(Anmerkung vorab: Der Anlaß dieses Interviews mit mir war das Erscheinen der Compilation „Amok“ meiner uralten (aber doch nicht ganz ersten) Band Tollwut. Wer das Interview geführt hat, weiß ich leider nicht mehr.)
Gute 20 Jahre danach erscheint demnächst endlich das erste richtige Tollwut-Album. Wann gibt es die nächste Wiedervereinigung?
Die letzte Wiedervereinigung war 1990. Bei der nächsten wäre Österreich dran, und das ist seit 1945 verboten. (Gelächter) Nein, eine Tollwut-Wiedervereinigung wird es nie mehr geben. Zumindest wird sich keiner von uns noch mal auf eine Bühne stellen und „Amok“ spielen.
Warum nicht?
Weil Tollwut nicht nur als Band, sondern auch als Idee, als meinetwegen Lebensabschnitt, als Lebensgefühl, als Einstellung usw. einer Zeit angehört, die mindestens achtzehn Jahre her ist. Man kann sich seine Erinnerungen verfälschen und vermiesen, wenn man ständig versucht, sie wiederzubeleben. Tollwut war eine verdammt schöne Zeit, sogar die Reunion vor zwei Jahren hat zumindest mir großen Spaß gemacht, abgesehen davon, wie absurd es war, von Leuten um Autogramme gebeten zu werden, die in einem Alter waren, in dem wir schon Fünfundzwanzigjährige als Opas empfanden, mit deren Musik, Kultur und Welt wir auf keinen Fall etwas zu tun haben wollten. Aber wir sind alle nicht nur älter geworden, sondern haben uns auch in andere, zum Teil sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt. Was Thomas heute mit seiner Band Headtuned macht, ist besser als Tollwut, was ich mit Dead City Radio mache, ist hoffentlich besser als Tollwut, und was Oli heute macht, ist sowieso besser als Tollwut. Zumindest sind wir alle einigermaßen zufrieden, denke ich.
Was hat das Album dann überhaupt für einen Sinn, und wie kam es dazu?
In letzter Zeit haben mich einige Leute angesprochen – na ja, so viele waren es ehrlich gesagt auch wieder nicht – und wollten wissen, ob es eigentlich nicht irgendwann mal die Tollwut-Platten auf CD geben wird, weil die Originalplatten heute zu Preisen gehandelt werden, die völlig absurd und unverschämt sind. Und ob es nicht noch andere Aufnahmen gibt, Kassetten und so was. Ich hab mich dann irgendwann hingesetzt und das ganze Zeug durchgehört, wobei einige Bänder schon beim Anhören ganz einfach zerfallen sind. Es war schrecklich, das Zeug wiederzuhören, mir ist sofort die Lust vergangen. Andererseits hab ich dann gehört, daß andere Leute auch planen, Tollwut-CDs zu machen, so eine Platte ist ja schnell überspielt. Und da war es mir dann doch lieber, die Auswahl, den Kommentar und so weiter selbst in der Hand zu haben, damit das Bild wenigstens für mich Gültigkeit hat. Es war ein Haufen Arbeit, nicht besonders angenehm manchmal, aber jetzt ist sie fertig, und damit ist Tollwut für immer und alle Zeiten erledigt.
Euer Bassist Thomas war von der Idee weniger begeistert und wollte nichts damit zu tun haben. Kannst du ihn verstehen?
Natürlich. Thomas ist mit seiner Vergangenheit immer schon anders umgegangen als ich, das kann ich nachvollziehen und finde es okay. Es war ja wie gesagt auch für mich kein reines Vergnügen, das Album zu machen. Aber ich denke, wenn man schon ein Tollwut-Album machen muß, dann kann man es eigentlich nur so machen, und vielleicht ist Thomas ja in ein paar Jahren auch ganz zufrieden damit.
Auf dem Album sind 50 Songs. Ist das nicht ein bißchen viel?
