Belästigungen #410: Was sind schon dreißig Jahre?

Tolle Frage: Da steht der 14jährige, sprachlos, weil er gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Aber das Problem ist bekannt: Wer als Bams zum ersten Mal in einen Kaugummi beißt, hat für den plötzlich aufquellenden Süßrausch aus Aromasensationen zum Vergleich nur Milch, Brei, vielleicht noch Breze und schlimmstenfalls Gelbwurst. Da ringelt er sich vor Entzücken und manscht in dem zähen Kautschukknödel herum, nicht achtend der Welt, die sich recht übersichtlich gestaltet: hier Mama, da Papa, dort ein undurchsichtiges Wallen, aus dem bisweilen ein Phänomen hervorspitzt, das man sich in den Mund schieben und feststellen kann, daß es meistens nicht schmeckt (Regenwurm, Batterie, Badeente, Gelbwurst).

Wer sich den tausendsten Kaugummi in den Mund schiebt, tut das aus anderen Gründen. Weil er sich gerade einen Döner hineingepreßt hat und in zehn Minuten im großen Meeting mit seiner World-Advance-Strategy überzeugen oder andernfalls Hartz IV beantragen muß. Weil die angeheiratete Immobilienbesitzerstochter die der zeitweise aufgehobenen Sinnlosigkeit des Rödelns entsprungene Mittagsbierfahne nicht bemerken soll. Oder weil er seit Jahren vergeblich nach etwas sucht, was ihn die überwältigende Daseinsfreude empfinden läßt, an die er sich aus der Kindheit zu erinnern glaubt, die aber in dem Strudel aus Lügen, Zwecken, Zielen, Umwegen und Aufschiebereien verstrudelt ist und sich mit triggermäßig eingesetzten Gegenständen (von der Schneekugel bis zur Matchbox-Sammlung) nicht mehr herstellen läßt.

Freilich ist inzwischen auch die Welt keine homogene Dreigestalt von Mama, Papa und diffuser Idylle mehr, sondern ein Aberwitz aus Ansprüchen, Krisen, Skandalen, Events und anderem Gepluster inszenierter Erscheinungsformen, der sich nur ausblenden läßt, wenn man zufällig über etwas verfügt, das sich weder mit Geld kaufen noch im Workshop oder der Kaffeemaschine herstellen läßt: Beständigkeit.

Das ist wie beim Verlieben: Sobald das Arsenal an Aufrißstrategien, Blendtheater und sexueller Spannung vor dem ersten Pimpern aufgebraucht, der große rosa Kaugummi einmal durchgekaut ist und man den Menschen da besser kennenlernt, sich ihm gar öffnen sollte, um ihn lieben zu lernen (oder wahlweise ein paar Bamsen in die Welt zu setzen und sich fürderhin nicht mehr zu sorgen, vor welchem Fernseher man den „Tatort“ verdämmert), kommt schon der Impuls, den lätscherten Baz lieber auszuspucken und sich eine neue Kugel reinzuschieben, um den kindischen Kick wiederzuerleben. Was ein paarmal geht, auf lange Sicht aber nur zu einem führt: Beliebigkeit (oder wahlweise der Gewißheit, die nächsten hundert „Tatorte“ vor dem eigenen Fernseher zu verdämmern).

Gerne meint der moderne Mensch, Beständigkeit sei langweilig und ein Gefängnis, Beliebigkeit hingegen spannend und die pure Freiheit. Das Gegenteil ist der Fall. Wer einen Garten ein paar Jahre nicht gesehen hat, wird ihn und seine Belegschaft nicht wiedererkennen. Wer einen alternden Playboy jahrelang nicht gesehen hat, wird entsetzt sein über die Verzweiflung, mit der er immer noch die gleiche Show abzieht, um den sein Wasserbett mit periodischer Dienstleistungsgymnastik zu rechtfertigen, die ihm keine Freude macht, weil Ficken ohne Liebe bloß Kapitalismus ist – die Generation Porno lernt das in der Unterstufe und verlegt sich daher aufs Saufen, was das Elend immerhin für einige Zeit ausradiert.

So scheitert der moderne Mensch an der eigenen Wirrsinnigkeit und Feigheit, und merken tut er’s erst, wenn es zu spät ist – es sei denn, jemand anderer ist beharrlich genug, an etwas einfach festzuhalten, es wachsen zu lassen, hie und da auszulichten, weiterzuentwickeln, zu hegen und pflegen und in stiller Freude treu dazu zu stehen, damit der moderne Mensch, wenn ihm zwischendurch alles zu viel wird und er das haltlose Herummobilisieren zwischen Wohnkisten, Nulljobs, Events und Fickangeboten nicht mehr erträgt, sich an etwas, was immer noch da ist (und immer gleich, wenn auch ganz anders), festhalten oder kurz darüber freuen kann, daß es immer noch da ist.

Jetzt wollen wir nicht pathetisch werden. Das moderne Leben kann ganz schön sein, wahlloser Sex Spaß machen, Events manchmal lustig sein, Nulljobs lassen sich vermeiden, und Wohnkisten sind im Sommer eh nur zum Schlafen da.

Aber schön ist diese Vorstellung schon: Als wir vor 30 Jahren, das trübe Ende des „Blatts“ betrauernd und die „Stadtzeitung“ als Popperblättchen belächelnd, in einem Kopierladen hinter der Uni das erste „In München“ in der Hand hielten, war die Welt eine komplett andere. Merkel, Handy, Wiedervereinigung, CD, Laptop, iPad, Privatfernsehen, Independentpop … eine beliebige Aufzählung von allem, was uns heute den Tag füllt, besteht nur aus Dingen, die es nicht gab. Es gab ja ein paar Monate zuvor noch nicht mal eine Grüne Partei. Statt dessen füllte man den Tag mit Dingen, die es nicht mehr gibt (oder die – siehe Grüne – nur noch so ähnlich heißen).

Trotzdem ist die Welt irgendwie gleich geblieben, und das liegt nicht nur an der „Krise“, die die gerade an die Macht gelangte neoliberale Sekte damals in die Wege leitete und seither machtvoll ihrem Finale entgegentreibt. Sondern auch an dem Heft, das Sie in den Händen halten. Das in fast nichts dem Heft gleicht, das wir damals in den Händen hielt, und doch das gleiche ist. Schönen Geburtstag, alte Wursthaut – was sind schon 30 Jahre!

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN; diese Folge stammt aus Heft 10/2013 vom 16. Mai.

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