„Was ist so lächerlich an Frieden, Liebe und Verständnis?“ (Gedanken zu einem Stück Musik)

Anmerkung: Der folgende Text entstand ursprünglich für die von Jens Fischer Rodrian initiierte Reihe „Friedensnoten“. Leider stellte sich, nachdem ich ihn fertig und abgeschickt hatte, heraus, daß meine liebe Radio-München-Kollegin Sabrina Khalil etwas früher angefragt worden war und dem gleichen Song (in einer anderen Version) eine Folge der Reihe gewidmet hatte (was – sorry, subjektive Meinung! – für ihren Spürsinn und Sachverstand spricht). Mein Vorschlag, beide Texte zu beiden Versionen gleichzeitig zu veröffentlichen, hätte wohl das Format ein bißchen überfordert. Sabrinas Text ist hier nachzulesen, die Originalversion des Songs von Nick Lowes Band Brinsley Schwarz (1974) gibt es hier. Die definitive Version, auf die ich mich beziehe, ist diese. Es gibt auch eine Version von Bruce Springsteen und vielen supi Prominenten im üblichen Nutella-Sound, die aber immerhin eindeutig klarmacht, wieso Elvis Costello unsterblich ist und The Attractions die geilste Rock-’n‘-Roll-Band dieses Planeten und aller Zeiten waren, momentweise. So, und jetzt kommt endlich der Text (nach dem Bild):

Liedern gegen den Krieg haftet der Ruch einer gewissen Süß- und Säuseligkeit an, wahrscheinlich auch wegen der grundsätzlichen Vergeblichkeit der Bemühung: Selbst wenn es kämpferisch wird – ansatzweise in Lennons „Give Peace A Chance“, ins zynisch-parodistische Extrem übersteigert in Iggy Pops „Search & Destroy“ – gilt der Zorn zumindest zum Teil dem Wissen, daß ein Lied nichts ändern wird und noch nie etwas geändert hat. Daß der Vietnamkrieg endete, hätten selbst die größten Schwärmer weder Bob Dylan noch MC5, weder Jefferson Airplane noch Iggy Pop und den superbösen Stooges zugeschrieben, sondern einer schlichten Grundregel, die seit dem zweiten Weltkrieg gilt: Der Krieg ist aus, wenn die US-Truppen abziehen.

In der Zeit, als ich musikalisch sozialisiert wurde – nach der generationstypischen Kindergartenbegeisterung für die Beatles, die Rolling Stones und (vielleicht weniger typisch) die Monkees und der ebenso üblichen Prä-Teenager-Liebe zu T. Rex, Slade, Sweet und Alice Cooper – und mich selbst als Musiker zunächst nur zu fühlen begann, gab es keine Friedens- und vordergründig auch keine Antikriegslieder. Es war die Zeit von Punk und New Wave. Statt der desavouierten, durchkommerzialisierten und als Heuchelei entlarvten Träume von „Love & Peace“ regierten nun Sarkasmus, Zynismus und ein gewisser, durchaus positiver Nihilismus – „Hate & War“ sangen The Clash, die Sex Pistols antworteten: „I dared to ask for sunshine / And I got world war three.“ Ultravox! erzählten von Maschinenmenschen, XTC von Selbstverbrennung im Atomzeitalter, The Jam von Polizisten, die Menschen töten dürfen, die Stranglers von Haß und Langeweile, Television von der mörderischen Einsamkeit der Neon-Großstadtexistenz, Magazine von der absoluten, rasenden Leere der modernen Welt, während Gang Of Four auf Basis marxistischer Theorie über Entfremdung, Militarismus und den Warencharakter sexueller Beziehungen diskutierten. Selbst der grundsätzlich friedensbewegte Berufsagitator Tom Robinson wollte lieber Umsturz als Versöhnung, und wenn Street-Punk-Bands wie Sham 69 zwischendurch mal romantisch wurden, ging es immer noch um „riot“, nie um Frieden.

Man feierte das sinnlose Chaos, beschwor angesichts des drohenden Atomkriegs die Erinnerung an KZs und Massenmord, scherzte über Faschisten und Diktatoren, fand eine Welt, die sich zunehmend zu einem einzigen Biotop von Atomraketen und anderen Massenvernichtungswaffen entwickelte (das heißt: absichtlich und bewußt entwickelt wurde), verabscheuungswürdig, wollte ihr entfliehen – und fand keinen Fluchtort mehr, was die Selbstzerstörung als einzigen Ausweg erscheinen ließ. Wenn schon niemand erklären konnte, was das alles sollte, wollten wir immerhin hämisch lachend abtreten, wenn der große Knall ertönte. Noch mal die Sex Pistols: „I gotta go over the Wall / I don’t understand this thing at all / It’s third rate B-Movie show / Cheap dialogue, cheap essential scenery“.