Ach was. Dachte ich auch zuerst, aber unsere Songs hielten sich sowieso meistens streng an die Eine-Minute-Grenze. Einer davon ist außerdem gar kein Song, und die ersten zwei findet man nicht so leicht.
Warum das?
Das eine ist ein Jux, das dauert zwölf Sekunden, nur wegen der langen Ansage kommt es doch wieder auf eine Minute. Eine Live-Aufnahme, aus der Zeit vor Tollwut, als wir noch Dirty Rats hießen. Das andere ist »Amok«, das noch in zwei anderen Versionen drauf ist, vom Münchensampler und von der Reunion. Die erste Version ist aber wirklich die allererste, das allererste Mal, daß wir den Song überhaupt gespielt haben, sozusagen die Geburtsminute von Tollwut. Das ist nur historisch interessant.
Keiner kennt Tollwut so gut wie Tollwut selbst. Wie würdest du die Band damals in kurzen Worten beschreiben?
Oh! Kurze Worte … ich hab viel von komplizierten Bands gelesen, The Clash zum Beispiel. Oder die Manic Street Preachers, bei denen hab ich eine ganze Tournee lang erlebt, was es heißt, Probleme zu haben. Wir haben uns unsere Probleme immer selbst gemacht, weil wir so … hm, blöd waren. Immer wenn uns irgend jemand klarzumachen versuchte, wir müßten nun dies oder das tun, taten wir garantiert und automatisch schon aus Trotz das Gegenteil. Und als Menschen waren wir so unterschiedlich, als würdest du einen Eskimo, einen Senegalesen, einen Texaner und einen Albaner in ein Zimmer setzen. Im Nachhinein betrachtet ist es ein Wunder, daß wir uns nicht irgendwann umgebracht haben, aber vielleicht hat die Band gerade deshalb so gut funktioniert, wahrscheinlich haben wir uns irgendwie ergänzt. Thomas war die Diva und hatte immer in allem eine ganz eigene Meinung, die niemand verstanden hat. Aus Prinzip. Er kam mit Platten daher, die keiner kannte, schrieb Texte, die niemand kapierte, und benahm sich, als ginge es darum, den Rest der Welt so schnell wie möglich so wütend wie möglich zu machen. Dabei hatte er ein unglaubliches Gefühl für Stil, war immer phantastisch angezogen und spürte musikalische Trends schon Monate vor allen anderen. Er war bezaubernd arrogant, aber privat noch romantischer als ich. Oli könnte man vielleicht einen Berserker nennen. Er war immens vernünftig, hatte einen Sinn für Ordnung und Gegebenheiten, aber wenn die Möglichkeit bestand, irgendwas kaputtzumachen, wollte er spontan alles andere auch noch kaputtmachen und bekam dabei solche Lachkrämpfe, daß ihm die Tränen übers Gesicht liefen und alle anderen mitlachten und auch alles kaputtmachen wollten. Er war eine wandelnde Gefahr; wenn er etwas anfaßte oder auch nur intensiv betrachtete, war es so gut wie im Arsch, oder er rannte kurz darauf blutüberströmt ins Bad. Seine Ideen waren legendär. Zum Beispiel saßen wir mal mit Freunden in einer Wiese rum, und einer hatte die Idee, einen Gig in Neubiberg auszumachen. Also beschloß Oli, alle vierzehn Personen müßten in seinen Golf passen, und so fuhren wir dann da hin, Beine, Arme und Köpfe durcheinander und aus allen Fenstern ragend und er blind am Steuer, weil er so kicherte, daß er vor Tränen nichts mehr sah. Hi hi, und als er mal an Silvester nicht mit seinen Eltern wegfahren wollte, sondern auf unser Fest, aß er erst eine Kerze, und als das nichts half, schluckte er Rizinusöl und mußte dann allein daheimbleiben, weil ihm so schlecht war. Lupo war irgendwie eine dunkle Figur, keiner hat je rausbekommen, was ihn interessiert, außer Bier und König Ludwig. Und ich? Ich wollte einerseits immer freundlich zu allen sein, andererseits wollte ich das Gegenteil. Einerseits wollte ich zu irgendwas dazugehören, andererseits das Gegenteil. Ich wollte wohl überhaupt immer das Gegenteil. Auf der Bühne kann ich mich fast nie an irgendwas erinnern. Ich ging da rauf, sah die anderen rumspringen und brüllen und hab sofort alles vergessen, auch mich selbst. Am Schluß war dann alles in Scherben und Trümmern und die Leute begeistert oder sie haßten uns total. Ich haßte sie für beides.
