(Aus dem tiefen Archiv:) 1969: Das schlimmste Rockjahr der Welt!

(Der folgende Text entstand im Sommer oder Herbst 2004 als „Intermezzo“ im fünften Kapitel des Buchs „Deep Purple – die Geschichte einer Band“, das bis heute zu den ganz wenigen Dingen gehört, bei denen ich froh bin, mehr oder weniger dazu „gezwungen“ worden zu sein. Es war ein Riesenhaufen Arbeit, für den Jürgen Roth und ich einiges an Schmähungen einstecken mußten – und zwar für genau das, was mir an dem Buch bis heute gefällt: Es stehen Sätze drin, von denen ich mich nach wie vor frage, wie sie gelingen konnten. Das, vermute ich, war die Musik.)

Wenn man das Spiel mit den Pop-Generationen mitmacht, dann hat, wer Mitte bis Ende der fünfziger Jahre geboren ist, Pech gehabt, weil er zu jung für die Beatles und zu alt für Glam und Punk ist. Und wer 1969 erstmals regelmäßig pubertäre Schübe verspürt, die den Besuch von Rockkonzerten dringlich erscheinen lassen, der hat gleich doppelt Pech. Die Rockgeschichte hat viele schreckliche, öde, finstere und fade Jahre erlebt, aber selten ein solches wie 1969.

In London ist zum Beispiel der Psychedelic-Chic inzwischen musikalisch weitgehend verweht respektive modisch dazu degeneriert, die Pelz- und Rüschenhinterlassenschaften seiner verstorbenen Großtante ohne Rücksicht auf Mottennester durch die Gegend zu tragen. Das ist zwar nicht schön und cool, aber zumindest „angesagt“ – und eine passende Ergänzung zum tobenden British-Blues-Revival, das ungeahnte Kreaturen auf die Bühnen spült und in der entscheidenden Frage kulminiert: Can white men sing the Blues? Oder wie die Bonzo Dog Doo-Dah Band mit zeittypischer „Ironie“ formuliert: „Can blue men sing the whites?“ Die Antwort ist nein, ein röhrendes, jaulendes, jodelndes, bis zur Unerträglichkeit und nicht selten absichtlich verzerrtes Nein, das für ein paar Monate aus Schulturnhallen und Kellern schallt.

Da jammert Victor Brox von der Aynsley Dunbar Retaliation zu gröbstem Gitarren-Unfug durch seinen Rauschebart, wie er heute morgen aufgewacht sei und sich neben seinem toten Hund im Mississippidelta wiedergefunden habe. Und da nudeln Juicy Lucy stundenlange Quäk-Soli in mortifizierte Biertrinkerhorden, quälen sich Sam Apple Pie durch ein klägliches Nichts in Sachen Können und Ausdruck, wursteln die Blossom Toes mit schmerzverzerrten Gesichtern jenseits jeder Harmonie, hockt bei einer „Top-Band“ namens Aardvark ein Mann mit einem überdimensionalen Teebeutel auf dem Kopf im Stroboskoplicht an einer verstimmten Orgelruine und überbietet seine Spießgesellen im Erzeugen kakophonischer Ungeheuerlichkeiten.

Das bedauernswerte Publikum solcher Entmenschungsveranstaltungen hat sich einen passenden Verhaltenskodex antrainiert: Man betrachtet seine Schuhe, robbt auf allen vieren über den Hallenboden, wenn mal wieder ein streng riechender Zeitgenosse in der Nähe einen „schlechten Trip“ hat und unter Verschüttung von Bier und Mageninhalt Hilfe aus imaginären Sphären erfleht. Man klatscht nie, zumindest nicht bei den Vorgruppen, die gerne mit dem Zusatz „& friends“ angekündigt werden, denn sonst könnte man riskieren, daß zum Beispiel die irischen Schreckensgestalten von Hard Meat zurück auf die Bühne kommen und noch mal eine Viertelstunde lang zeigen, wozu sie „fähig“ sind. Man äußert niemals laut, wie glücklich man sich schätzt, mal wieder eines der „free concerts“ der Pink Fairies mit Jon Lords ehemaligem Mitstreiter Twink oder der Edgar Broughton Group verpaßt zu haben, die regelmäßig bei Festivals am Rand des Geländes ihre Anlage aufbauen und „für das Volk“ spielen, weil sich die Veranstalter weigern, solchen Krach ins Programm aufzunehmen und dafür auch noch Gage zu bezahlen. Oder wenn man mangels Krawatte nicht reingelassen wird in eine der nach Kohlrouladen, Schweiß und saurem Bier stinkenden Lokalitäten, wo Zelebritäten wie Blonde on Blonde und Joe Jammer (den „Nachnamen“ bitte englisch aussprechen!) ihr Publikum beackern.

