Belästigungen #406: Holdrio, wer rettet die Welt? (eher der Nichtstuer als der Held)

Ich solle, sagte mir ein aufmerksamer Leser, nicht mit Marginalien meine Zeit verschwenden, sondern mich den Dingen widmen, die wirklich zählen. Gemeint war nicht der zählende Papagei aus einer meiner liebsten Donald-Duck-Geschichten (die ist wahrscheinlich eine Marginalie), sondern das, was von „Bildzeitung“ und taz gerne zu „Helden“ ausgerufene Menschen hauptberufungsmäßig tun: die Welt retten!

Oho. Da stellen sich ein paar Fragen. Wenn 99% der Menschheit hauptberuflich damit beschäftigt sind, die Welt so schnell wie möglich zu zerstören, ist es dann vernünftig, von der Menschheit zu erwarten, daß sie die Welt rettet? Auf mich wirkt das so, wie wenn jemand in eine Hühnerbraterei hineinstürmt, sich ein Hendl einpacken läßt, mit dem Taxi in die Tierklinik fährt und dort einen idealistischen Veterinär sucht, der das Tier heilt. Zweitens: Wenn die Menschheit alles daran setzt, die Welt zu zerstören, wer wäre dann für jemanden, der die Welt retten möchte, der logische Hauptgegner?

Drittens: Wie fängt man damit an? Das zumindest weiß ich aus Erfahrung: Man gründet eine Initiativgruppe, die Parolen, Empörungsfloskeln und Binsenweisheiten austauscht, dabei viel Bier und Wein verzehrt (was dazu führt, daß es am Ende nicht mehr um die Welt, sondern um Beziehungskram, WG-Streitereien usw. geht), sich mehrere Male in kleinere, radikalere oder gemäßigtere Gruppen aufspaltet, die Parolen regelmäßig leicht umformuliert, sie schließlich auf ein Plakat kritzelt (wobei darauf zu achten ist, daß man nicht selber was tut, sondern andere dazu auffordert: „Stoppt das sinnlose Töten!“ oder so) und sich damit vor ein Gebäude stellt.

Klar, so was kann eventuell Spaß machen und dem Aktiven distinktive Argumente für Diskussionen mit unwürdigen Epigonen liefern: „Wir haben damals wenigstens noch was getan!“ Es endet aber meist in übler Streiterei, noch üblerem Geplapper, pseudopolitischen Schwanzvergleichen, psychischer Zerrüttung und der Einsicht, vor lauter Streiten, Plappern, Schwanzvergleichen und Zerrütten übersehen zu haben, daß man die Ursache des ganzen Wahnsinns (die Ausbeutung zum Zwecke des Wachstums zum Zwecke des Vergessens der Tatsache, daß das Leben endet) gar nicht verstanden hat. Dann hört man im nostalgischen Vollrausch alte Progressive-Rock-Schandtaten („Don’t Kill The Whale“) und ärgert sich über die vergeudeten Lebensstunden und -jahre.

Ehrlich gesagt: Dieses Elend möchte ich mir ersparen und die Zeit, die mir bleibt, bis mir die Ausdünstungen der Aluminiumindustrie Hirn und Körper zerfressen, lieber damit verbringen, mit lieben Menschen schöne Dinge zu tun. Zumal inzwischen die Zerstörer selbst dazu übergehen, die Welt zu retten: Die FDP beseitigt Ausbeutung, Armut und Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer von unten nach oben, indem sie sie einfach aus dem „Armutsbericht“ der Regierung herauslügen läßt. Die Bundesministerin für Ernährung und Verbraucherschutz schützt die Verbraucher vor der Vernichtung durch die Fettmüllindustrie, indem sie einen „Bioapfel“ in die Kamera hält und die Fettmüllindustrie an die Schulen schickt, damit diese dort reumütig-zerknirscht den zugefettmüllten Kinderlein „Ernährungsunterricht“ gibt. Der Computerhersteller Foxconn, dem noch vor kurzem die „Mitarbeiter“ reihenweise aus den Fenstern „in den Tod“ (d. h.: auf den Parkplatz der Bosse) gesprungen sind, läßt unter den Fenstern Fangnetze anbringen und in die Arbeitsverträge hineinschreiben, daß Selbstmord untersagt ist. Und die Waffenindustrie produziert ihr Zeug sowieso nur noch für Freiheits-, Widerstands- und andere Kämpfer gegen diverse korrupte, diktatorische und sonstige Regimes bzw. für die von den Kämpfern errichteten neuen Regimes und ihre Bekämpfer usw.

Und über all das (und zwar am besten: das alles!) soll ich mir den Kopf zerbrechen und diskutieren und irgendwas unterschreiben und ein Plakat tragen und mich schreiend vor ein Gebäude oder eine Kamera stellen? Anstatt mit lieben Menschen schöne Dinge zu tun?

Nein, das mag ich nicht. Wenn, dann stellvertretend, indem ich den einzigen Menschen erwähne, dem es je gelungen ist, die Welt zu retten: Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow. Und zwar so: Am 26. September 1983, als die NATO mal wieder besonders emsig bemüht war, die UdSSR abzuschrecken, und die UdSSR ganz besonders Angst vor einem Atomangriff hatte, saß Herr Petrow nachts in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung, als der Computer plötzlich den Anflug einer US-Interkontinentalrakete aus Montana meldete. Kurz darauf: eine zweite, dritte, vierte und fünfte Rakete. Was das hieß, war klar: Petrow als leitender Offizier mußte den „Roten Knopf“ drücken, um den „massiven Gegenschlag“ und die mutmaßlich totale Vernichtung des Planeten einzuleiten.

Und was tat Herr Petrow? Er sagte sich: Das ist sicher ein Computerfehler. Und noch einer, und ein dritter, vierter. Hoppla, noch ein fünfter. Er leitete nichts ein, informierte niemanden, gründete keine Initiativgruppe, bemalte kein Plakat, sondern blieb einfach sitzen und dachte: Wenn ich unrecht habe, ist’s auch egal. Mit anderen Worten: Er tat nichts. Die „Raketen“ erwiesen sich als Wolkenspiegelungen, die sowjetische „Satellitenüberwachung“ als untaugliches Gelumpe. Und Herr Petrow quittierte den Dienst, aus, wie man das so sagt, „familiären Gründen“.

Nicht das schlechteste Vorbild, finde ich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in Buchform vor.

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