Aber eine Ausnahme fällt mir ein. Vielleicht war sie nicht so singulär einzigartig, wie ich das in der Erinnerung empfinde, mindestens aber verstieß sie gegen fast alle textlichen Regeln, die damals galten. Okay, eine gewisse zynische Ironie mag man hineindeuten in das, was Elvis Costello da sang (und sein Freund und Produzent Nick Lowe schon vier Jahre zuvor gesungen hatte, ohne daß ein Mensch zugehört hätte): „As I walk through this wicked world / Searchin’ for light in the darkness of insanity / I ask myself, is all hope lost? / Is there only pain and hatred and misery?“

Man kann es aber auch ganz schlicht ernst und beim Wort nehmen: Ja, die Frage ist naiv, aber wie lautet die Antwort? Indem Costello eben keine süßlichen Traumwelten aufbauscht, sondern die Welt als das benennt, was sie nicht nur im „kalten Krieg“ des Jahres 1978 war, sondern heute noch viel, viel mehr ist – die „Dunkelheit des Wahnsinns“, in der es „nur Leid und Haß und Elend“ gibt. Und die wir alle, jeden Tag, einfach so hinnehmen, als wäre diese Hölle die selbstverständliche Folge von Naturgesetzen, an denen kleine Menschlein – zumal wenn sie nicht einmal durch Herkunft, Erbe, kriminelle Umtriebe oder Zufall mit Macht ausgestattet sind – gefälligst nichts zu deuteln haben.

Ich habe einer Gruppe von Jugendlichen, mit denen ich im Theater zusammenarbeite, vor einiger Zeit den Songtext vorgelegt und festgestellt, daß sie ihn ein bißchen peinlich fanden. Das konnte ich nachvollziehen, aber nicht wirklich verstehen, wir waren doch unter uns. Was ist peinlich daran, sich, der Welt und ihren Machthabern diese simple Frage zu stellen: Was soll an Frieden, Liebe und Verständnis so komisch sein, daß man es automatisch peinlich findet?

Hier kommt Costellos (und Lowes) Genie ins Spiel: Als ich die Jugendlichen fragte, wie sie sich die Musik zu dem Text vorstellen, waren sie sich relativ einig: irgendwas mit Lagerfeuer, Country, eher schmalzig, sehr ruhig und getragen, melancholisch, wahrscheinlich ein bißchen kitschig (eine Einzelmeinung – die heutige Jugend insgesamt steht auf Kitsch, und zwar den pathetischsten, den man sich nur vorstellen kann).

Als ich ihnen das live im Studio aufgenommene und förmlich aus den Lautsprechern explodierende Lied dann vorspielte und sie das umwerfend zappelige, urkomische und zugleich rührend ehrliche Video dazu sahen (unbedingt anschauen!), fielen sie aus allen Wolken. Die meisten mußten unwillkürlich lachen vor Freude, und im Raum verbreitete sich für den Rest des Vormittags eine Fröhlichkeit und Glückseligkeit, wie man sie heute normalerweise nirgendwo mehr erlebt, höchstens in der pervertierten, verbissenen Abform des „Partymachens“, die echtem Frohsinn höchstens aus sehr weiter Entfernung ein bißchen ähnelt, dem Krieg aber nähersteht. Und die entscheidende Frage war plötzlich gar nicht mehr peinlich, sondern von existentieller Bedeutung und zugleich befreiend wie ein Urschrei.

Ich habe das Lied in den letzten zwei Jahren oft gehört, zum Beispiel beim Radeln durch eine Stadt, die vollgestellt war mit Plakaten eines berüchtigten Mafiosos, der vor der letzten nationalen Akklamationskampagne „Respekt für dich“ versprach und dem man aber ansah, was er meinte: Verachtung für euch alle. Dieser Schießbudenfigur, die Frieden, Liebe und Verständnis ganz bestimmt peinlich, „kontraproduktiv“ und kindisch und die Frage danach naiv findet, diesem Kerl, dem zu all dem, was er und seine Kumpane anrichten, zu den Menschen, die darunter leiden, nur einfällt, man solle sich eben „unterhaken“, dem habe ich – ohne Zeugen und symbolisch – den Mittelfinger gezeigt und ihn angebrüllt: Was zum Teufel soll an Frieden, Liebe und Verständnis so lächerlich sein?

Danach ging es mir besser. Ich weiß, es hilft niemandem und löst kein Problem der Welt, wenn es einem besser geht, ohne daß etwas besser wird.

Aber wenn man denen – und sich – diese simple Frage oft genug stellt, dann geht es möglicherweise nicht nur einem selbst besser. Dann wird vielleicht der Krieg, den diese Menschen wie manisch führen müssen, seit Jahrzehnten und Jahrhunderten, irgendwann peinlich und lächerlich und untragbar.

