Belästigungen #415: Vom „Single“ zum „Double“ und (endlich! wieder!) zurück

Das Wort „Single“ gab es schon, als ich ein Kind war und ansonsten kaum Anglizismen im Alltagssprech herumschwirrten. Damals bezeichnete es kleine, grellbunt verpackte Vinylscheiben, Zauberwerke der Popkultur, die alle paar Wochen einen neuen Wahnsinnshit meiner Glamrock-Helden Slade, T. Rex, Bowie, Sweet, Roxy und Alice Cooper ins Haus dröhnten und den Aspirinkonsum unter Eltern ankurbelten. Ein paar Jahre später, als die Springerpresse den Deutschen endlich ihr Solidaritätsgedusel ausgetrieben und die Lambsdorf-Kamarilla den Wirtschaftsfaschismus als neue Staats- und Gesellschaftsraison durchgepeitscht hatte, war „Single“ keine Platte mehr, sondern ein Mensch, der sich aus freien Stücken entschlossen haben wollte, ohne lästige Anhängsel wie Ehepartner und Bamsenbagage durch ein Leben der sensationellen Berufserfolge und Freizeitbelustigungen zu flanieren – ein Heros der neoliberalen Ära, frei und selbstbestimmt im globalen Supermarkt der Achtziger.

Als dann die Belustigungsindustrie den „Single“ – der seine zunehmende Verzweiflung darüber, daß er zwar jede Menge „Zukunft“, aber keinerlei Vergangenheit („Nur nach vorne blicken!“) und deshalb auch keine Gegenwart hatte, mit exzessivem Ankauf von Produkten betäubte – mehr oder weniger leergezapft hatte, irrte der arme Wurm durch die Welt wie ein Brummkreisel, in rotierende Raserei versetzt durch alle möglichen esoterischen und karrieristischen Wahnmodelle, Rave-Klamauk und Ibiza-Schaumparties, auf der wirren Suche nach einem Sinn, den es ohne Gegenwart in der Welt halt nicht geben kann.

Und siehe da: Schon dämmerte eine Renaissance der Kleinfamilie heran, angeblich wenigstens; überall begegnete man plötzlich händchenhaltender Ausschließlichkeit, treuherzigen Kitschblicken und zunehmend am ebenfalls unverzichtbaren SUV-Panzer orientierten Kinderlastwagen, in denen eine Familie der vorletzten Jahrhundertwende ihren gesamten Hausrat mobilisieren hätte können. Selbst die explodierende Zahl von Schnellscheidungen konnte die vielbeschworene „biologische Uhr“ nicht hindern, so laut zu ticken, daß die Gesamtgesellschaft des angeblich so freien WWW-Zeitalters nach ihrem Takt marschierte.

„Single“ war nun fast ein Schimpfwort, mindestens mit mitleidigem Trauerflor und der unverzichtbaren Präzisierung „noch“ behängt – „Du bist noch Single?“ Händeringend beklagten Klatschsüchtige das tränenwerte Schicksal frisch getrennter Hollywoodstars und einsam in ihren Trutzburgen gammelnder Millionenadeliger: Ach, die armen „Liebes-Pechvögel“!

Neulich hat mir A von ihrer Jahre währenden Suche nach „dem Richtigen“ erzählt, woraufhin ich eine geistig-emotionale Deformation durch übermäßigen Genuß jener Fernsehserien diagnostizierte, die vorgeblich „frech“ vom vermeintlichen Liebesleben amerikanischer Großstadtwesen erzählen und in Wirklichkeit genau die Utopie vermitteln, der A offensichtlich verfallen war: Es müsse doch irgendwo da draußen „den Einen“ geben, der schicksalsgenetisch exakt zu ihr passe und sie zu dem ergänze, was sie allein nicht sein könne. Wenn, wandte ich ein, dieser Kerl wirklich irgendwo herumschwirre, sei jedenfalls angesichts der Größe und Verwinkeltheit des Planeten die Wahrscheinlichkeit, ihm zufällig zu begegnen ungefähr so groß wie drei Sechser im Lotto hintereinander – weshalb ja auch die elektronische Verkuppelungsindustrie das Ideal längst zum Muster kastriert hat: zwei, drei gemeinsame Interessen, ungefähre Wohnortnähe, der Rest (Urlaub, gemeinsame Mahlzeiten, Fernsehprogramm, Sport- und Geschlechtsaktivitäten) läßt sich notfalls vertraglich regeln, und fertig ist das Zweierglück mit dem konditionierten X-Beliebigen, das man bei Nichtgefallen jederzeit mit einer kurzen Facebook-Notiz annullieren kann.

A sah mich mitleidig an und fragte noch mitleidiger, ob ich es nicht leid sei, einsam und ohne Sinn durch die Welt zu irren, und da platzte mir der Kragen: Einsam nämlich sind nicht etwa „Singles“, die solche in den meisten Fällen gar nicht sind, sondern in einer Vielzahl von Beziehungen Liebe, Freundschaft, Sex, Aufregung, Romantik, Zärtlichkeit, Spannung, Geborgenheit, Treue, intellektuellen Reiz, Vertrauen und all die anderen  Dinge erleben, die der Zweiermensch (nennen wir ihn meinetwegen „Double“) aus einer einzigen Bezugsperson heraussaugen möchte plus eventuell einem zusammendestillierten Kreis öder gemeinsamer Bekanntschaften, die man monatlich zum Essen trifft, um bemüht darüber zu plaudern, wie toll früher alles war und was man beruflich so vorhat, und hinterher ein stinkfades Brettspiel zu absolvieren. Nach gut vier Jahren als „Single“, erklärte ich A, wisse ich ziemlich genau, welche Fallen man vermeiden müsse (vor dem Duschen prüfen, ob ein Handtuch da ist, nie ohne Schlüssel den Abfalleimer ausleeren usw.), und jeder einzelne Versuch (ich bin ja auch nur ein Mensch), doch mal eine exklusive Verbindung herbeizuführen, führe nach seinem Scheitern zu Erleichterung und „endlich wieder“-Jubelrufen.

Hingegen die Vorteile: Weg fällt das ganze Gestrüpp aus Lügen, Heuchelei, Konzessionen und Vertuschungen, die brennende Sehnsucht nach romantischen Verirrungen, sexuellen Abenteuern und zum Beispiel auch danach, um drei Uhr früh ohne schlechtes Gewissen alte Glamrocksingles dröhnen zu lassen und nackt durch die Wohnung zu tanzen. Weg fällt auch die unausweichliche Einsicht am Ende, einen unwiederbringlichen Teil seines Lebens einem unwürdigen Arschloch geopfert zu haben.

Und sowieso, sagte ich zu A, sei es vernünftiger, sich erotischen Vergnügungen hinzugeben, als den Abend damit zu vertun, derart unerfreuliche Dinge zu disputieren. Das, meinte sie, könne sie aber nicht ohne Aussicht auf „mehr“, womit sie sich als eine bislang noch nicht erwähnte Erscheinungsform des „Single“ outete: der Verzichter, der sein Leben verzinst sehen möchte. Meine Frage, ob sie denn von ihrem nächsten „Richtigen“ eine Belohnung für diese Selbstkasteiung erwarte und welche und wieso, konnte sie nicht beantworten, weil sie schon dabei war, sich anders zu entscheiden. Schade, es hätte mich vielleicht doch interessiert. Vielleicht.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN, diese Folge am 23. Juli 2013.

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