Wann und wie haben Tollwut angefangen?
Oli und ich kannten uns schon aus der Grundschule, in der fünften Klasse kam dann Thomas dazu, später Lupo. Wir hatten mit einem Haufen Freunde so eine Art Jugendgruppe, die immer Fußball spielte. Im Herbst 1977 ist es uns zu kalt zum Fußballspielen geworden, deswegen sind wir in einen Keller gegangen, und weil Thomas einen Kassettenrecorder dabeihatte, haben wir angefangen, Aufnahmen zu machen. Damals hatten wir keinen Namen und auch keine Instrumente. Wir improvisierten Radio-Persiflagen und absurde Hörspiele, Geräuschorgien und brüllten alle durcheinander. Irgendwann waren wir dann nur noch zu viert, bezeichneten uns als Band, und irgendwann hießen wir auch Tollwut …
Woher kam der Name?
Von einem Plakat, das bei Störtrupp im Übungsraum an der Wand hing, Vorsicht Tollwut! und so. Dann war abends eine Geburtstagsfeier und wir alle betrunken, und da fanden wir Tollwut als Bandnamen super.
Wie ging’s dann weiter?
Dann … o je, dann kam alles mögliche. Zuerst wollten die Straßenjungs, diese Blueskombo aus Frankfurt, einen Sampler machen mit Deutsch-Punk, dann … ach, das ist zuviel, das steht alles in dem Booklet zur CD.
Hattet ihr Kontakt zu anderen Bands aus der Szene?
Nicht soviel, weil wir ja mit Abstand die Jüngsten waren. Simon kannten wir natürlich, der beriet uns oft beim Plattenkaufen, die Marionetz kannten wir flüchtig, den Wix und den Sepp von ZSD und noch paar Leute ausm Damage. Da waren wir aber nicht so beliebt, nicht nur wegen unserem Alter. Bei so Dreharbeiten für einen Gerhard-Polt-Sketch ist der Thomas mal mit dem Ziggy von ZSD aneinandergeraten, und der war doch eine ziemlich zentrale Gestalt. Von den Bands kannten wir noch Störtrupp und The Schrott natürlich und ein paar weniger bekannte, aber die meisten haben wir erst 81 und später kennengelernt, FKK-Strandwixer, Armes Deutschland und so weiter, als wir mit vielen davon spielten und ausm Lipstick natürlich. Ja, und immer mal wieder schauten Leute bei uns im Übungsraum vorbei, das war ja immer so eine Art Konzert, wenn wir übten, zehn Leute waren da immer mindestens dabei, und vor dem Fenster von dem Kellerraum sprangen die Kinder vom Kindergarten in der Gegend rum und freuten sich, bis die Aufseherinnen mitkriegten, über was sie sich freuten.
Wann war der erste Tollwut-Auftritt?
