Ehrlich: Wir wollten nur spielen! Wir: Oli, Thomas und ich, drei achtzehnjährige Giesinger Punks, die keine Punks mehr sein wollten, weil Punk im Frühling 1982 das Langweiligste und Altmodischste war, was sich ein Achtzehnjähriger vorstellen konnte. Wir also: eine Punkband, die zwei Platten und ein paar Kassetten gemacht und ein paar Dutzend Stück davon verkauft oder verschenkt hatte und mangels einer besseren Idee immer noch Tollwut hieß, aber keine Punkband mehr sein wollte, weil … das wissen wir schon.
Wir wollten aber spielen, möglichst immer und überall, und spielen konnte man als achtzehnjähriges Punktrio damals so gut wie nirgends, schon gar nicht allein, weil unser Programm zwar aus etwa vierzig Songs bestand, aber nur zwanzig Minuten dauerte – in Clubs und Freizeitheimen galt immer noch die aus den siebziger Jahren überlieferte Regel, daß ein Konzert zwei Stunden und ein anständiges Stück (das Wort „Song“ war verpönt) eine Viertelstunde zu dauern hatte. Außerdem besaßen wir zwei Gitarren, ein halbes Schlagzeug und einen Verstärker, was für ein richtiges Konzert entschieden zu wenig war.
Also: Festivals. Ein solches sollte am 1. Mai 1982 im Gasthof zur Post in Ampermoching stattfinden; angekündigt waren die Bands Boykott, CS, Condom, Lustfinger, Sperrfeuer, Sex Pilze, Nikoteens und wir, Tollwut. Organisator war der Freund einer Freundin, ein guter Mensch, der seit ein paar Wochen oder Tagen Konzertveranstalter und Labelbetreiber war und später aber doch lieber Schinkenlieferant wurde. Es gab ein Plakat, das in unserer Stammkneipe auf dem Klo hing, aber nur so groß war wie ein halber Notizzettel, also rechneten wir nicht damit, daß unser Fanclub vollzählig erscheinen würde, zumal die etwa fünfzehn Mitglieder allesamt minderjährige Schülerinnen waren, für die sich der Name „Gasthof zur Post“ wenig vielversprechend anhörte.
Wir hatten schon ein paar solche Auftritte hinter uns, im Waldschießhaus in Erlangen, in einem alten Disco-Stadel in Weißenohe, in einem besetzten Haus in Stuttgart … eigentlich hatten die meisten unserer Auftritte in besetzten Häusern stattgefunden, und wenn nicht, dann war meistens etwas kaputtgegangen oder der Wirt hatte die Nerven verloren und seinen Laden zugesperrt, weshalb der Auftritt dann doch wieder in ein besetztes Haus verlegt werden mußte. „Gasthof zur Post“ klang nicht nach besetztem Haus, und „Ampermoching“ klang nicht nach einer Gegend, in der es überhaupt besetzte Häuser gab. Und wir hatten da schon mal gespielt, im Februar, mit Armes Deutschland und den FKK-Strandwixern. Damals hatten wir groß verkündet, daß wir keine Punkrocker mehr sein wollten, aber das hatte wohl niemand so richtig gehört oder verstanden.
Man hatte uns eingeschärft, früh genug da zu sein, aus „organisatorischen Gründen“, was für eine Punk-Veranstaltung durchaus merkwürdig klang. Also trafen wir um halb fünf Uhr nachmittags ein und schleppten unseren Verstärker und unsere Gitarren in den Saal im ersten Stock, in dem ein paar Musiker herumstanden und über die Anlage diskutierten, die noch nicht da war. Das interessierte uns weniger, also standen wir ebenfalls herum und diskutierten über Fußball und Mädchen.
Der dicke Waggi, ehemals „Damage“-Türsteher, Kakerlaken-Bassist und ebenfalls ein sehr guter Mensch, fand, wir sähen durstig aus und könnten auch ruhig noch ein bißchen wachsen. Also versorgte er uns mit Bier, und wir verzogen uns mit einem kleinen Kofferradio in eine Ecke. Um 17 Uhr wurde das DFB-Pokalfinale FC Bayern gegen 1. FC Nürnberg angepfiffen, deshalb nahmen wir als eingeborene Giesinger für einen Nachmittag die fränkische Staatsbürgerschaft an und freuten uns so sehr über die 2:0-Halbzeitführung der Nürnberger, daß uns gar nicht auffiel, daß der Saal weiterhin leer blieb. Allerdings vernahmen wir von drunten, aus der Gaststube, vielversprechende Geräusche, die an ein verfrühtes Oktoberfest erinnerten, also sorgten wir uns nicht weiter.
Um viertel nach sechs führte der FC Bayern 3:2, und nun begann ein merkwürdiges Schauspiel: Zunächst drängte die zuvor drunten versammelte Menge von Menschen in Lederjacken und Springerstiefeln nach oben und vergnügte sich dort einige Minuten lang damit, sanitäre Einrichtungen und andere stabile Gegenstände in Schrott zu verwandeln. Dann wollten plötzlich alle wieder hinunter, was die inzwischen musikalisch tätigen Buben von Boykott ein wenig verwunderte. Kurz darauf waren jedoch alle wieder da, um sich nach dem Auftritt von CS die Umbaupause anzuschauen, dabei rege zu debattieren, erneut nach drunten zu stürmen und rechtzeitig wieder einzutreffen, als Condom zu spielen begannen, unter lebhafter Beteiligung von etwa zwanzig Leuten, die allerdings kein Auge für die wunderschönen kunstpelzbesetzten Instrumente der Band und auch kein Ohr für ihre Musik hatten, sondern den verbliebenen Platz auf der Bühne nutzten, um einen oder zwei oder auch mehr im Getümmel nicht sichtbare Opfer oder auch sich selbst und insgesamt gegenseitig zu verprügeln. Wir staunten.
