche alle hoffen, daß Michael Stipe recht bald genauso endet wie Freddie Mercury.” Ein Aufschrei der Empörung geht wochenlang durch alle Medien; Sony versucht Nick zu zwingen, die Band zu verlassen. James erklärt: “Sprache war immer unsere Waffe, und wenn man dabei ein paar ‚netten‘ Leuten weh tut oder sie beleidigt, ist das eben notwendig.”

25.1.1993 – In den luxuriösen Hook End Manor Studios (2.000 Pfund pro Tag) beginnen die Aufnahmen für das zweite Album. Nach Ende der Sessions verbringt Richey ein Wochenende in einer Privatklinik.

5.9.1993 – Nach einem Auftritt in Nürnberg raucht Richey mit der Vorband The Comics den ersten Joint seines Lebens und fällt danach eine Treppe hinunter. Nick: “Wir haben fünf Stunden lang nicht miteinander geredet. Ich dachte, das ist das Ende der Band.”

September 1993 – Nick heiratet Rachel (“Meine erste Liebe, und meine letzte”) und zieht mit ihr in ein Haus in Wattsville.

7.12.1993 – Manager Philip Hall stirbt an Lungenkrebs.

April 1994 – Kurt Cobain und der Situationist Guy Debord, zwei von Richeys Idolen, und sein bester Freund von der Universität begehen Selbstmord. Richey ernährt sich von Wodka und hört auf zu essen, weil er Angst hat, dick zu werden.

22.4.1994 – Nach dem ersten von zwei Konzerten in Bangkok droht die Mah-Boonkrong-Halle einzustürzen. Ein weiblicher Fan schenkt Richey ein Set Messer mit der Botschaft: “Sieh mich an, wenn du es tust.” Am nächsten Abend steht er mit zerschnittener Brust blutüberströmt auf der Bühne. Nick: “Da spürte ich zum ersten Mal, daß etwas Schlimmes läuft.”

Mai 1994 – Debüt der neuen Single “Faster” bei “Top of the Pops” in Militärkluft mit vermummtem James. 25.000 Zuschauer beschweren sich telephonisch – ein einsamer Rekord.

24.6.1994 – “Man sollte ein paar Brücken über dieses Scheißloch bauen!” (Nick, Bühnenansage in Glastonbury)

Juni 1994 – Julie Burchill lädt Richey Edwards zu einer Gala zu Ehren des “Generation X”-Autors Douglas Coupland. Als Coupland den neben ihm sitzenden Richey fragt: “Und was machst du? Gehörst du zur Generation X?”, starrt ihn Richey eine Minute lang angewidert an, dreht sich dann weg und sagt den ganzen Abend kein Wort mehr.

Juli 1994 – Nach einem verwirrten nächtlichen Anruf bei Nick ist Richey zwei Tage nicht zu erreichen. Seine Eltern finden ihn schließlich in seiner verwüsteten Wohnung – total betrunken und mit tiefen Schnittwunden. Danach sagt er: “Ich werde mich nie umbringen. Ich bin zu stark dafür”, und läßt sich in eine psychiatrische Klinik in Cardiff einliefern.

30.7.1994 – “T In The Park”-Festival, London: Zum ersten Mal seit 1989 treten die Manics zu dritt auf.

3.8.1994 – Richey wird in die Londoner Klinik The Priory eingeliefert, berühmt für ihr “12-Stufen-Programm”, mit dem er Magersucht und Alkoholismus überwinden will. Bei seiner Entlassung ist er “trocken”, nimmt aber große Mengen Prozac und raucht 65 Zigaretten am Tag. Nick: “Sie haben den Menschen aus ihm rausgeschnitten und eine leere Schale zurückgelassen. Die Person, die ich kannte, ist langsam weggeebbt.”

September 1994 – Nach vier weiteren Festivalauftritten zu dritt sagt Nick dem Melody Maker: “Die letzten sechs Monate waren ein einziger Alptraum. Ich hatte in meinem ganzen verdammten Leben noch nie so einen Haß auf jeden und alles.”

21.12.1994 – Am dritten und letzten Abend im Londoner Astoria zerschlägt die Band ihr gesamtes Equipment. “Die letzten fünf Minuten, als wir Zeug für 8.000 Pfund kaputtgehauen haben, waren fünf der besten Minuten meines Lebens. Es war phantastisch. Bis wir die Rechnung gesehen haben.” (Nick)

Januar 1995 – In Surrey beginnen die Demoaufnahmen für das vierte Album.

14.1.1995 – Richeys Hund Snoopy, sein “wertvollster Besitz”, stirbt.

23.1.1995 – Der japanische Journalist Midori Tsugakoshi reist aus Tokyo nach Cardiff, um Richey zu treffen. Es wird sein letztes Interview.

31.1.1995 – James und Richey quartieren sich im Londoner Embassy-Hotel ein, um am nächsten Tag für Promotiontermine in die USA zu fliegen.

1.2.1995 – Um 7 Uhr fährt Richey mit seinem silbernen Vauxhall Cavalier zurück nach Cardiff in seine Wohnung. Am späten Vormittag läßt James Richeys Zimmer öffnen und findet es leer bis auf eine Packung Prozac, einen Koffer mit Klamotten und eine Schachtel mit Büchern, Videos und Bildern, die mit den Worten “I love you” an Richeys Freundin Jo adressiert ist. In Richeys Wohnung findet die Polizei seinen Paß und seine Kreditkarte.