Ein paarmal haben wir im Giesinger Jugendtreff gespielt, dann 1980 an unserer Schule. Da war ich zweiter Schülersprecher und hab uns selbst „gebucht“, ich wüßte da eine gute Band für Fasching und so, und der erste Schülersprecher hat uns dann nach einer halben Stunde den Stecker rausgezogen und war total entsetzt, als er einen Fußtritt ins Gesicht bekam. Er dachte wohl, eine Bühne ist so was ähnliches wie ein Klassenzimmer, wo sich jeder melden und was an die Tafel schreiben darf. Aber unser erster größerer Auftritt war Anfang ’81 bei einem Festival in Haidhausen. Wir waren gar nicht vorgesehen, also mußten wir Eintritt bezahlen und lange verhandeln. Die Marionetz haben uns dann ihre Anlage geliehen und wir durften eine Viertelstunde spielen, fünfzehn oder zwanzig Nummern. Lupo war nicht dabei, weil er seine Bierzeichen am Nockherberg versaufen mußte, aber zum Glück trafen wir vor dem Eingang den Schlagzeuger der Dagowops, dem haben wir schnell die Stücke erklärt, eins zwei drei vier los und fertig, und ich glaube, er hat sich ganz gut gehalten. Auf dem Klo sagte mir dann ein Irokese aus Berlin, wir seien die beste Band gewesen, und wurde ziemlich sauer, weil ich dachte, er will mich verarschen.
Plötzlich seid ihr dann ja ziemlich bekannt gewesen.
Aber viel weniger als viele Leute heute glauben. Wir waren halt in allen möglichen Fanzines erwähnt, dann kam der Münchensampler und diverse Auftritte, und dann rückte auch noch der Bayerische Rundfunk an und machte eine ganze Sendung über uns. Irgendwie waren wir zu blöd, aus dem ganzen Wirbel Nutzen zu ziehen, aber wir waren ja auch erst sechzehn oder siebzehn und hatten vom Musikgeschäft keine Ahnung, und außerdem hatte ich meiner damaligen Freundin versprochen, nie berühmt zu werden. Natürlich hatte ich vor, das Versprechen bei der ersten Gelegenheit zu brechen, aber wir hielten uns sowieso für die wichtigste Band der Welt und kamen gar nicht auf die Idee, daß man dafür vielleicht auch außer Musik noch was tun müßte. Und was wir trotzdem versuchten, ging meistens voll daneben. Ein Festival in Erlangen war großartig, mit Suicides, Schrott und noch paar Leuten. Am Schluß lief alles aus der Bahn, einer brach die Kühltruhe auf, und der ganze Saal spielte Fußball mit gefrorenen Brathendln, während die Suicides „Mich packt der Wahn“ grölten. Übernachtet haben wir zusammen mit Schrott bei irgendeinem Mädel aus dem Publikum, die Eltern machten vielleicht Augen, als ihr vierzehnjähriges Töchterlein da mitten in der Nacht mit zehn Punkrockern anrückte, aber die Mutter hat uns am Ende sogar noch Käsebrote ins Matratzenlager gebracht, wo irgendwer gerade über die Kleine herfiel. Aber die meisten Auftritte wurden wegen irgendwas abgesagt, einmal im Milb zum Beispiel, weil am Tag zuvor die Rocker alles zerlegt hatten, und als wir da hinkamen, saßen die immer noch rum und glotzten bedrohlich. In Weissenohe wurde der Veranstalter sauer, weil ihm angeblich jemand auf den Billardtisch geschissen hatte, da zerlegten diesmal die Bands alles und hauten dann ab, während The Schrott uns hinterherriefen „Bleibt’s da, wir ham Mollies, wir fackeln des alles ab!“ Eine Woche vorher hatten da Siouxsie & The Banshees gespielt, und danach dann nie mehr jemand. Wir haben dann in einem besetzten Haus in Erlangen gespielt, mit einer Stehlampe als Beleuchtung und einem Skinhead als Mikroständer, der dauernd zu hüpfen anfing und mir das Mikro in die Zähne haute. Dann wollten die Hippies, die da wohnten, alle rauswerfen, die Lampe fiel um, alles war finster und wir rannten mit einem Hut durch die Zimmer, um Benzingeld zu sammeln. Und dann ging noch das Auto kaputt.