Der folgende Auftritt von Lustfinger brachte etwas Ordnung in den Saal; „Bullen verpißt euch, keiner vermißt euch!“ wünschte man sich kollektiv, erinnerte sich dann jedoch, daß ja unten in der Gaststube noch etwas zu erledigen war, wovon wir immer noch keine Ahnung hatten, was es war. Ich wurde nun doch neugierig, stieg vorsichtig ein paar Stufen der wackeligen Holztreppe hinab und wurde Zeuge eines akrobatischen Schauspiels, bei dem Menschen in offensichtlich fein abgestimmter Choreographie zwischen der Gaststube links und dem Billardraum rechts hin und her flogen.
Was das sollte, bekam ich indes nicht heraus, weil droben im Saal ein neues Problem aufgetaucht war: Die nach Lustfinger auftretende Musikgruppe Sperrfeuer wollte von Punk-Ethos und anarchistischer Solidarität nichts wissen und weigerte sich beharrlich, irgend jemanden auf ihrer Anlage spielen zu lassen, und da Lustfinger – möglicherweise in Vorahnung der kommenden Ereignisse – bereits abgereist oder im Begriff waren, das zu tun, mußten wir irgendwie Verstärker und Schlagzeug organisieren, derweil Sperrfeuer die Aggression im Saal dadurch zu dämpfen versuchten, daß sie das Publikum beschimpften, und doch den Kirmeslärm aus dem Parterre kaum zu übertönen vermochten.
Dann stieg jemand auf die Bühne, entzog dem Sänger das Mikrophon und verkündete: „Hei, die ham den (Dingsbums, unverständlich) zammgschlagn – lassen mir uns des gfoin?“ – „Neeeein!“ brüllte der Saal wie aus einer Kehle, wieder rumpelten alle geschlossen nach drunten, und da Sperrfeuer ihre Darbietung umgehend beendeten, die Sex Pilze irgendwohin verschwunden waren und die Nikoteens aufgrund ihrer Wichtigkeit innerhalb der süddeutschen Punkszene darauf bestanden, als „Headliner“ aufzutreten, standen plötzlich wir auf der Bühne – inzwischen angemessen betrunken, verwirrt und vor allem ohne Publikum.
Daran war man allerdings inzwischen gewöhnt, und die Leute kamen auch gleich wieder zurück, diesmal allerdings noch schneller als zuvor, und bei genauem Hinsehen fiel uns auf, daß es etwas mehr geworden waren, von denen einige auch nicht die vorschriftsmäßige Frisur über und die vorschriftsmäßigen Aufschriften auf der Lederjacke trugen. Das Akrobatikspiel mit den fliegenden Menschen begann nun in verstärkter Heftigkeit im Saal; zur Steigerung des Amusements wurden einige Tränengaspistolen abgefeuert. Das war einer der Momente, in denen wir uns wünschten, wir wären schon länger keine Punks mehr und hätten andere Lieder im Programm als solche mit Titeln wie „Amok“, „Keine Chance“ und „Gewalt“. Und „Bullen“, aber dazu kamen wir eh nicht mehr, weil selbige nun ihren Wunsch, an dem Spektakel teilzunehmen, mit energisch heulenden Martinshörnern kundtaten.
Wir überließen die Bühne denen, die sie haben wollten (die Nikoteens waren das meines Wissens nicht), packten unsere Sachen und wühlten uns durchs tobende Menschengewühl, wobei wir zu allem Überfluß feststellen mußten, daß unser Fanclub teilweise doch erschienen war. „Michi, wann spielt ihr denn?“ fragte Petra, während Nataschas bezaubernd cooler Blick etwas unsicher verfolgte, wie ein paar leblose Kämpfer an Händen und Füßen davongeschleift wurden und der Ausschanktresen unter dem Aufprall mehrerer noch sehr lebendiger Leiber widerstandslos zusammenbrach. Wir klemmten uns die beiden Mädchen zu den Gitarren unter den Arm und entflohen über die Gott sei Dank kurz zuvor installierte Feuertreppe.
Draußen saßen wir noch eine Zeitlang im Auto auf dem Parkplatz und schauten zu, wie Menschen durch Fenster flogen, sich kurz schüttelten, ein zufällig herumliegendes Tischbein packten und wieder hineinstürmten, wie Sanitäter unter Aufbietung aller Kräfte blutende Verletzte daran hinderten, sich der Verarztung zu entziehen, um weiter teilzunehmen an dem Spektakel, das, so erfuhren wir später, dadurch ausgelöst worden war, daß ein Konzertbesucher versehentlich ein Motorrad angepinkelt hatte. Wie lange das alles noch so weiterging, weiß ich nicht. Es war jedenfalls zu Ende, als wir ein paar Wochen später wieder in Ampermoching spielten,
(Hier bricht die circa 1995 entstandene Gedächtnismitschrift leider ab; weitere Fragmente betreffen andere Ereignisse und werden demnächst oder irgendwann folgen.)