(Eine kleine Fußnote: Der Zynismus, von dem ich eingangs als Zeichen der Zeit sprach, war Elvis Costello nicht fremd. Im Gegenteil, man könnte ihn als eines der prägenden Merkmale seines viele hunderte Songs umfassenden Corpus bezeichnen. Neben dem auf den Holocaust anspielenden Anti-Thatcher-Song „Pills & Soap“, der heute noch sprachlos macht, finden sich darunter viele weitere Lieder zum Thema Krieg und Frieden, herausragend: „Oliver’s Army“ über den Terror der Briten in Nordirland, eine von britischen Söldnern im Windschatten US-amerikanischer Imperialisten unterworfene („dritte“) Welt und den Preis für die Hegemonie, den immer die Arbeiterklasse bezahlt, sowie „Shipbuilding“ über den Aufschwung der britischen Schiffsbauindustrie durch den Falklandkrieg – und die bittere Ironie, daß die neugebauten Schiffe die Söhne ihrer Erbauer in einen sinnlosen Tod schickten.)

2 Antworten auf „„Was ist so lächerlich an Frieden, Liebe und Verständnis?“ (Gedanken zu einem Stück Musik)“

  1. Wie gut, daß ich heute noch nicht bei einem Barolo gelandet bin, denn Texte, die in denen Worte wie „Komfortzone verlassen“ und „schlicht“ gleich mehrfach mit künstlich aufgemotzten Füllsätzen wie „Konfrontation mit dem Schatten“ vorkommen, machen mich gleich entsetzlich bleiern in allen Gliedern, noch schlimmer wird es dann leider (und ja, ich bin parteiisch, sagte ich ja schon) mit der „zerfallenden Hippiebewegung der 70er Jahre“, denn da kenne ich mich aus, was dann angeblich auch noch ohne „intellektuelles Zerreden“ auskommen würde:

    Ja, stimmt. Aber der Beitrag ist schlicht dann auch sehr schlicht.

    Wenn es dann weitergeht mit „aber hey!“ fehlt eigentlich nur der sich unbedingt daran anschliessende Nullersatz „ab dann ging alles sehr schnell!“ – meistens kann man ab dann den Text schadlos verlassen, es kommt nichts mehr nach. „Offensichtlich lernen wir ja nichts wirklich“ schon gar nicht von den vermeintlich „alternativlosen Antworten“ die auf „drängende Fragen unserer Zeit“ passen wie die Faust aufs Auge, die uns „durch immergleiche Kanäle in Dauerschleife entgegengeschrien“ wird.

    Ich weiß, das sieht jetzt nach gekauftem Zerreissen aus, womit ich womöglich Michael Sailer einen Bärendienst erweise, dennoch: auch wo jemand mit „wahlweise“ aufwartet, wozu ihm die Phantasie fehlt es sprachlich aufgeräumt gegeneinander in Stellung zu bringen und sei es über das musikalische Gehör (es kreischt wie ein trockener Schwamm auf einer Schiefertafel), hilft auch nicht, daß man alle Reizwörter wie „gecancelt, dumm, naiv, diffamiert und lächerlich“ anschließend quadratisch-praktisch-gut aufreiht wie auf eine Wäscheleine.

    Der Korpus bewegt sich nicht, er ist mausetot.

    Getoppt wird dann mit „Ideologie, Verblendung, kollektivem Wahnsinn und Gewalt- und Angstfantasien“ – fehlt noch was? Daß dann schon wieder über die „ausgehende Hippiebewegung“ gestolpert wird, wo alle angeblich angefangen haben sollen „harte Drogen zu nehmen“ bzw. das Trinken „wieder aufnehmen“, da frägt man sich nur eines: War da die Autorin überhaupt schon auf der Welt? Wer hat ihr denn diesen Schmarrn erzählt?

    Ich könnte ganze Bücher schreiben über diese Zeit und jedes würde komplett anders ausfallen: Gerade hier im Blog wird man ständig getriggert eine Räuberschote aus der einen wie der anderen Subkultur zum Besten zu geben – denen wir alle ohne uns irgendwie anstrengen zu müssen zur selben Zeit angehört haben. Mit einer Resopalweisheit, wenn dann zum dritten Mal ein „Aufwachen aus dem Hippietraum in kalte Abgeklärtheit“ beschworen wird, hat es jedenfalls nullkommagarnichts zu tun.

    „Wow, was für eine Einsicht!“:

    Und: SIMPLE, KLARE UND MENSCHLICHE LEBENSWEISHEITEN FÜR SICH SPRECHEN ZU LASSEN.

    Wie gut, daß hier nicht steht „schlichte Lebensweisheiten“, grade noch die Kurve gekriegt. Bei der kulturellen Anbiederung an die kulturelle Zeitgeistaneignung a la einem koketten „darf ich das überhaupt?“ muß ich jetzt leider aufhören: Das ist schlicht zuviel.

    Josi

  2. ich finde das interessant:
    als rein klassischer Musiker bin ich nach München gegangen und habe dort Musik studiert, Freude und Gefallen an Jazz und Improvisation kamen noch hinzu. Als höchstes habe ich mit „embryo“ gespielt. Ich habe bis heute so hammermäßig wenig Ahnung von diesen Musiken, die Du hier erwähnst, wie von Fussball, wo ich immer noch nicht begriffen habe, was „abseits“ ist.
    Und wenn der U-Bahn-Fahrer „zurückbleiben!“ befahl, musste ich immer lachen, denn zurückgeblieben waren fast alle…
    schöne Grüße

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