Belästigungen #407: Wenn das Fragezeichen bös vibriert, gibt die Antwort die Faust

Wenn der Mensch spinnt, gibt er ein Zeichen, pflegte meine Oma zu sagen. Ich füge hinzu: Wenn es ihm das Hirn komplett verdröselt und er gar keinen Weg hinaus mehr sieht aus dem Wirr, dann gibt er ein Fragezeichen. Weil das Fragen (scheinbar) weniger peinlich ist als sich hinzustellen und zu plärren: „Kann bitte jemand die Zukunft wieder in Gang setzen, damit ich vorankomme und diese peinliche Gegenwart verlassen und vergessen kann?“ Was im Grunde auch eine Frage wäre, aber eine sogenannte rhetorische, auf die man keine Antwort, sondern ein „Handeln“ (A. Merkel) erwartet; egal, es wird sowieso nicht geäußert, eben.

Statt dessen: „Nichts wissen, aber fragen!“, wie man dem nervtötenden Zufallsgast am Tresen zu attestieren pflegt, wenn er nicht mehr aufhört, das gesamte „Bist du öfter hier?“-Repertoire herunterzukurbeln und zwischendurch ein paar Deklarationen aus dem „Nämlich!“-Genre hineinzuwürzen. Auf diese Weise erfährt jedermann in seiner späten Jugendzeit von den drei Ks, die eine Marlboro-Schachtel als Produkt des Ku-Klux-Klans kenntlich machen, und fängt sich ein paar sogenannte „Bekannte“ ein, mit denen man hinterher jahrzehntelang je zwei „Hallo!“-Rufe austauschen muß, wenn man ihnen zufällig begegnet, und sich womöglich noch fragen lassen, wie „es“ gehe, worüber man notfalls einen langen Winter lang nachgrübeln kann, ohne zu einer Antwort zu kommen.

Das kommt vom Fragen. Davon können aber auch noch ganz andere Sachen kommen. Zum Beispiel ist dies ein enorm langer Winter (bei Erscheinen dieses Heftes hoffentlich: gewesen, aber danach frage ich lieber nicht), und wenn der winterschlafentfremdete Mensch in einem solchen Ende März immer noch eingeschneit im Kämmerchen sitzt und inzwischen gar nichts mehr zu tun weiß, weil sämtliche Bücherregale dreimal umgeräumt und sortiert, die Wände tapeziert und die Teelöffel poliert sind, dreht es ihm sozusagen selbstgenerierte Fragen ins Hirn hinein.

Dann wundert er sich zum Beispiel, wieso man die Angehörigen jenes Volkes, das sich zur Zeit so renitent weigert, durch Hungern und Darben deutschen und russischen Oligarchen den Zinseszins ihrer Milliarden zu garantieren, „Zyprioten“ nennt, wohingegen selbst der verschwurbeltste Esoteriker niemals auf die Idee käme, seinen Guru als Angehörigen des indiotischen Volkes (und einen deutschen Oligarchen als solchen, by the way) zu bezeichnen.

Die Erklärung ist zunächst eine ganz einfache etymologische: Das Wort kommt von den Griechen, zu denen der deutsche Fußballkommentator auch gerne mal „Hellenen“ sagt, ohne damit auf Wilhelm Buschs wüste Comicgeschichte von der Frommen Helene anspielen zu wollen. Da hat man die Erklärung sozusagen schon auf der Hand: Weil der Mensch generell zu viel sinnfreien Mist in die Welt hinein brabbelt, braucht er ab und zu ein paar „lustige“ Synonyme, damit sich sein Gebrabbel in den Phasen zwischen der Reklame nicht in den monotonen Sermon eines Staubsaugers verwandelt, weil sonst irgendwann auch der talkshowgestählteste ZDFiot abschaltet und lieber seiner Ikea-Schmetterlingsorchidee lauscht.

Wer über diese simple Erkenntnis hinaus noch weiter fragt und womöglich laut antwortet, der braucht sich nicht wundern, wenn plötzlich der Praktikant von der Zeitung vor der Tür steht und ihn mit Berufsbezeichnungen belegt, von denen er noch nie gehört hat. So kam neulich zum Beispiel ein naseweiser SZ-Bubi auf die lustige Idee, einen indischen Unternehmer, den er zu diesem Zweck zum „Globalisierungs-Theoretiker“ ernannte, mit einem Kübel von Fragen zu übergießen, für die sich Staubsauger und Schmetterlingsorchidee zu schade wären, und schließlich noch zu deklamieren: „Mobilität ist aber doch eine Grundbedingung für individuelle Freiheit!“ (Man beachte das drängende Vibrieren des fordernden Fragezeichens im Hintergrund.)

Da endlich quellen auch in uns Fragen auf: Ist Dioxin eine „Grundbedingung“ für ökologische Landwirtschaft? Kommt man schneller ans „Ziel“, wenn man mit drei Autos gleichzeitig fährt? Ist eine Gehirnamputation unerläßliche Voraussetzung, um ein Praktikum bei einer Zeitung zu ergattern und „Globalisierungs-Theoretikern“ die sinnlosesten denkbaren Kombinationen dreivierteldeutscher Wörter entgegenschleudern zu dürfen? Der entrechtete Hartz-Opferiot, der zwecks restloser Demoralisierung jahrelang von „Standort“ zu „Standort“ mobilisiert wird, könnte eines Tages eine Antwort wissen, die sich mit der Faust trefflicher formulieren läßt als mit dem Mund.

Aber den fragt keiner, jedenfalls nicht das, weil seine Antwort das Gefüge von Umverteilung, Ausbeutung, Anhäufung und Demütigung, auf dem die derzeit in Europa herrschenden gesellschaftlichen Prozesse beruhen, ins Knirschen und Stocken bringen könnte. Den fragt man höchstens Systemstabilisierendes: „Sind Sie bereit, noch mehr Verzicht zu leisten? Wieso nicht?“

Das Fragen, stellte einst der kluge Psychiater Aron Ronald Bodenheimer fest, sei als solches eine Belästigung und grundsätzlich obszön. Oder, um erneut etymologisch zu argumentieren: Das hebräische Wort fürs Fragen („scha’ol“) bezeichnet auch die Hölle, in die man den Befragten unweigerlich versetzt, wenn man damit erst einmal anfängt.

Aber ach (und um diesen Winter dann doch abzuschließen): Noch die obszönste Frage läßt sich rückwirkend im Keim ersticken, indem man sie ganz simpel beantwortet: „Wie geht’s?“ – „So jedenfalls nicht.“

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt auch in Buchform vor.

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