Belästigungen 22/2017: Natur, Kultur und Kürbisbrust (und noch ein paar so Sachen)

Neulich radelte ich an einem Reklameplakat für den Münchner Tierpark vorbei. Darauf zu sehen: eine Giraffe, hübsch sympathisch dreinblickend, und der Spruch „Papa, schau mal … ein Zebra!“

Da wurde mir die Krise erst bewußt. Eine kurze Recherche ergab, daß die heutige Jugend von der Natur so gut wie gar nichts mehr versteht. Die gestrige übrigens auch nicht unbedingt, mit galoppierend fortschreitender Tendenz: Nur ein Drittel der Sechst- bis Neuntkläßler weiß, wo die Sonne aufgeht, nur ein Viertel, daß sie Ende Juni am längsten scheint (die übrigen kriegen sie vermutlich sowieso nie zu sehen). Im Wald (den sie wohl nur aus Reklameplakaten im Supermarkt kennen), glauben die Kleinen, wachsen neben Äpfeln und Birnen vor allem Ananas, Mango und Banane. Den Größeren wiederum waren schon vor fünfzehn Jahren Pokemon-Monster vertrauter als irgendein Viech, das in ihrer Umgebung (sagen wir: hundert Meter) kreucht und fleucht.

Man nennt das (und vieles weitere) heute „Nature Deficit Disorder“ und macht sich Sorgen (oder nicht „man“, sondern ein paar schrullige Typen, die die Welt außerhalb der Bildschirme für interessanter und wichtiger halten als Börsenkurse, Wettbewerbsdrillspielchen und lebenslanges Training in Ausbeutbarkeit). Freilich: ein Kind, das sechzehntausend Apps kennt, aber nicht den Unterschied zwischen Zebra und Giraffe, ist ein armes Kind. Dem muß man helfen!

Die Erkenntnis ist nicht neu. Schon zu Zeiten meiner frühen Kindheit mühte sich die Erwachsenheit, besorgt über und aufgerüttelt durch unser fast monomanisches Interesse an italienischen Rennautos, Fußballspielern und (etwas später) utopischen Rißzeichnungen von Perry-Rhodan-Raumschiffen, uns beizubringen, wie eine Giraffe aussieht, ein Zebra, ein Löwe, ein Wolf und ein Elefant. Dazu schleppte man die Brut gerne in den Tierpark, wohin man nicht mal Donald-Duck-Hefte mitnehmen durfte (auch nicht mit dem Argument, da gehe es schließlich um Enten und Gänse).

Hingegen schwieg man schulischerseits (außer im Singunterricht) weitgehend von Amsel, Drossel, Fink und Star, gar Zaunkönig, Girlitz, Stieglitz usf. Pah, schien der Lehrplan zu sagen, bis ihr groß seid, ist das Kroppzeug sowieso ausgestorben! Außerdem kennen wir es selber nicht, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, neue Fahrwege für Rennautos zu bauen und Rißzeichnungen für Raumschiffe zu erstellen! Lernt gefälligst, daß Wasser eine Oberflächenspannung hat und bei hundert Grad zu Dampf wird, daß ein Motor durch Benzinexplosionen in Gang gehalten wird und das blaue Blechschild mit dem weißen Auto bedeutet, daß man hier nicht radeln darf! Was ihr über die Natur wissen müßt, erfahrt ihr per Käfig in Hellabrunn und sonntagvormittags von Dr. Grzimek.

Zusätzlich gedämpft wurde mein Interesse an der Natur, als ein sehr bärtiger Bekannter, ein Pionier der damals langsam sich wöllenden Grünen Partei (die übrigens rein gar nichts mit der heutigen Partei der Grünen zu tun hat; die hieß damals noch FDP, während es die heutige FDP damals gar nicht gab, weil noch niemand auf die Idee gekommen war, in der radikalen Marktdiktatur ein erstrebenswertes politisches Ziel zu sehen), – jedenfalls erklärte mir der Proto-Oköpax, eine Natur gebe es auf der Welt oder zumindest in Europa generell nicht mehr, das sei alles durch und durch Kultur.