Man hält sich höflich still, lächelt zuvorkommend, wenn man von den Hell’s Angels, die sich bei Rockveranstaltungen einfinden, um sich mal wieder zu treffen, kostenlos Bier zu trinken und abwesende Autoritäten zu verachten, zur Herausgabe von Getränk und Zigaretten aufgefordert wird, und erträgt, was ertragen werden muß. Man steht selbst das kreischende Geigengekratze von Dave Arbus und East of Eden durch, erträgt sogar das rumpelnde Geplötter von Pete Browns Battered Ornaments oder die Darbietungen von Storyteller, deren Sänger mit einem Baumstumpf auf die Bühne zu wummern pflegt, um die Zuhörer zur Ruhe zu befehlen, weil das nächste „Stück“ peinlichst genaues Hinhören erfordere. Und im äußersten Fall auch Bloodwyn Pig, die Third Ear Band, Mighty Baby, The Spirit of John Morgan, Dr. K’s Blues Band, Savoy Brown oder Principal Edward’s Magic Theatre – cirka 25 Studenten mit einer „anspruchsvollen“ theatralischen Fusion aus Gitarrespiel und expressivem Tanz, in der sie Blumen und Halme verkörpern, um auf das nahende Ende der Welt hinzuweisen.

Auf Festivals wie dem im belgischen Bilzen am 24. August, dessen Höhepunkte darin bestehen, daß es von drei Tage vorher bis drei Tage nachher ununterbrochen wie aus Gießkannen schüttet und eine matschige Tomate, die eigentlich für Jon Lord gedacht ist, auf seiner Orgel landet, säuft man sich mit schalem Dünnbier empfindungslos, läßt sich von Rockern verprügeln, schläft mit seinem vollgepinkelten Schlafsack in Urinschlammpfützen und erfährt zwischendurch von den Veranstaltern, dass vierzehn der fünfzehn angekündigten „Top-Gruppen“ leider auf der Autobahn hängengeblieben seien, weshalb als nächstes eine zufällig anwesende Fantasy-Blueskapelle aus dem nächsten Dorf spiele.

Weil musikalische Qualitäten auf den Alben der „angesagten“ Bands äußerst selten und im Konzert dank der Schrottanlagen, die meist irgendwie und selbstverständlich ohne Rücksicht auf den zu beschallenden Raum oder das darin befindliche Menschenmaterial zusammengestückelt wurden, praktisch nie zu entdecken sind, konzentriert man sich auf erkennbare Anhaltspunkte. Zum Beispiel den, wer am schnellsten spielt: Hat Alvin Lee von Ten Years After heute nicht mehr Töne pro Minute hinbekommen als Clem Clempson von der Bakerloo Blues Line letzte Woche? So hat man auch was zum Diskutieren, während man sich auf dem Hallenklo versteckt, weil der Gitarrist von Chicken Shack, der das längste Gitarrenkabel in ganz England besitzt (gottlob sind wenigstens Sender für solche Zwecke noch nicht erfunden) mal wieder von der Bühne gesprungen ist und das Auditorium mit einer Mischung aus endlos heulendem Saitengequäl und darüber unhörbaren Flatulenzen terrorisiert.

1969 ist ein grausiges Jahr, ein Niemandsland in einer musikalischen Historie, die ohne Ereignisse nicht auskommen mag und kann, bestimmt von naiven Wahnsinnigen und einer Industrie, die auch dann Produkte verkaufen muß, wenn niemand da ist, der diese Produkte mit erträglichen „Inhalten“ (Tim Renner) zu füllen vermag. Es ist das Jahr einer Generation, die, wie es ein Zeitgenosse formuliert, „alles verpaßt hat“, deren popmusikalische Initiation am besten das Cover des Albums Ceremony von Spooky Tooth & Pierre Henry widerspiegelt: Da ist ein geschundener Mensch zu sehen, dem jemand mit einem Hammer einen dicken Nagel in den Kopf hineintreibt. In einem solchen Jahr gilt es als Ausweis ungeheuren Wagemuts, als Beleg künstlerischer Kraft und innovativen Aufbruchswillens, wenn Rockmusiker sich mit Orchestern zu gemeinsamen Unternehmungen treffen.

Die Fusionsidee wird auch in der Folgezeit immer mal wieder ihr krauses Haupt aus dem Sumpf progressiver Verirrungen erheben. Namen wie Ekseption, Beggar’s Opera, New Trolls lassen wir fallen und vergessen sie (soweit es geht) gleich wieder. 1972 wird pop am Ende eines vierseitigen Rundgangs durch die „Klassik in Pop“-Szene fragen, „ob die vielen Gruppen, die sich an die Sinfonieorchester-Welle angehängt haben, dies aus billiger Effekthascherei tun oder ob ihnen die Verarbeitung des klassischen Elements in der Pop-Musik wirklich ein Anliegen ist“. Und auch über diese Frage wollen wir uns nicht den Kopf zerbrechen.

Es war eine wunderbare Zeit, um Musiker zu sein, und es war wirklich unglaublich aufregend“, läßt sich Jon Lord zum Jahr 1969 zitieren, „denn es gab keine Regeln.“ Damit könnte er, genau betrachtet, sogar recht haben.


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