Was sich in dem wenigen alten Grün, das der hyperreale Hygienemensch (HHM) am nördlichen Münchner Stadtrand noch nicht der Vernichtung und Verbetonwüstung zugeführt hat, an einem normalen Tag so tut, ist im Grunde ein Skandal.
Die Rotkehlchen flattern in gewagter Akrobatik von einem Baum zum nächsten und zurück, zwitschern frei erfundene Liedchen in die Welt (ohne Urheberrecht und in teilweise haarsträubenden Harmonien) und hüpfen freudig hinter dem Rasenmäher her, Spinnen flitzen zwischen Grashalmen herum, Mücken vollführen ekstatische Massenraves auf einzelnen Sonnenstrahlen, Schnecken flutschen auf Bäume hinauf, wissen dann nicht, was sie da sollen, sperren das Haus zu und bleiben kleben, bis ihnen was neues einfällt (zum Beispiel wieder hinunterflutschen).
Nußbäume und Eichen sprießen wahllos da und dort aus dem Moos, weil das demente Eichkatzerl vergessen hat, wo seine Winterdepots sind; der Mohn neigt die Köpfe und pfeift auf das Betäubungsmittelgesetz; Hummeln brummeln orientierungslos in der Gegend herum, weil sie beim Brummeln knapp über dem klimabedingt verdörrten Boden so viel Staub aufwirbeln, daß selbst ein Facettenauge nichts mehr sieht. Die Amsel schimpft jeden, der sich näher als fünfzig Meter an ihr Nest heranwagt, das aber strategisch so perfekt placiert ist, daß jeder dreimal am Tag dran vorbeimuß. Die Krähe findet alles scheiße und plärrt „Bah! Bah! Bah!“; die Wanzen fallen ständig auf irgendwas drauf, was sie dann anstänkern, der Frosch sitzt auf einem Blatt und glotzt und wundert sich, wieso er plötzlich untergeht, wenn der Molch das Blatt unter seinem Hintern wegzieht.
Die Tauben fliehen vor den Täuberichen, denen dauernd der Hals schwillt und die nur ein einziges Lied können („Song 2“ von Blur: „Hu-hu!“), der Rhabarber duckt sich unter den Giersch und merkt zu spät, daß er jetzt kein Sonnenlicht mehr abkriegt, der Aprikosenbaum streckt sich so gierig der Sonne entgegen, daß er spätestens 2024 umkippen wird, der Hopfen strebt so eifrig nach oben, daß er zu spät merkt, daß er sich die eigenen Wurzeln ausreißt. Die Schwebfliegen schweben einfach so herum und sonnen sich, der Wein ringt (griechisch-römisch) mit dem Blauregen, der Eichelhäher verdirbt sich mit unreifen Kirschen den Magen und fragt sich zwei Wochen später, wo die reifen Kirschen bleiben.
Der Specht zerspreißelt den uralten Ast, in dem er nächstes Jahr ein Nest bauen wollen wird („Huch? Wo ist der hin!“), die Wespen bauen derweil ein Nest im offenen Klohäusl und merken erst morgen, wenn die Klotür zu ist, daß da irgendwo ein Denkfehler war, irgendwo bellen Hunde, gackern Hühner, quaken Enten, kreischen Gänse, führen Schwäne ihre stirnrunzelnden Schwanzvergleiche durch, betteln Schildkröten nicht vorhandene Biergartengäste an, starten Bleßhühner Zwickangriffe auf friedliche Karpfen und weniger friedliche Karpfen Zwickangriffe auf Luftmatratzen. Ein Uhu argumentiert „Uhu!“, ein Kuckuck „Kuckuck!“, die Krähen antworten „Bah! Bah! Bah!“, die Blindschleichen schweigen beschämt, die Glühwürmchen bestrahlen das intime Familienleben der Mäuse, alle möglichen Bäume schleudern Wolken von Blütenstaub herum, der Knoblauch ergeht sich in wilden Verrenkungen, der Fenchel bildet das Lagerfeuer in grün nach, und am Ende kommen noch Fuchs und Igel vorbei, klauen die Reste vom Grillrost und sammeln die Knochen ein, die die Krähen in der Gegend herumgeschmissen haben. In der Morgendämmerung schweben Bussard und Habicht über den Folgen der Krawalle und lassen sich von den Schwalben auslachen, weil sie so komisch aussehen.