Die Split-LP mit Beerdigung entstand ja auch unter ziemlich chaotischen Bedingungen …
Ja, erstens war das Studio in Stuttgart der letzte Mist. Das war eine Abstellkammer mit einem Mischpult und ein kleiner Raum im Keller. Thomas und ich saßen oben, Lupo unten, die Kopfhörer waren kaputt, es gab keine Verstärker, und außerdem hatte Lupo, der als einziger schon achtzehn war und einen Führerschein hatte, beim Hinfahren einen Kasten Bier ausgetrunken und war so blau, daß er ständig vom Schlagzeughocker kippte. Zum Glück war Oli dabei und hat ihn festgehalten.
Warum hat Oli da nicht gleich Schlagzeug gespielt?
Keine Ahnung. Wahrscheinlich konnte er noch gar nicht spielen, er hatte es ja noch nie probiert. Auf die Idee, daß er statt Lupo spielen könnte, sind wir jedenfalls erst ein paar Wochen später gekommen.
Auf der „Alarm!“-EP war er das erste Mal zu hören. Mit der wart ihr ja nicht sehr zufrieden …
Das war das endgültige Fiasko! Christian, der immer um uns rumschwänzelte und sich „Techniker“ nannte, wollte die Platte produzieren, also liehen wir uns ein Mischpult aus, das er bedienen sollte. Alles lief direkt in ein Zweispurtonband, Overdubs waren unmöglich. Die Gitarre wollte er unbedingt ohne Verstärker direkt ins Pult aufnehmen, weil wir nur zwei Mikros hatten, darum klingt sie wie eine Ukulele. In meinem Kopfhörer wurde bei „Nie wieder“ die Stimme immer lauter, der Baß immer leiser, und erst danach fanden wir heraus, daß der Depp den falschen Regler aufgedreht hatte, um den Baß lauter zu machen. Da war es aber schon spät, wir mußten das Mischpult zurückbringen, und ich verstehe bis heute nicht, wieso wir diese Aufnahmen veröffentlicht haben, statt am nächsten Tag alles ohne Mischpult einfach noch mal aufzunehmen. Es sollte wohl schnell gehen, aber so blöd kann man eigentlich gar nicht sein.
„Alarm!“ wurde trotzdem eine Kultplatte.
Ja, weil sie damals kaum jemand kaufte.
Danach war es dann mit Tollwut fast schon vorbei.
Fast, ja, denn zu allem Überfluß trödelte das Preßwerk monatelang rum, und als „Alarm!“ dann endlich erschien, hatten wir schon die „Tick, Trick und Track räumen auf“-Kassette veröffentlicht und wollten von „Alarm!“ gar nichts mehr wissen. Und dann kam noch Ampermoching …
… nicht zum ersten Mal …
… und auch nicht das letzte Mal, aber dieser Auftritt war die pure Hölle. Ich weiß nicht mehr, wer alles spielte, Condom, Lustfinger und noch paar Bands. Jedenfalls kamen dann diese Rocker zum Billardspielen, und irgendwer warf aus Versehen ein Motorrad um, wofür er dann von denen weichgeklopft wurde. Die hatten aber keine Ahnung, daß das arme Opfer oben noch ein paar hundert Freunde hatte. Wir waren gerade auf der Bühne und hatten „Gewalt“ gespielt, als sich jemand das Mikro griff und brüllte: „Hey, die ham den Dingsbums zammgschlagn! Lassen mir uns des gfoin?“ Der ganze Saal hat wie aus einer Kehle „NEEEEEIIIIN!“ gebrüllt und ist die enge Treppe runtergestürmt, und dann ging es rund. Plötzlich kamen alle wieder rauf und die Rocker hinterher, und da dachten wir, wir bringen vielleicht mal lieber unsere Gitarren in Sicherheit. Zu allem Überfluß hat mir wieder mal jemand aus Versehen Gas ins Gesicht geschossen, und dann standen mitten in dem Gewühl noch zwei kleine Mädels von unserer Schule und fragten „Hey Michi, wann spielt ihr denn?“ Wir haben uns Gitarren, Trommeln, Verstärker und Mädels unter den Arm geklemmt und sind über die Stahltreppe an der Hauswand raus und nichts wie weg. Danach haben wir uns dann überlegt, ob es wirklich soviel Spaß macht, weiterhin „Gewalt“ zu spielen, wenn uns dann jedesmal der Saal um die Ohren fliegt und die Leute sich gegenseitig den Schädel einschlagen, statt eine Revolution zu machen oder sich zu amüsieren oder was auch immer. Das Nachdenken dauerte aber noch einige Zeit, der letzte Tollwut-Auftritt war erst im November 82 in Passau. Da spielte eine Band namens Stumpfspux im Vorprogramm, und als wir das sahen, war uns endgültig klar, daß wir ganz dringend was neues und anderes machen mußten, um nicht völlig zu verblöden.