Da fragte ich mich, was das nun sei, und erfuhr, daß man zu Zeiten der Nazis die urwüchsige deutsche Kultur (den kraftstrotzenden, Pflugschar und Streitaxt schulternden germanischen Stahlschädel und seine kürbisbrüstige Pomeranze mit dem gebärfreudigen Brauereiroßarsch) der verhaßten Zivilisation entgegengestellt hatte (hauptverdächtig: die verjudete Feingeisterei der dünnblütigen Intellektuellen). Andererseits sollte ausgerechnet der Goebbels gesagt (oder vielmehr: seinen literarischen Vor- und Mitdenker Hanns – gesprochen Hannnnnnß – Johst zitiert) haben, wenn er das Wort „Kultur“ höre, entsichere er seinen Revolver. (Erneut zitiert fand ich das Zitat dann bei Boris Vian, ironisch, aber egal.) Jedenfalls: von Natur keine Rede! So wurde mir schon als Bams zumindest halbklar, daß folglich auch der Tierpark alles andere als Natur zeigte, sondern vielmehr: Kultur.

Wie passend, daß ich das eingangs zitierte Tierparkplakat auf einem bunkerartigen Kleingebäude entdeckte, das von (vermutlich nicht der wirklich erwachsenen Generation zugehörigen) Graffitikünstlern bunt gestaltet war. Da stand um das Giraffenbild herum zwischen zielführendem Pfeilgewölk in modisch verschnörkelter Schrift, wie man die kulturisierte Natur richtig nach Begriffen sortiert: „Reich – Division – Klasse – Ordnung – Familie – Genius (sic) – Spezie (sic!)“.

Da scheinen sie auf, die Werte der deutschen Kultur: Reich! Ordnung! Familie! (Die „Klasse“ verweist vermutlich ideell nicht auf selbigen Kampf, sondern auf die Schule.) Nebenbei und ungehört zwitschert der notorische Störenfried dazwischen, in den letzten dreißig Jahren seien in selbigem Deutschland drei Viertel aller Insekten (gemessen als wirtschaftskonforme „Gesamtmasse“) ausgestorben und die meisten Vogelarten zumindest so selten geworden, daß eine normale städtisch-humanoide Arbeitsameise sie im Lauf ihres Lebens mit Sicherheit nicht ein einziges Mal in echt zu Gesicht bekommt. Was kümmert uns das? Immerhin wissen wir, daß eine Giraffe kein Zebra ist!

Auch mir, ich gestehe es, geht gelegentlich das Messer in der Hosentasche auf angesichts dessen, was sich in Deutschland „Kultur“ schimpft, was herausstinkt aus Fernsehgullis, Bierzelten und Knallheften an Dumpfgestampfe, Blödgeschwall, grellem Mist und biederem Odel, was an Reklamekunst und Kunstreklame zwischen die Autobahnen hineintrompetet wird, was häppchenschmatzende Krawattenheinis auf „Messen“ als „Literatur“ feiern, als wäre der primitive, in Schnellkursen an „Instituten“ zusammengeklopfte Schmonz mehr als schwarz betupftes Altpapier.

Andererseits frage ich mich aber, wozu der heutige Nachwuchs, der in einer Umgebung nachwächst, wo selbst im grünsten Grünstreifen nur noch fünf EU-genormte Pflanzenarten vegetieren und zehn Sorten Tierchen zwischen Industrieschornstein und Autobahnterror ihre traurigen Kreise drehen, – wozu der heutige Nachwuchs in einer solchen Welt wissen soll, wie man all das Zeug, das es früher mal gab, früher mal nannte? Wenn er das Glück hat, in einen Tierpark geführt zu werden, darf er immerhin ahnen, daß es schön war und daß selbst der traurige Rest, der davon noch übrig ist, schön ist, ganz egal, wie er heißt.

Und dann aber husch! zurück ins wirkliche Leben: vor den Bildschirm.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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