Belästigungen #411: Man könnte das eine Borderline-Kolumne nennen

Eine Freundin, der ich neulich einen großen Berg der hier veröffentlichten Kolumnen übergab, damit sie sie vor der Neuauflage als Sammelbuch auf Relevanz und Zumutbarkeit prüfe, meinte hinterher, ich sei ja ein ganz schöner Choleriker, wenn ich mich immer so aufrege, und so kenne sie mich gar nicht.

Das, meinte ich, mich höchstens milde aufregend, könne überhaupt nicht sein, schließlich werde der Choleriker im allgemeinen als willensstark und entschlossen beschrieben – vgl. etwa einen durchschnittlichen BWL-Börsennazi –, was auf mich nur in den seltensten Fällen halbwegs zutreffe. Dann, sagte sie nach einigem Wälzen im inneren Lexikon der Küchenpsychologie, handle es sich wohl um hyperaktive Melancholie mit einem Zug ins Depressive; andererseits kenne sie mich auch als notorisch exzessiven Sanguiniker an der Grenze zum pathologisch-hysterischem Übermut mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und mein Phlegma sei durch den Zustand meines Schreibtischs und den mangelnden Schnitt meiner Rosenstöcke und Obstbäume ausreichend belegt.

Sowieso indes seien derartige Kategorien überholt und in meinen Texten wie in meinem Verhalten An- oder mindestens Vorzeichen für derart viele psychosoziale, neurotische, affektive, Verhaltens-, Belastungs-, Persönlichkeits- und andere Störungen zu identifizieren, daß es sich bei mir wohl um einen Borderline-Patienten handeln müsse.

Hier wurde ich neugierig, weil mich exotische Diagnosen ohne Beeinträchtigung des Wohlbefindens zuverlässig begeistern, schon angesichts der Möglichkeiten, die sie im Alltagsleben bieten („Was heißt hier rote Ampel! Was heißt hier bezahlen! Ich bin Borderliner!“). In der Tat konnte ich einige der laut Fachleuten mit dieser Krankheit verbundenen Symptome an mir diagnostizieren: Das „Bemühen, ein Verlassenwerden zu vermeiden“ befällt mich fast immer, wenn ich verliebt bin, ebenso wie in diesem Lebensbereich das „Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen“ relativ zuverlässig Geltung hat. Die „Impulsivität beim Geldausgeben“ bezog sich schon in meiner Kindheit auf grelle, sinnlose, aber geile Spielzeuge (von Matchbox-Streakers und -Rola-matics bis zum Mini-iPad), ebenso fällt es mir notorisch schwer, die „Impulsivität in der Sexualität“ durch eine auf Jahre angelegte Planung von Partnerinnen, Orten, Terminen, Stellungen und diversen Durchführungsvorschriften zu ersetzen. „Unangemessene freudige Erregung“ (Feierabendbier!), „übermäßig niedergeschlagene Stimmungslage“ (Schafskälte!), „Empfindlichkeit gegenüber Kritik“ (Arschlöcher!), „Neigung zum Substanzmißbrauch“ (Theresienwiese!), „chronisches Gefühl von Leere“ (Hunger! Fernsehen!), „unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren“ (Heimniederlage!), „Gereiztheit bei übersteigertem Aktivitätsniveau“ (Redaktionsschluß!) – all das kenne ich aus nicht unbedingt leidvoller, aber irgendwie konkreter Erfahrung.

Ja, und nun? Habe ich eine Chance, dem Schicksal von Gustl Mollath zu entgehen? Das ist durchaus kein Witz, denn wie wir wissen, ist im wirtschaftsfaschistischen Gesellschaftsprozeß für nicht perfekt funktionierende Menschmaschinen ein Platz höchstens dort vorgesehen, wo man sie zwangsweise umbauen oder notfalls unter Aufsicht verwahren kann, damit sie nicht zum Infektionsherd werden. Und immer wieder hört und liest man von Menschen, die, einmal auffällig geworden, den Mühlen psychiatrischer Zermanschung nicht mehr entfliehen. Als ich dann noch einer anderen Freundin von den jüngsten Erkenntnissen zur Planung des Oktoberfestattentats durch den BND erzählte und die meinte, ich sei ja ein Paranoiker, war der Ofen aus. „Laß niemanden rein!“ flehte ich die Diagnostikfreundin an, als es an der Tür läutete. „Es könnten die Herren des Morgengrauens sein, mich zu haschen, auf daß ich dir ewiglich entzogen sei!“

Amüsiert blickte sie von ihrer Lektüre auf und sagte: „Ein cholerisch-sanguinisch-melancholisch-phlegmatischer depressiv-neurotisch-hysterischer Borderline-Narzißt mit Paranoia und Dichterwahn? Das ist jetzt aber paradox!“ Dann blätterte sie ein bißchen und zitierte aus der zerlumpten Ausgabe von Kierkegaards „Philosophischen Brocken“: „Das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen.“

Demnach, schloß ich einklingend, sei die eingangs vermutete Cholerie nichts anderes als die Leidenschaft des Empfindens einer Außenwelt, die bisweilen schlichtweg unerträglich ist – durchwimmelt von Dummköpfen, Idioten, tumben Toren, Schreihälsen, Falschdenkern, Selbstüberschätzern, penetranten Schwätzern, Nachbarn, Nazis, Claqueuren, Drangsalierern, Hausierern, Rattenfängern, Holzköpfen und Waschweibern. Was aber, wenn auch hier der Wille zum Untergang wirkt und ich mich eines Tages totschreibe an ihnen oder dem Wahnsinn verfalle?

Ach was, sagte sie. Wahnsinnig sei ich doch längst, daher sei es ratsamsten, all den Symptomen – vom Feierabendbier bis zur sexuellen Impulsivität – hemmungslos zu huldigen. Mit einem milden Lächeln ließ sie das (Schafskälte!) heiße Badewasser ein. Ich bekam davon jedoch zunächst nichts mit, weil ich beim Recherchieren von Borderline-Symptomen im Internet zufällig auf ein „Matchbox-Car-Wiki“ mit Abbildungen sämtlicher Streaker und Rola-matics gestoßen war.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin „In München“, diese Folge am 29. Mai 2013.

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