Die Band gab’s aber noch länger.
Ja, wir hießen dann Comics, später The Comics. 1984 warfen wir unseren zweiten Gitarristen raus und waren wieder die Tollwut-Originalbesetzung, dann kamen verschiedene Leute dazu, die meistens nicht lange blieben. Im Sommer 87 ist Thomas ausgestiegen, zwei Tage vor unserem Theatron-Gig, weil ihm der ganze Drogen-Wirrwarr auf die Nerven ging. Das war ein bißchen übereilt, er hat’s auch gleich bereut, aber dann wollten wir ihn nicht mehr, das war im nachhinein gesehen auch ein großer Fehler. Und nach dem Theatron-Auftritt 1990 ist Oli auch ausgestiegen. Das war aber schon länger klar, weil er wegen Job und so keine Zeit mehr hatte.
Habt ihr nach 1982 noch irgendwann Tollwut-Songs gespielt?
Nie mehr. Keinen einzigen, abgesehen natürlich von den Songs ab Sommer 82, das waren ja eigentlich schon lang keine Tollwut-Songs mehr. Das erste Mal danach war 95 oder 96, als ich mit Oli und Andi Karg im Übungsraum rumsaß und wir nur so zum Spaß „Keine Chance“ spielten und es dabei umarrangierten. Daraus entstand dann „Urban Happiness Revisited“, das auf der ersten Dead-City-Radio-EP zu hören ist. Mit Dead City Radio machte ich später aus „Bullen“ „Below Your City Below“ und aus „Keine Hoffnung“ ein Stück, das noch keinen Namen hat („Dead Silent“). Und 97 mußten wir dann sowieso ein paar alte Sachen wieder einüben für die Tollwut-Reunion beim Simon-Festival. Einüben ist aber zuviel gesagt, wir kannten das Zeug immer noch auswendig, keine Ahnung wieso.
Bei dem Festival habt ihr auch einige unbekannte Songs gespielt.
Ja, das war unsere Bedingung. Wir dachten, es ist mit den Grundsätzen einer Punkband unvereinbar, zwanzig Jahre alte Songs zu spielen, also haben wir schnell ein paar neue geschrieben, „Drei gegen alle“, „Hier sein“, „Ich bin inzwischen 33“, „Vielleicht ist es wichtig“ und eine Marionetz-Persiflage namens „Sigi Witz“, die wir dann aber lieber doch nicht gespielt haben, weil der Text auch so blöd war: „Sigi Witz trägt ein Stück Plastik, Sigi Witz hat es heut gekauft …“ und so weiter. Ich hoffe, Sigi mag mich jetzt noch, ha ha. Also jedenfalls, ursprünglich wollten wir nur neue Sachen spielen, aber dann dachten wir, Grundsätze sind eigentlich scheiße, dann haben wir erst mal die alten Sachen völlig umarrangiert, dann dachten wir, Arrangements sind eigentlich auch nur eine Ausrede, also hauen wir das Zeug so runter wie es gehört und aus. Leider haben wir vergessen, daß die meisten Leute logischerweise die „Tick, Trick und Track räumen auf“-Kassette nicht kannten, weil es davon nur zweihundert Stück gab, für die waren also dann außer „Amok“, „Nebel“ und „Keine Hoffnung“ fast alle Songs neu. Ist aber irgendwie auch absurd, daß da lauter Punkrocker stehen und enttäuscht sind, weil eine Band keine „Evergreens“ spielt, sondern neue Songs! Und wie üblich ging auch als erstes das Schlagzeug kaputt, als Oli es nur kurz angeschaut hat, und als wir danach draußen waren, fragte uns auch noch einer, wann wir das nächste Mal spielen, und als wir sagten „Selbstverständlich nie mehr!“ und Oli noch hinzufügte, was das überhaupt für ein Punk sein woll, wo die Bands alle über dreißig sind, da waren wir bei den Leuten wohl endgültig unten durch.
