Der moderne Nomadenmensch wird nicht nur von den sogenannten „Arbeitgebern“ und ihren staatlichen Knechtungsknechten in der Gegend herum mobilisiert, sondern kriegt, wenn er mal einige Zeit in einem Nest sitzt und nichts besonderes zu tun hat, sofort den Rappel und will woanders hin. Weil alte Witze witziger wirken, wenn sie aus neuen Hälsen dringen, und weil heutzutage jeder unablässig auf der Suche nach einem „Selbst“ ist, das darin besteht, von anderen bespaßt zu werden, bis ihnen nichts mehr einfällt und man sie ersetzen muß.
Meistens bleibt dabei irgendwas zurück – ein Haufen Gerümpel, alte Socken und kurzzeitig verschnupfte Ex-Existenzabschnittsbespaßer, die, damit sie sich ebenfalls „neu orientieren“ können (Geschlechtsorgan ist Geschlechtsorgan, sagt der Biologe; neu ist Chance, sagt der Betriebswirt), den Krempel loswerden müssen, damit er endet, wo alles endet: im „Großen Pazifischen Müllstrudel“ oder einem seiner kleineren Gefährten.
Die strudeln gern in Gegenden herum, wo sich ansonsten das ansiedelt, was noch viel mobiler ist als der fluchtsuchtgetriebene Zum-Neuen-Streber und sein Hartz-gemangelter Artgenosse: das Kapital, das an beiden Entartungen irgendwie schuld ist, sich aber nach seinen Tobsuchtsanfällen nie ums Aufräumen kümmern mag. Das schmollt lieber auf den Cayman Islands herum, weil die blöden Regierungen es nicht besteuern wollen und es sich deswegen, nachdem es den Hartz-Opfern die Haare vom Kopf gefressen hat, inzwischen in die Unterschicht der Mittelschicht hineinfrißt und aus Überdruß den verdauten Anteil am Volksvermögen denen auf die Konten kotet, die schon so viel von dem Zeug haben, daß sie aufstöhnen, wenn sie noch mehr Geld sehen, das angeblich ihnen gehört.
Ich ahne, daß sich manch zukunftstechnisch abgelenkter Leser auch den Verfasser solcher Sätze auf eine Kaimaninsel wünscht, womöglich eine mit bezahnter Maulklappe, aber gemach. Man kann Dinge in langen Sätzen erzählen oder in vielen, und wo es ums Viele geht, ist das Lange allemal das bessere Medium.
So oder so sitzt das Kapital jedenfalls dort, wo es nicht hingehört, und zwar in derart obszön fetten Mengen, daß sich neuerdings sogar der nicht „liberale“ Anteil unserer Regierungen (möglicherweise) schämt, weil sie schließlich schuld sind an dem Schlamassel: Ein Ableger des IWF schätzt, daß in „Steueroasen“ Geldsummen von ungefähr fünfundzwanzigtausend Milliarden Euro herumgammeln. Weil es ein IWF-Ableger ist, kann man da locker noch eine Null dranhängen, was aber wurst ist, weil es eh schon zwölf sind und man in den Werbeagenturen längst überlegt, wie man das billige „Giga“ (und das zerlumpte „Mega“) aus Jugendsprache und Reklame heraus und ein zünftiges „Tera“ oder gleich „Peta“ hinein popularisieren könnte. Nein, letzteres eher nicht, da wären der Urpapst und seine Namensgenossen diskriminiert.
Während wir uns wundern, wieso diese Steuerinselchen (wenn es sie wirklich gibt, also „physisch“, nicht nur als Bankleitzahl) nicht längst im Ozean versunken sind und die Schweiz sogar teilweise auf einem Gebirge herumzinst, ohne daß das viele Gold sie zum Erdmittelpunkt wumpsen läßt, drehen sich die Müllstrudel munter weiter, ebenso wie das Fortschrittsrad, die zweite epochale Absurdität der Erdgeschichte. Für diesen Schmarrn nämlich ist Geld da, obwohl es ansonsten überall fehlt: Der Schwabe rammt sich einen Tiefbahnhof unter die Hauptstadt, wegen dem hinterher weniger Züge fahren als vorher (aber die wichtigen) und das Wasser der ganzen Region ungenießbar sein wird; der Berliner planiert halb Brandenburg mit einem Flughafen zu, und in Italien, wo die gewaltsame Ausschröpfung der Nichtmillionäre längst in echtes Elend übergegangen ist, hat man auch noch genug Geld für eine Florentiner Variante des „Stuttgart 21“-Wahns.
Freilich, viel Geld ist es nicht, das für die Totalpervertierung des Mobilitätswahns ausgegeben wird – zehn Millionen Hartz-Opfer könnten davon höchstens tausend Jahre in Saus und Braus leben, und auf den Cayman Islands würde man für die lächerlichen Milliärdchen höchstens behüstelt. Drum beschwert sich auch niemand groß, höchstens wenn’s mal ganz daneben geht, wie in Stuttgart – oder in Kassel, wo man für 271 Millionen ebenfalls einen Flughafen hinbetoniert hat, dessen Anzeigetafeln die ganze Woche über leer sind, weil niemand dort starten oder landen möchte. Weil es da zwar eine Börse gibt, selbige laut Telephonbuch aber eine „Bierkneipe“ ist, womit der champagnerverwöhnte Krisengewinner nichts anfangen kann.
Dabei wäre es im Grunde schöner, wenn der Mensch (und das Kapital) da bliebe, wo er ist. Und sich dort hin und wieder für was anderes interessierte als die große Welt und ihre Zukunft: Im japanischen Hokkaido „entsorgte“ neulich eine Frau ihren Bruder im Hausmüll. Nicht erschrecken: Der Mann war schon viele Jahre tot, wovon die Frau, die mit ihrer Schwester in derselben Wohnung wohnte, nichts bemerkte, weil „er nie aus seinem Zimmer gekommen“ sei (was Leichen selten tun, aber egal). So fand sie ihn erst, als sie – na klar: ausziehen wollte, um anderswo ihr „Glück“ zu finden.
Weshalb wir uns vornehmen sollten, inmitten des ganzen Gerödels ab und zu – vielleicht einmal die Woche – an eine Tür zu klopfen, und sei es nur die des Existenzabschnittsbegleiters. Und sei es nur um zu erfahren, ob das, was irgendwann mal so viel wichtiger schien als der übrige Schmarrn, zumindest noch lebt.
(Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.)