Das alles ist ein Skandal, weil es in höchstem Maße unproduktiv, ineffizient und idiotisch ist. Es ergibt keinen Profit, es rettet nicht das Klima, trägt nichts bei zur Erhöhung der Mobilität, schafft keinen bezahlbaren Wohnraum, löst kein Verkehrsproblem.
Und der HHM bemerkt davon nichts. Wenn der das „Areal“, auf dem sich all das abspielt, auf seinem Bildschirm betrachtet, sieht er nur ein grünes Rechteck. Das ist ja noch nicht betoniert! stellt er fest. Drum speichert er es als „Plan“, klotzt es mit kleineren grauen Rechtecken voll, bis nur noch ein bisserl Grün übrig ist, und stellt fest: Ist ja noch Grün da! Klima ahoi!
Allerdings hat das „Grün“, das dann, wenn sein Plan verwirklicht ist, noch da ist, mit dem alten Grün nicht das geringste zu tun. Da lebt nichts mehr außer ein paar Einheitsgrashalmen, dörrigem Baumarktgestrüpp und Ameisen. Wovon man bald nichts mehr sieht, weil es unter Pizzaschachteln, Kaffeebechern, Chipstüten, OP-Masken, FFP2-Staubschutzfiltern, Glasscherben, Plastiktüten und Getränkebüchsen begraben ist. Dann pflastert man es irgendwann zu und stellt ein buntes Spielgerät hin, um das ein paar entfremdete Maskenkinder herumstehen, denen die Lehrerin eingeschärft hat, daß man so etwas nicht berühren darf, weil sonst die Oma stirbt.
Warum das alles so ist und geht, läßt sich übrigens leicht erklären – in dem alten Grün war alles miteinander verbunden und lebte ineinander: der Frosch im Wasser, das Wasser in der Fliege, die Fliege im Vogel, der Vogel im Baum, der Baum im Boden, der Boden im Regenwurm, der Regenwurm in der Amsel und so weiter. Was da drin nicht lebte, war der HHM – der eigentlich kein Mensch ist, sondern nur Insasse einer seriellen, digital berechneten Existenz.
Der lebt auch in was – in Facebook, Google, Youtube, Vodafone, T-Online, Whatsapp, Telegram, Mediathek, Signal, Amazon, Netflix, O2, Sky, ARD, ZDF, Twitter, Instagram, Snapchat und so fort. Der Nachteil dieser Welten ist, daß es sie gar nicht gibt – sie sind nur Simulationen, erzeugt von digitalen Infomaten, die als „Serverfarmen“ irgendwo in der Welt herumstehen und so viel Strom verbrauchen, daß sie demnächst zusammenbrechen.
Das hat wieder einen Nachteil: daß es die „alte Normalität“, das alte Grün, die sinnlose Welt da draußen, die so unfaßbar wahnsinnig schön ist, dann auch nicht mehr geben wird. Und dann steht der Mensch ziemlich allein und einsam da in seinen Betonwüsten.
Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Dann konnte das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Corona“-Sanktionen nicht erscheinen, weil kulturelle Veranstaltungen und Vergnügungen verboten waren. Inzwischen sind einige unter strengen Auflagen wieder erlaubt, und das Heft erscheint vorläufig monatlich. Diese Folge erschien in der Juli-Ausgabe.
Ganz so pessimistisch wäre ich nicht. Der Mensch hat vielleicht nicht mehr viel Zeit, aber die Natur wird ihn überleben.