Trotzdem habt ihr danach noch mal zusammengespielt: auf „Komm wir fahrn zum Baden“ für den Marionetz-Tribute-Sampler.
Hm, ja, das war vielleicht schon ein Fehler, weil wir uns gleich danach total zerstritten haben. Aber das war wohl nötig, um sich darüber klarzuwerden, daß wir endgültig nicht mehr Tollwut sind und dieses Nostalgiegetue niemandem irgendwas bringt. Wenn man die Gegenwart mit recycelten Träumen verpestet, verpestet man nicht nur die Gegenwart, sondern ruiniert auch noch die Vergangenheit. Obwohl, ich weiß ganz genau, was passiert, wenn ich mit Oli in einem Übungsraum sitze: Irgendwann kommt dabei immer ein Tollwut- oder Comics-Song raus, und dann lachen wir uns gegenseitig aus und spielen noch drei davon. Aber das wird außer uns niemand mehr zu hören bekommen.
Fühlst du dich immer noch als Punk?
Puh! Nächste Frage. Nein, natürlich.
Was war Punk für dich?
Darüber hab ich in letzter Zeit, oder in den letzten zwanzig Jahren, soviel nachgedacht, daß die Antwort immer schwerer geworden ist. Was mich, oder uns, an Punk beeinflußt hat, waren zwei grundverschiedene Sachen, das macht es noch schwieriger. Auf der einen Seite war natürlich der Aspekt, den Rock ’n’ Roll von dem industriellen und verquasten Blödsinn zu befreien, der 1976 damit verbunden war, ihn so einfach, klar und direkt zu machen, wie er eigentlich war, vor allem wieder zu unserer Musik und nicht zu irgendwas, womit uns die herrschenden Schweine füttern, damit wir brav weiterfunktionieren. Das war, sagen wir mal, der Clash-Aspekt, mit den ganzen Mythen und Bildern, die daraus entstanden sind und die nicht immer wirklich gut waren, letztlich liegt hier ja auch der Schlüssel zu unserem größten Fehler, nämlich uns in den späten achtziger Jahren zu sehr auf dieses Rolling-Stones-Theater einzulassen, die Whiskey-und-Landstraße-Mythen. Eigentlich war Punk aber zumindest zu Beginn was ganz anderes, keine Rebellion, sondern ein Geheimnis. Das war es, was mich am meisten daran fasziniert hat: was für eine Wirkung die kleinen Signale hatten, die man mit Punk aussenden konnte. Das hatte nichts mit Saufen, Spaß und Party zu tun, sondern mit einer neuen Sicht der Dinge, die tatsächlich für den einzelnen die Welt verändert hat. Punk kam nicht aus den Kneipen und Pubs, sondern aus verschlossenen Zimmern, nicht aus Verbrüderung und Pulk, sondern aus der Einsamkeit. Deshalb war für mich, oder für uns, zumindest am Anfang auch Ultravox! viel wichtiger als zum Beispiel Sham 69. Du konntest der Welt Rätsel aufgeben, ihr Angst machen und sie total verunsichern, mit winzigen Slogans und Botschaften oder bloß indem du plötzlich da warst. Das war der subversive Aspekt, das Geheimnis, die unsichtbare Bedrohung, das kam von den Situationisten, und das hat mich am meisten fasziniert.
Eine Antwort auf „Noch so ein Interview, diesmal von 2000, und es geht um die Musikgruppe Tollwut“