2.2.1995 – James fliegt allein in die USA. Alle für das Frühjahr geplanten Konzerte werden abgesagt.

15.2.1995 – Die Polizei von Cardiff veröffentlicht die Meldung von Richeys Verschwinden mit einem Aufruf an eventuelle Zeugen, sich zu melden. Über Zeitungen und Fernsehen bitten Richeys Eltern ihn um eine Nachricht.

17.2.1995 – Richeys Auto wird mit leerer Batterie auf der englischen Seite der Severn Bridge auf einem Parkplatz gefunden, wo es laut Parkzettel mindestens seit 14.2. steht. Auf den Sitzen liegen Kassetten und eine Tüte mit Photos von seinen Eltern. Abgesehen von angeblichen Sichtungen in Goa, auf Fuerteventura und anderswo bleibt Richey bis heute verschwunden.

April 1995 – Nach langen Diskussionen untereinander und mit Richeys Eltern beschließt die Band, weiterzumachen.

24.9.1995 – Für den “Help”-Sampler zugunsten bosnischer Kinder nehmen die Manics eine Coverversion von “Raindrops Keep Falling On My Head” auf.

29.12.1995 – Erster Auftritt seit Richeys Verschwinden im Vorprogramm der Stone Roses in der Wembley Arena. Nicks Ansage: “Beruhigt euch, wir sind’s nur.”

15.4.1996 – “A Design For Life” verkauft sich 93.000mal und debütiert hinter Mark Morrisons “Return Of The Mack” (100.000) auf Platz 2 der britischen Charts.

26.5.1996 – EVERYTHING MUST GO landet (hinter George Michaels erstem Album seit sechs Jahren) ebenfalls auf Platz 2.

19.7.1996 – Beim Phoenix-Festival werden die Manics dabei beobachtet, wie sie freundlich mit Musikern anderer Bands plaudern.

10./11.8.1996 – Im Vorprogramm von Oasis spielt die Band vor dem größten Publikum der britischen Geschichte (250.000).

15.12.1996 – Kylie Minogue kommt auf die Bühne des Londoner Shepherd’s Bush Empire, um mit den Manics “Little Baby Nothing” zu singen.

16.12.1996 – Kentish Town Forum: Während “Motown Junk” wankt Liam Gallagher auf die Bühne, um Nick zu küssen. Zu “You Love Us” kehrt er zurück, posiert als Jesus, zerschlägt eine Bierflasche, umarmt Nick und fällt mit ihm zu Boden.

Frühjahr 1997 – Die Manics gewinnen praktisch alle Preise, die die britische Musikpresse zu vergeben hat, und sind der einzige britische Act mit vier Top-ten-Hits im Jahr 1996. “Wir sind ein Unternehmen. Manic Street Preachers ist ein Markenname, wie Pepsi.” (Nick)

10.5.1997 – Auftritt beim Hillsborough-Justice-Festival zugunsten der Familien von 96 bei einem Fußballspiel 1989 getöten Fans.

1.9.1997 – Die ersten sechs Sony-Singles werden wiederveröffentlicht.

September 1997 – Die Manics schreiben und spielen zwei Songs (“Some Kind Of Bliss” und “I Don’t Need Anyone”) für Kylie Minogues Album “Kylie Minogue”.

31.8.1998 – “If You Tolerate This Your Children Will Be Next” debütiert mit 176.000 verkauften Exemplaren auf Platz 1 der britischen Charts – 22 Jahre nach Abbas “Fernando” der zweite Spitzenreiter über den spanischen Bürgerkrieg. Nick: “Ich wollte all meine Freunde anrufen und ihnen sagen, daß wir Nr.1 sind. Dann ist mir klargeworden, daß ich gar keine Freunde habe.”

September 1998 – BBC sendet eine Dokumentation über die Karriere der Band. Nick: “Ein totaler Haufen Scheiße.”

30.11.1998 – “The Everlasting” wird zwanzigste Top-40-Single der Band in Folge.

Dezember 1998/Januar 1999 – Erneute Überhäufung mit Auszeichnungen, u.a. Q Award als “Best Act in the World Today”. Bei der Zeremonie trifft James Michael Stipe, der hinterher verkündet: “Ich wußte sowieso nicht, wer die waren, also war mir der blöde Spruch damals egal.”

Sommer 1999 – Beim Glastonbury-Festival beschwert sich Billy Bragg über eigens für die Manics reservierte Backstage-Toiletten. Nick: “Ich will nicht, daß irgendjemand in meinem Klo Koks schnorchelt oder, noch schlimmer, Gras pafft.”

31.12.1999 – Unter dem Situationisten-Motto “Leaving The 20th Century” spielen die Manics vor 60.000 Zuschauern im Millennium Stadium in Cardiff.

“Die Hälfte von dem, was ich sage, ist Müll. Aber die Hälfte, die wahr ist, ist wesentlich wichtiger als alles, was irgendjemand sonst sagt.” (Nick Wire, Dezember 2000)

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